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Verzeihung«, meint ein junger Mann, der einen violetten OP-Anzug, einen Gesichtsschild mit Maske, eine Kopfbedeckung, Schuhe und zwei Paar Latexhandschuhe übereinander trägt. Als er sich Scarpetta nähert, sieht er aus wie die Karikatur eines Astronauten. »Was sollen wir denn mit ihrem Gebiss machen?«

Scarpetta will ihm schon erklären, dass sie nicht hier arbeitet, doch ihr fehlen die Worte, und sie starrt stattdessen auf die dicke tote Frau, die gerade von zwei Leuten – ebenfalls vermummt, als hätten sie Angst, sich die Pest zu holen – in einen Leichensack gesteckt wird. Sie liegt auf einer Bahre, die stabil genug ist, um ihr gewaltiges Gewicht zu tragen.

»Sie hat ein Gebiss«, wendet sich der junge Mann im violetten OP-Anzug nun an Fielding. »Wir haben es in eine Schachtel gelegt und vergessen, es in den Beutel zu tun, bevor wir sie wieder zugenäht haben.«

»Es gehört auch nicht in den Beutel.« Scarpetta beschließt, sich dieses sonderbaren Problems anzunehmen. »Sondern in ihren Mund. Dem Beerdigungsinstitut und der Familie wird es lieber sein, wenn sie es im Mund hat. Und sie fände es vermutlich auch besser, wenn sie mit ihren Zähnen beerdigt würde.«

»Also müssen wir sie nicht wieder aufschneiden und den Beutel rausholen«, erwidert der Soldat in Violett. »Da bin ich aber erleichtert.«

»Vergessen Sie den Beutel«, sagt Scarpetta zu ihm. »Gebisse gehören grundsätzlich nicht dort hinein.« Sie meint den stabilen durchsichtigen Plastikbeutel, der sich nun in der leeren Brusthöhle der dicken Frau befindet. Der Beutel enthält ihre obduzierten Organe, die nicht an die anatomisch korrekte Stelle zurückgelegt wurden, da es nicht die Aufgabe eines forensischen Pathologen ist, Menschen wieder zusammenzusetzen. Dies wäre auch gar nicht möglich und in etwa damit vergleichbar, als wolle man aus einem Gulasch eine Kuh rekonstruieren. »Wo ist das Gebiss?«, fragt Scarpetta.

»Gleich da drüben.« Der junge Mann im violetten OP-Anzug zeigt auf eine Arbeitsfläche auf der anderen Seite des Autopsiesaals. »Bei ihren Papieren.«

Fielding, der mit diesem albernen Problem nichts zu tun haben will, ignoriert den Mann einfach. Er sieht zu jung für einen Medizinstudenten im Praktikum aus und gehört vermutlich auch zu den Soldaten aus Fort Lee. Wahrscheinlich hat er nicht mehr als einen Highschool-Abschluss vorzuweisen und tut jetzt Dienst in der Gerichtsmedizin, weil die militärischen Vorschriften verlangen, dass er lernt, mit Gefallenen umzugehen. Am liebsten würde Scarpetta ihm sagen, dass selbst von Granaten in die Luft gesprengte Soldaten es gern hätten, wenn man ihr Gebiss mit ihnen nach Hause schickt, und zwar vorzugsweise im Mund, falls sie noch einen haben. Aber sie verkneift es sich.

»Kommen Sie«, fordert sie den Soldaten stattdessen auf. »Schauen wir uns die Sache mal an.«

Sie begleitet ihn über den Fliesenboden und geht an einer anderen Bahre vorbei, die gerade hereingerollt wurde. Darauf liegt das Opfer einer Schießerei, ein junger Schwarzer mit kräftigen Armen, die mit Tätowierungen bedeckt und nun starr vor seiner Brust verschränkt sind. Er hat eine Gänsehaut, eine postmortale Reaktion der Muskeln, die die Haarwurzeln aufrichten, auf die Totenstarre, die ihn aussehen lässt, als fröre er, habe Angst oder beides. Der Soldat aus Fort Lee nimmt eine Plastikschachtel von der Arbeitsfläche und will sie Scarpetta schon reichen, als er bemerkt, dass sie keine Handschuhe trägt.

