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Auf beiden Seiten des Passes erheben sich schneebedeckte Berge. In der späten Nachmittagssonne werden die Schatten tief und breit, und in den höheren Lagen schneit es. Nach halb vier ist es zwecklos, noch Skilaufen oder Schneeschuhfahren zu wollen, denn in den Rockies wird es früh dunkel. Der Weg, auf dem sie sich befinden, vereist schon, und die Luft ist bitterkalt.

»Wir hätten früher umkehren sollen«, meint Benton und stößt einen Skistock vor seinem vorangestellten Schneeschuh in den Boden. »Wir beide lieben das Risiko und wissen nie, wann man aufhören muss.«

Da sie keine Lust hatten, bei der vierten Lawinenmarkierung, wo Benton vorschlug, Schluss für heute zu machen, aufzugeben, sind sie weiter bergauf in Richtung Maroon Lake gegangen. Doch einen knappen Kilometer bevor der See in Sicht kam, waren sie trotzdem gezwungen, das Handtuch zu werfen. Jetzt werden sie es nur mit knapper Not zurück zu ihren Autos schaffen, bevor es zu dunkel ist, um etwas zu sehen. Außerdem sind sie durchgefroren und hungrig. Selbst Lucy ist erschöpft, obwohl sie es niemals zugeben würde, aber Benton merkt ihr an, dass ihr die Höhe zu schaffen macht. Sie ist um einiges langsamer geworden und hat kaum noch genug Luft zum Sprechen.

Eine Weile schaben ihre Schneeschuhe über den verkrusteten Schnee auf der Maroon Creek Road, und nur das Kratzen und Knirschen und das Geräusch, wie die Skistöcke den überfrierenden gefurchten Schnee durchbohren, sind zu hören. Wenn sie Luft holen, stehen ihnen Wolken vor den Mündern, auch wenn ihr Atem jetzt wieder regelmäßiger geht. Nur ab und zu atmet Lucy tief ein und wieder aus. Je länger sie über Henri gesprochen haben, desto weiter sind sie gegangen, und jetzt haben sie sich übernommen.

»Tut mir Leid«, sagt Benton. Der Aluminiumrahmen seines Schneeschuhs klappert auf dem Eis. »Ich hätte dich früher warnen sollen. Die Proteinriegel und das Wasser sind aufgebraucht.«

»Ich schaffe es schon«, erwidert Lucy, die unter gewöhnlichen Umständen durchaus mit ihm mithalten kann oder ihn sogar überflügelt. »Diese kleinen Flugzeuge. Ich habe noch nichts gegessen. In letzter Zeit bin ich viel gejoggt und Rad gefahren und habe eine Menge Sport getrieben. Ich dachte nicht, dass mir das zu viel wird.«

»Ich vergesse es jedes Mal, wenn ich herkomme«, antwortet er und betrachtet den Schneesturm links von ihnen, der sich immer tiefer über die weißen Gipfel senkt und sich wie ein Nebel langsam auf sie zubewegt. Er ist etwa anderthalb Kilometer entfernt und höchstens dreihundert Meter über ihnen. Benton hofft, dass sie es bis zu den Autos schaffen, bevor der Sturm sie erreicht. Allerdings ist die Straße gut zu sehen und führt stetig abwärts. Es besteht keine Lebensgefahr.

»Ich werde es mir merken«, keucht Lucy. »Beim nächsten Mal esse ich vorher etwas und steige nicht gleich aus dem Flieger auf die Schneeschuhe.«

»Tut mir Leid«, wiederholt er. »Manchmal denke ich nicht daran, dass auch du Grenzen hast.«

»In letzter Zeit entdecke ich ständig neue.«

»Wenn du mich gefragt hättest, hätte ich es dir vorhergesagt.« Er stößt den Stock in den Schnee und macht einen Schritt. »Aber du hättest mir ohnehin nicht geglaubt.«

»Ich höre auf dich.«

»Ich habe nicht behauptet, dass du nicht auf mich hörst, sondern dass du mir nicht glaubst. In diesem Fall hättest du es sicher nicht getan.«

»Mag sein. Wie weit ist es noch? Bei welcher Markierung sind wir?«

»Ich sage es dir ja nur ungern, aber erst bei Nummer drei. Es sind noch ein paar Kilometer«, erwidert Benton. Er blickt zu dem dichten, dunstigen Schneesturm hinauf. In nur wenigen Minuten hat er sich schon wieder ein Stück gesenkt. Die obere Hälfte des Berges ist darin verschwunden, und der Wind hat aufgefrischt.

