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»Wo bist du?«, fragt Marino, nachdem er im Display seines vibrierenden Mobiltelefons Lucys Nummer erkannt hat. »Wo steckst du gerade?« Das will er immer von ihr wissen, auch wenn es nicht von Belang ist.

Marino hat sein ganzes Erwachsenenleben mit der Verbrechensbekämpfung verbracht, und der Aufenthaltsort eines Menschen ist ein Detail, das ein guter Polizist niemals übersieht. Es nützt überhaupt nichts, zum Funkgerät zu greifen und »Mayday« zu brüllen, wenn man keine Ahnung hat, wo man sich befindet. Marino betrachtet sich als Lucys Mentor, und das lässt er sie nicht vergessen, obwohl sie selbst ihn schon seit Jahren nicht mehr so sieht.

»Atlantic Boulevard«, hört er Lucys Stimme im rechten Ohr. »Ich sitze im Auto.«

»Wär ich nie drauf gekommen, Sherlock. Du klingst, als würdest du in einem Müllcontainer hocken.« Marino lässt sich keine Gelegenheit entgehen, sie wegen ihrer Autos aufzuziehen.

»Neid ist eine so hässliche Eigenschaft«, gibt sie zurück.

Er entfernt sich ein paar Schritte vom Kaffeeautomaten in der Gerichtsmedizin und blickt sich um, bis er sich vergewissert hat, dass niemand sein Gespräch belauscht. »Pass auf, hier bei uns läuft es nicht so gut.« Er späht dabei durch das kleine Fenster in der Bibliothekstür, um festzustellen, ob sich jemand im Raum befindet. Alles menschenleer. »Der Laden ist ganz schön den Bach runtergegangen«, sagt er in sein winziges Mobiltelefon. »Ich wollte dich nur auf dem Laufenden halten.«

»Auf dem Laufenden halten? Sehr komisch«, entgegnet Lucy nach einer Pause. »Was soll ich für dich tun?«

»Verdammt, ist dieses Auto laut.« Beim Auf-und-ab-Gehen huschen seine Augen unablässig unter dem Schirm der LAPD-Baseballkappe hin und her, die Lucy ihm geschenkt hat.

»Gut, jetzt hast du es geschafft, dass ich mir Sorgen mache«, überbrüllt sie das Dröhnen ihres Ferrari. »Als du erzählt hast, es wäre nichts Großes, hätte ich gleich wittern müssen, dass es Probleme geben wird. Mist. Ich habe dich gewarnt. Ich habe euch beide gewarnt, keinen Fuß mehr in diese Stadt zu setzen.«

»Es geht nicht nur um das tote Mädchen«, erwidert er leise. »Darauf will ich hinaus. Eigentlich geht es überhaupt nicht um die Kleine. Damit möchte ich natürlich nicht sagen, dass sie nicht das Hauptproblem wäre. Aber hier ist noch etwas im Busch. Unser gemeinsamer Freund« – damit meint er Benton – »hat sich da unmissverständlich ausgedrückt. Und du kennst sie ja.« Jetzt spricht er von Scarpetta. »Sie wird sich ordentlich Ärger einhandeln.«

»Etwas ist im Busch? Was denn? Gib mir einen Wink.« Lucys Tonfall verändert sich. Wenn sie sehr ernst ist, wird ihre Stimme zäh und starr und erinnert Marino an trocknenden Klebstoff.

Falls es in Richmond zu Problemen kommen sollte, denkt Marino, gibt es für ihn kein Entrinnen. Lucy wird ihm ordentlich die Leviten lesen. »Ich muss dir mal was sagen, Boss«, fährt er fort. »Einer der Gründe, warum ich noch lebendig rumlaufe, ist, dass ich Instinkte habe.«

Marino nennt sie Boss, als ob es ihm nichts ausmachen würde, dass sie sein Chef ist, obwohl ihm nichts ferner liegt als das. Insbesondere dann, wenn seine berüchtigten Instinkte ihn warnen, dass er sich einen Rüffel von ihr einhandeln wird. »Und meine Instinkte brüllen mich geradezu an, Boss«, fährt er fort, wohl wissend, dass Lucy und ihre Tante Kay Scarpetta es sofort als Unsicherheit deuten, wenn er großspurig wird, mit seinen Instinkten prahlt oder Frauen in Machtpositionen Boss, Sherlock oder noch Schlimmeres nennt. Aber er ist machtlos dagegen, auch wenn er die Situation dadurch nicht gerade verbessert. »Und ich setze noch einen drauf«, fährt er fort. »Ich hasse diese stinkende Stadt. Verdammt, ich hasse dieses Drecksnest. Weißt du, was mit dieser Scheißstadt nicht stimmt? Kein Mensch hier hat Respekt.«

»Ich sage jetzt nicht, dass ich dich ja gewarnt habe«, reibt Lucy ihm unter die Nase. Ihr Tonfall wird immer trockener. »Sollen wir kommen?«

»Nein«, antwortet er, und es ärgert ihn, dass Lucy sofort glaubt, sie müsse etwas unternehmen, wenn er ihr sagt, was er denkt. »Im Moment will ich dich nur auf dem Laufenden halten, Boss«, wiederholt er und wünscht, er hätte Lucy gar nicht angerufen. Es war ein Fehler, sich bei ihr zu melden, denkt er. Aber wenn sie rauskriegen sollte, dass ihre Tante in Schwierigkeiten steckt und er kein Wort darüber verloren hat, würde sie ihm ordentlich die Hölle heiß machen.

Bei ihrer ersten Begegnung war sie zehn Jahre alt. Zehn. Eine pummelige kleine Göre mit Brille und einem schrecklichen Benehmen. Anfangs konnten sie einander nicht ausstehen. Dann änderte sich alles, und sie begann, ihn als Helden zu verehren. Sie wurden Freunde. Er hatte Spaß daran, ihr im Laufe der Jahre das Auto- und Motorradfahren, das Schießen und das Biertrinken beizubringen und ihr zu erklären, woran man es erkennt, wenn jemand lügt. Die wichtigen Dinge im Leben eben. Damals hatte er noch keine Angst vor ihr. Vielleicht ist Angst ja nicht das richtige Wort, um seine Gefühle zu beschreiben, aber Lucy hat im Gegensatz zu ihm Macht. Wenn er nach einem Telefonat mit ihr den Hörer auflegt, fühlt er sich meistens niedergeschlagen und uneins mit sich selbst. Sie kann tun und lassen, was ihr gefällt, und hat trotzdem Geld und die Möglichkeit, andere Menschen herumzukommandieren. Er nicht. Nicht einmal als Polizeibeamter konnte er seine Macht so offen zur Schau stellen wie sie. Doch er will keine Angst vor ihr haben, sagt er sich. Auf keinen Fall, verdammt.

»Wir kommen, falls du uns brauchst«, sagt Lucy am Telefon. »Allerdings ist der Zeitpunkt ungünstig. Ich stecke hier mitten in einer Sache und bin voll damit beschäftigt.«

»Ich sagte doch, dass du nicht zu kommen brauchst«, knurrt Marino. Seine Brummigkeit war schon immer der Zaubertrick, mit dem er die Menschen zwingt, sich mehr Gedanken über ihn und seine Launen zu machen als über sich selbst und ihre eigenen Gefühle. »Ich wollte dir nur erzählen, was los ist, mehr nicht. Ich komme auch ohne dich zurecht. Du kannst hier nichts tun.«

»Gut«, erwidert Lucy. Brummigkeit funktioniert bei ihr nicht mehr, was Marino immer wieder vergisst. »Ich muss weiter.«

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