»Wahrscheinlich ziehe ich besser noch mal welche an«, sagt sie. Sie verzichtet lieber auf die grünen Nitril-Handschuhe und entscheidet sich für altmodische aus Latex, die sie aus dem Karton auf einem neben ihr stehenden Instrumentenwagen nimmt. Nachdem sie hineingeschlüpft ist, holt sie das Gebiss aus der Schachtel.

Dann kehren sie und der Soldat über den Fliesenboden zu der zahnlosen Toten zurück.

»Falls Ihnen dieses Problem nochmal unterkommen sollte«, sagt Scarpetta zu dem jungen Soldaten, »legen Sie das Gebiss einfach zu ihren persönlichen Sachen und überlassen Sie den Rest dem Beerdigungsinstitut. Aber stecken Sie es niemals in den Beutel. Die Dame ist allerdings ziemlich jung für ein Gebiss.«

»Ich glaube, sie war auf Drogen.«

»Woraus schließen Sie das?«

»Jemand hat es gesagt.«

»Ich verstehe«, antwortet Scarpetta und beugt sich über die gewaltige zugenähte Leiche auf der Bahre. »Gefäßverengende Drogen wie zum Beispiel Kokain lassen die Zähne ausfallen.«

»Ich habe mich schon immer gefragt, warum Drogen diese Wirkung haben«, bemerkt der Soldat in Violett. »Sind Sie neu hier?« Er sieht sie an.

»Nein, ganz im Gegenteil«, entgegnet Scarpetta und steckt der Toten die Finger in den Mund. »Ich gehöre quasi schon zum alten Eisen. Ich bin nur auf Besuch.«

Er nickt verwirrt. »Tja, aber Sie scheinen zu wissen, was Sie tun«, meint er verlegen. »Entschuldigung, dass ich das Gebiss nicht wieder eingesetzt habe. Ich komme mir wirklich bescheuert vor. Hoffentlich verrät es niemand dem Chef.« Er schüttelt den Kopf und seufzt laut auf. »Das hätte mir gerade noch gefehlt. Er kann mich sowieso nicht ausstehen.«

Da die Totenstarre schon abgeklungen ist, sperren sich die Kiefermuskeln der Toten nicht gegen Scarpettas bohrende Finger. Allerdings nehmen die Kiefer das Gebiss nicht auf, und zwar aus dem einfachen Grund, weil es nicht passt.

»Das ist nicht ihres«, stellt Scarpetta fest, legt das Gebiss wieder in die Schachtel und gibt sie dem Soldaten in Violett zurück. »Es ist zu groß, viel zu groß. Vielleicht von einem Mann? Hatten Sie vorhin noch jemanden mit einem Gebiss hier? Es könnte ja eine Verwechslung sein.«

Der Soldat ist verdattert, allerdings auch erleichtert zu hören, dass ihn keine Schuld trifft. »Keine Ahnung«, erwidert er. »Es waren natürlich eine ganze Menge Leute hier. Also ist es nicht ihres? Ein Glück, dass ich nicht versucht habe, es ihr in den Mund zu zwängen.«

Fielding hat bemerkt, dass etwas geschehen ist. Plötzlich steht er neben ihnen und starrt auf die hellrosafarbenen künstlichen Gaumen und die weißen Porzellanzähne in der Schachtel, die der junge Soldat in der Hand hält. »Was zum Teufel ist hier los?«, poltert Fielding. »Wer ist für dieses Durcheinander verantwortlich? Haben Sie die falsche Fallnummer auf die Schachtel geschrieben?«

Er funkelt den Soldaten, der nicht älter als zwanzig sein kann, finster an. Kurzes hellblondes Haar lugt unter der blauen OP-Mütze des jungen Mannes hervor, und seine großen braunen Augen spähen ängstlich durch die zerkratzte Schutzbrille.

»Ich habe sie gar nicht beschriftet, Sir«, antwortet er Fielding, seinem Vorgesetzten. »Ich wusste nur, dass sie da war, als ich anfing, an der Leiche zu arbeiten. Und sie hatte keine Zähne im Mund. Nicht, als wir mit ihr angefangen haben.«

»Da? Was meinen Sie mit da

»Auf ihrem Wagen.« Der Soldat deutet auf den Wagen, auf dem die chirurgischen Instrumente für Tisch vier liegen, der auch der grüne Tisch heißt. In Dr. Marcus’ Leichenschauhaus wird weiterhin Scarpettas System angewendet: Die Instrumente werden mit farbigem Klebeband markiert, damit zum Beispiel eine Zange oder eine Knochensäge nicht irgendwo sonst im Autopsiesaal landen. »Diese Schachtel stand auf ihrem Wagen. Dann hat sie irgendjemand rüber auf die Arbeitsfläche zu ihren Papieren gestellt.« Er blickt durch den Raum zu der Arbeitsfläche, wo immer noch, ordentlich ausgebreitet, die Papiere der Toten liegen.