»So ist es schon, seit ich hier bin. Fast jeden Tag, normalerweise am späten Nachmittag, gibt es fünfzehn bis zwanzig Zentimeter Neuschnee …« Dann kommt er auf ihr eigentliches Thema zurück. »Wenn man selbst die Zielperson ist, kann man nicht objektiv sein. Im Krieg neigen wir dazu, unsere Gegner zu Objekten zu machen, genauso wie sie es umgekehrt auch mit uns tun. Doch es ist ganz anders, wenn man selbst zum Objekt und zum Opfer wird. Für Henri bist du ein Objekt. Und sosehr du das Wort auch hasst – du bist das Opfer. Sie hat dich zum Objekt gemacht, bevor sie dich überhaupt kennen gelernt hat. Du hast sie fasziniert, und sie wollte dich besitzen. Pogue hat dich ebenfalls zum Objekt gemacht, wenn auch auf eine völlig andere Weise und aus seinen eigenen Gründen, die sich völlig von Henris unterscheiden. Er will nicht mit dir schlafen, dein Leben leben oder gar du sein. Er will dir einfach nur schaden.«

»Denkst du wirklich, er ist hinter mir her, nicht hinter Henri?«

»Auf jeden Fall. Du bist das Opfer, auf das er es abgesehen hat. Du bist das Objekt.« Seine Worte werden vom Stochern der Skistöcke und vom Klappern der Schneeschuhe untermalt. »Macht es dir was aus, wenn wir eine kurze Pause einlegen?« Er braucht zwar keine, glaubt aber, dass sie eine nötig hat.

Sie halten an, stützen sich auf ihre Skistöcke, atmen große Wolken weißer Luft aus und beobachten, wie der Schneesturm in etwa anderthalb Kilometern Entfernung die Berge rechts von ihnen umhüllt und schon fast auf einer Höhe mit ihnen ist.

»Ich gebe ihm noch eine knappe halbe Stunde«, sagt Benton, nimmt die Sonnenbrille ab und verstaut sie in einer Tasche seiner Skijacke.

»Das Unheil kommt näher«, meint Lucy. »Irgendwie symbolisch.«

»Das ist das Gute an den Bergen und am Meer. Die Natur rückt einem den Kopf zurecht und hat einem einiges mitzuteilen«, antwortet er, während er zusieht, wie sich der graue, neblige Sturm herabsenkt. Er weiß, dass es hinter dieser Wolkenwand heftig schneit und dass sie bald mitten im Inferno stehen werden.

»Ich hoffe, Pogue versucht es mal bei mir.«

»Darauf würde ich es nicht anlegen, Lucy.«

»Ich hoffe es aber«, beharrt sie und setzt sich wieder in Bewegung. »Das wäre der größte Gefallen, den er mir tun könnte. Es wäre nämlich sein letzter Versuch.«

»Henri ist ziemlich gut in der Lage, sich selbst zu verteidigen«, erinnert er sie. Er macht große Schritte und setzt die Schneeschuhe nacheinander in den verkrusteten Schnee.

»Nicht so gut wie ich. Nicht annähernd. Hat sie dir erzählt, was sie im Trainingslager gemacht hat?«

»Ich glaube nicht.«

»Wir sind dort ziemlich gnadenlos und simulieren Kampfsituationen nach der Methode von Gavin de Becker«, erwidert sie. »Die Auszubildenden wissen nicht, was sie erwartet, weil wir das im wirklichen Leben schließlich auch nicht wissen. Wenn wir die Hundestaffel zum dritten Mal auf sie hetzen, kommt eine kleine Überraschung: Die Hunde haben plötzlich keinen Maulkorb mehr um. Natürlich trug Henri Schutzkleidung, doch als sie bemerkte, dass der Hund keinen Maulkorb mehr hatte, ist sie völlig durchgedreht. Sie versuchte schreiend wegzulaufen und wurde umgerissen. Anschließend war sie völlig außer sich und wollte kündigen.«

»Schade, dass sie es nicht getan hat. Hier ist die zweite Markierung.« Mit dem Skistock weist er auf die Lawinenmarkierung, auf der eine große 2 steht.