»An diesem Tisch hat vorhin eine Leichenschau stattgefunden«, sagt Fielding.

»Richtig, Sir. Ein alter Mann, der im Bett gestorben ist. Ob die Zähne vielleicht seine sind?«, schlägt der Soldat vor. »War das auf dem Wagen sein Gebiss?«

Fielding erinnert an einen wütenden Eichelhäher, als er durch den Autopsiesaal rauscht und die gewaltige Edelstahltür des Kühlhauses aufreißt. Er verschwindet in einer Wolke aus kalter, abgestandener Luft. Im nächsten Moment kommt er wieder heraus, und zwar mit einem Gebiss, das er dem alten Mann offenbar aus dem Mund genommen hat. Fielding balanciert es auf der Fläche seiner behandschuhten Hand, die mit dem Blut des Traktorfahrers, der sich selbst überrollt hat, bespritzt ist.

»Dass das Gebiss viel zu klein für diesen Typen ist, sieht doch ein Blinder«, schimpft Fielding. »Wer hat es ihm in den Mund gesteckt, ohne sich zu vergewissern, ob es auch passt?«, fragt er in den von Geräuschen hallenden, überfüllten, mit Dichtmasse isolierten Raum hinein, in dem vier blutige, nasse Stahltische, Röntgenaufnahmen von Projektilen und Knochen auf eingeschalteten Leuchttischen, Waschbecken und Schränke aus Stahl sowie lange Arbeitsflächen voll mit Papieren, persönlicher Habe und Streifen von Computer-Klebeetiketten für Schachteln und Teströhrchen wild durcheinander liegen und stehen.

Die anderen Ärzte, die Studenten, die Soldaten und die Toten des Tages haben Dr. Jack Fielding, dem zweiten Mann nach dem Chef, nichts zu sagen. Scarpetta ist schockiert, angewidert und traut ihren Augen nicht. Ihre früher so beispielhafte Behörde ist offenbar völlig aus den Fugen geraten. Die Mitarbeiter haben sich nicht mehr im Griff. Sie wirft einen Blick auf den toten Traktorfahrer, der halb entkleidet und auf einem mit Blut befleckten Laken auf der Bahre liegt. Dann betrachtet sie das Gebiss in Fieldings beschmierter behandschuhter Hand.

»Reinigen Sie das Ding, bevor Sie es ihr in den Mund stecken«, kann sie sich nicht verkneifen zu bemerken, als Fielding dem Soldaten das verwechselte Gebiss reicht. »Sie wollen schließlich nicht, dass die DNS einer anderen Person in ihren Mund gerät«, wendet sie sich an den Soldaten. »Auch wenn es sich nicht um einen Todesfall unter verdächtigen Umständen handelt. Also reinigen Sie ihr Gebiss, sein Gebiss und alle anderen Gebisse.«

Sie reißt sich die Handschuhe von den Händen und wirft sie in den leuchtend orangefarbenen Behälter für biologisch kontaminierte Abfälle. Während sie davongeht, fragt sie sich, wo Marino steckt, und sie hört, wie der Soldat in Violett etwas sagt. Offenbar interessiert ihn, wer genau Scarpetta ist, was sie hier will und was das gerade sollte.

»Sie war früher hier der Chef«, erklärt Fielding, fügt allerdings nicht hinzu, dass damals in der Gerichtsmedizin ein anderer Wind wehte.

»Ach, du Scheiße!«, ruft der Soldat aus.

Als Scarpetta mit dem Ellenbogen auf einen großen Knopf an der Wand drückt, schwingen die Flügel einer Edelstahltür weit auf. Sie durchquert den Umkleideraum, vorbei an Schränken voller OP-Anzüge und Kittel, und dann den Damenwaschraum mit seinen Toiletten, Waschbecken und den Neonlichtern, die den Spiegel zum Feind machen. Als sie stehen bleibt, um sich die Hände zu waschen, bemerkt sie das ordentlich geschriebene Schild, das sie selbst dort aufgehängt hat und das die Mitarbeiter daran erinnert, das Leichenschauhaus nicht in denselben Schuhen zu verlassen, die sie drinnen getragen haben. Verteilen Sie keine gefährlichen Keime auf den Teppichen im Flur, hat sie ihren Untergebenen immer wieder gepredigt, aber sie ist sicher, dass sich inzwischen niemand mehr an diese Anweisung hält. Sie zieht die Schuhe aus, reinigt die Sohlen mit antibakterieller Seife und heißem Wasser und trocknet sie mit Papiertüchern ab, bevor sie durch eine andere Schwingtür auf den nicht sehr sterilen, mit einem blauen Teppich ausgelegten Korridor tritt.

Gleich gegenüber vom Damenwaschraum befinden sich die verglasten Büroräume des Chefpathologen. Zumindest hat Dr. Marcus sich die Mühe gemacht, etwas an der Inneneinrichtung zu verändern. Das Büro seiner Sekretärin ist mit hübschen auf Kirsche gebeizten Möbeln und Kunstdrucken im Kolonialstil ausgestattet. Ihr Bildschirmschoner zeigt tropische Fische, die unermüdlich über eine leuchtend blaue Fläche schwimmen. Die Sekretärin selbst ist nicht da, und Scarpetta klopft an die Tür des Chefs.

»Ja«, ertönt seine Stimme gedämpft von der anderen Seite.

Sie öffnet die Tür und betritt ihr ehemaliges Büro. Obwohl sie sich absichtlich nicht umsieht, nimmt sie wahr, wie ordentlich und aufgeräumt die Bücherregale und Dr. Marcus’ Schreibtisch sind. Sein Arbeitsplatz wirkt steril. Nur in der restlichen Gerichtsmedizin herrscht Chaos.

»Sie kommen wie gerufen«, sagt Dr. Marcus, der auf einem Drehstuhl aus Leder hinter seinem Schreibtisch sitzt. »Bitte nehmen Sie Platz. Ich möchte Ihnen etwas über Gilly Paulsson erzählen, bevor Sie sich die Leiche ansehen.«

»Dr. Marcus, ich weiß, dass ich hier nicht mehr zuständig bin«, beginnt Scarpetta. »Und ich möchte mich auch nicht aufdrängen, aber ich mache mir Sorgen.«

»Das brauchen Sie nicht.« Er betrachtet sie mit schmalen, eiskalten Augen. »Schließlich habe ich Sie nicht als Unternehmensberaterin hergeholt.« Er verschränkt die Hände auf der Schreibtischunterlage. »Ihre Meinung ist hier nur in einem einzigen Fall gefragt, und zwar in dem von Gilly Paulsson. Also würde ich Ihnen dringend empfehlen, sich nicht an den Veränderungen aufzureiben, die Sie hier antreffen werden. Sie waren lange fort. Fünf Jahre, richtig? Während des Großteils dieser Zeit gab es hier nur einen kommissarischen Chefpathologen. Genau genommen fungierte Dr. Fielding als Leiter, als ich vor ein paar Monaten hier anfing. Also ist natürlich vieles anders. Wir beide haben einen völlig unterschiedlichen Führungsstil, was einer der Gründe ist, warum der Staat mich eingestellt hat.«

»Meiner Erfahrung nach gibt es Probleme, wenn der Chef sich nie im Leichenschauhaus blicken lässt«, sagt Scarpetta, und es ist ihr völlig gleichgültig, ob er es hören will. »Zumindest vermittelt es den Ärzten den Eindruck, dass sich niemand für ihre Arbeit interessiert. Auch Ärzte können nachlässig und faul werden, und viele sind irgendwann ausgebrannt, wenn sie tagein, tagaus solchem Grauen ausgesetzt sind.«

Seine Augen sind so glanzlos und starr wie angelaufenes Kupfer, und er hat die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Die Fensterscheiben hinter seinem Kopf mit dem schütteren Haar sind so sauber, dass sie nicht vorhanden zu sein scheinen. Scarpetta stellt fest, dass er das kugelsichere Glas ausgetauscht hat. In der Ferne ragt das Coliseum auf wie ein brauner Pilz, und ein trüber Nieselregen hat eingesetzt.