»Sie hat sich rasch wieder erholt«, fährt Lucy fort. Sie folgt alten Spuren im Schnee, weil es so weniger anstrengend ist. »Die Gummigeschosse hat sie auch überstanden. Aber sie konnte den simulierten Kampfsituationen nie viel abgewinnen.«

»Dazu müsste man auch verrückt sein.«

»Ich hatte mal mit ein paar Spinnern zu tun, die tatsächlich Spaß daran hatten. Vielleicht gehöre ich ja auch dazu. Es tut zwar höllisch weh, ist aber wie ein Rausch. Warum bedauerst du es, dass sie nicht gekündigt hat? Hätte sie das tun sollen? Eigentlich sollte ich sie jetzt rausschmeißen.«

»Weil sie in deinem Haus überfallen wurde?«

»Mir ist klar, dass ich sie nicht so leicht loswerde. Sie würde mich verklagen.«

»Ja«, antwortet er. »Ich finde, sie sollte gehen. Auf jeden Fall.« Er blickt sie an und geht weiter. »Als du sie bei der Polizei von Los Angeles abgeworben hast, war dein Blick etwa so klar wie die Luft über den Bergen da drüben.« Er zeigt auf den Schneesturm. »Möglicherweise war sie ja eine gute Polizistin, aber ihre Fähigkeiten reichen nicht für das Niveau, auf dem du arbeitest. Ich hoffe wirklich, dass sie kündigt, bevor noch etwas Schlimmes passiert.«

»Ja«, stimmt Lucy reumütig zu und stößt einen Schwall gefrorenen Atem aus. »Etwas wirklich Schlimmes.«

»Es ist noch niemand ums Leben gekommen.«

»Bis jetzt nicht«, entgegnet Lucy. »Mein Gott, ich kann bald nicht mehr. Machst du das etwa jeden Tag?«

»Fast. Wenn meine Zeit es zulässt.«

»Ein halber Marathon wäre weniger anstrengend.«

»Solange man dort läuft, wo genug Sauerstoff in der Luft ist«, erwidert Benton. »Hier ist die Markierung Nummer eins. Wie du sicher gerne hören wirst, liegen eins und zwei dicht beieinander.«

»Pogue ist nicht vorbestraft. Er ist einfach nur ein Verlierer. Ich kapiere das nicht«, sagt Lucy. »Ein Verlierer, der für meine Tante gearbeitet hat. Warum? Warum ich? Vielleicht ist er ja in Wirklichkeit hinter ihr her. Könnte es sein, dass er Tante Kay die Schuld an seiner Erkrankung oder an sonst etwas gibt?«

»Nein«, antwortet Benton. »Er gibt dir die Schuld.«

»Was? Das ist doch Wahnsinn!«

»Ja, es ist wirklich nicht logisch. Du passt eben in seine verdrehten Denkmuster, mehr kann ich dazu auch nicht sagen, Lucy. Er will dich bestrafen. Wahrscheinlich wollte er dich auch bestrafen, als er Henri überfallen hat. Unmöglich zu wissen, was in einem Kopf wie seinem vorgeht. Er hat seine eigene Logik, die sich nicht mit unserer vergleichen lässt. Ich kann dir nur sagen, dass er psychotisch, nicht psychopathisch, ist und dass er sich von seinen Impulsen treiben lässt, anstatt berechnend zu handeln. Vermutlich hat er Halluzinationen und glaubt an magische Kräfte. Mehr fällt mir nicht dazu ein. Jetzt geht es los«, fügt er hinzu, als plötzlich winzige Schneeflocken um sie wirbeln.

Lucy setzt die Schneebrille auf. Die Espen, die sich zart und dunkelgrau von den weißen Bergen abheben, beginnen sich im Wind zu biegen. Kleine, trockene Schneeflocken peitschen herab, und der Wind fegt von der Seite heran, sodass sie fast umgeblasen werden, als sie sich, einen Schneeschuh vor den anderen setzend, auf der vereisten Straße weitertasten.

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