»Ich kann vor dem, was ich sehe, nicht die Augen verschließen, nicht wenn Sie wollen, dass ich Ihnen helfe«, fährt sie fort. »Es interessiert mich nicht, ob es hier nur einzig und allein um einen Fall geht, wie Sie es ausgedrückt haben. Es muss Ihnen doch klar sein, dass alles gegen uns verwendet wird, sowohl vor Gericht als auch anderswo. Und im Moment ist es das Anderswo, das mir Sorgen macht.«

»Ich fürchte, Sie sprechen in Rätseln«, erwidert Dr. Marcus und starrt sie an, während sich ein verärgerter Ausdruck auf seinem mageren Gesicht abzeichnet. »Anderswo? Was meinen Sie mit anderswo?«

»Einen Skandal. Eine Anzeige. Oder schlimmstenfalls einen Strafprozess, der wegen Formfehlern eingestellt wird. Wegen Beweisen, die aufgrund von nicht vorschriftsmäßigem Vorgehen oder fachlichem Versagen für nicht zulässig erklärt werden, sodass es keine Gerichtsverhandlung und kein Urteil gibt.«

»Ich habe so etwas gleich befürchtet«, sagt er. »Ich habe den Gesundheitsminister gewarnt, es wäre eine schlechte Idee.«

»Daraus kann ich Ihnen keinen Vorwurf machen. Niemand möchte, dass der ehemalige Chef an seinem Arbeitsplatz erscheint, um Ordnung …«

»Ich habe dem Gesundheitsminister zu bedenken gegeben, dass eine verbitterte ehemalige Mitarbeiterin, die hier hereinschneit und alles besser weiß, das Letzte ist, was wir derzeit gebrauchen können«, fährt er fort, greift nach einem Stift und legt ihn wieder weg. Seine Hände wirken nervös und zornig.

»Ich kann es Ihnen nicht verdenken, dass Sie so …«

»… Insbesondere, wenn diese Person fanatisch ist«, ergänzt er mit kalter Stimme. »Nichts ist schlimmer als ein Fanatiker. Abgesehen von einem Fanatiker, der sich ungerecht behandelt fühlt.«

»Das verbitte …«

»Aber jetzt sitzen wir eben hier. Machen wir das Beste daraus.«

»Ich würde mich freuen, wenn Sie mir nicht ständig ins Wort fielen«, sagt Scarpetta. »Und falls Sie darauf bestehen, mich als Fanatikerin zu bezeichnen, werde ich es als Kompliment deuten. Jetzt möchte ich mit Ihnen über Gebisse sprechen.«

Er starrt sie an, als hätte sie den Verstand verloren.

»Ich bin gerade Zeugin einer Verwechslung im Leichenschauhaus geworden«, erklärt sie. »Das falsche Gebiss beim falschen Verstorbenen. Nachlässigkeit. Zu viel Handlungsfreiraum für junge Soldaten aus Fort Lee, die keinerlei medizinische Ausbildung haben und eigentlich hier sind, um etwas von Ihnen zu lernen. Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn eine Familie ihren geliebten Angehörigen im Beerdigungsinstitut aufbahren lässt, der Sarg ist offen, und das Gebiss fehlt oder passt nicht. Das wäre der Anfang eines Zerfallsprozesses, der nur schwer aufzuhalten ist. Die Presse liebt solche Geschichten, Dr. Marcus. Und sollten Sie so ein Gebiss in einem Mordfall verwechseln, machen Sie dem Verteidiger damit ein hübsches Geschenk, auch wenn die Zähne mit dem Verbrechen an sich gar nichts zu tun haben.«

»Wessen Gebiss?«, fragt er stirnrunzelnd. »Fielding müsste eigentlich die Aufsicht führen.«

»Dr. Fielding ist überarbeitet«, entgegnet sie.

»Das ist es also. Ihr ehemaliger Assistent.« Dr. Marcus erhebt sich von seinem Stuhl. Er ragt nicht hoch über seinem Schreibtisch auf, aber das hat Scarpetta auch nicht getan, weil sie nicht sehr groß ist. Allerdings wirkt Dr. Marcus wie ein Zwerg, als er hinter seinem Schreibtisch hervorkommt und an dem Tisch vorbeieilt, auf dem ein Mikroskop unter einer Plastikhaube steht. »Am besten fangen Sie jetzt mit Gilly Paulsson an. Sie liegt im Kühlraum für verweste Leichen. Sie sollten auch in diesem Raum arbeiten. Dort stört Sie niemand. Vermutlich haben Sie entschieden, eine zweite Autopsie vorzunehmen.«

»Aber nicht ohne einen Zeugen«, entgegnet Scarpetta.

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