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Der Verkehr in der Innenstadt ist so dicht wie immer. Scarpetta fährt, weil Marino noch in seiner Beweglichkeit eingeschränkt ist. Am meisten Schmerzen scheinen ihm die Verletzungen an den Stellen zu bereiten, die man besser nicht erwähnt. Er geht leicht o-beinig und hatte vorhin Schwierigkeiten beim Einsteigen in den Geländewagen. Scarpetta weiß, was sie gesehen hat, doch die zornige rötlich violette Färbung des empfindlichen Gewebes war nur ein stiller Schrei, verglichen mit dem brüllenden Schmerz, der jetzt dort toben muss. Marino wird in nächster Zeit ein wenig eingeschränkt sein.

»Wie geht es dir?«, fragt sie ihn wieder. »Ich verlasse mich darauf, dass du mir die Wahrheit sagst.« Damit meint sie, dass sie ihn nicht noch einmal dazu auffordern wird, sich auszuziehen. Sie wird ihn untersuchen, wenn er sie darum bittet, aber sie hofft, dass es nicht nötig werden wird. Außerdem wird er sie sowieso nicht fragen.

»Ich glaube, schon besser«, erwidert er und starrt hinaus auf das alte Polizeirevier in der 9th Street. Das Gebäude machte schon vor Jahren einen heruntergekommenen Eindruck; die Farbe blättert ab, und oben an der Kante fehlen Ziegel. Nun, so still und verlassen, sieht es noch schlimmer aus. »Ich fasse es nicht, wie viele Jahre ich in dieser Bude vergeudet habe«, fügt er hinzu.

»Ach, komm schon.« Als sie den Blinker einschaltet, tickt er wie eine laute Uhr. »So etwas sagt man nicht. Lass uns den Tag nicht mit solchen Bemerkungen beginnen. Ich hoffe, dass du den Mund aufmachst, wenn die Schwellung schlimmer wird. Es ist sehr wichtig, dass du ehrlich zu mir bist.«

»Es ist besser geworden.«

»Gut.«

»Ich habe mich heute Morgen selbst mit Jod eingeschmiert.«

»Gut«, wiederholt sie. »Trag es weiter immer nach dem Duschen auf.«

»Es brennt nicht mehr so. Wirklich. Was ist, wenn sie irgendeine Krankheit hat? AIDS zum Beispiel. Das ist mir vorhin eingefallen. Was mache ich dann? Woher weiß ich, dass es nicht so ist?«

»Leider kannst du das nicht wissen«, entgegnet Scarpetta, während sie langsam die Clay Street entlangfährt. Links von ihnen erhebt sich aus einem Meer leerer Parkplätze das riesige braune Coliseum. »Wenn es dich beruhigt, habe ich, als ich mich bei ihr umgeschaut habe, nirgendwo Medikamente herumliegen sehen, die auf AIDS oder eine andere sexuell übertragbare Krankheit oder Infektion hinweisen. Das heißt natürlich nicht, dass sie nicht trotzdem HIV-positiv sein kann. Vielleicht weiß sie ja selbst nichts davon. Aber dasselbe gilt für jede Person, mit der du je intim warst. Falls du dich also mit Sorgen zermürben willst, nur zu.«

»Ich will mir ja keine Sorgen machen«, antwortet er. »Aber wenn man gebissen wird, helfen keine Gummis. Dagegen kann man sich nicht schützen. Safe Sex funktioniert irgendwie nicht, wenn einen jemand beißt.«

»Die Untertreibung des Jahres«, erwidert sie und biegt in die 4th Street ein. Ihr Mobiltelefon läutet, und sie erschrickt, als sie Rudys Nummer erkennt. Er ruft sie nur selten an, und wenn er es tut, will er ihr entweder zum Geburtstag gratulieren oder hat eine schlechte Nachricht für sie.

»Hallo, Rudy«, meldet sie sich, während sie langsam den Parkplatz hinter dem Gebäude umrundet. »Was gibt’s?«

»Ich kann Lucy nicht erreichen.« Seine Stimme klingt angespannt. »Entweder ist sie nicht im Sendebereich oder sie hat das Mobiltelefon abgeschaltet. Heute Morgen ist sie mit dem Hubschrauber nach Charleston geflogen«, sagt er.

Scarpetta wirft Marino einen Blick zu. Offenbar hat er Lucy angerufen, nachdem Scarpetta gestern gegangen war.

»Und das ist ein verdammtes Glück«, fährt Rudy fort.

»Rudy, was ist los?«, fragt Scarpetta, der es von Sekunde zu Sekunde mulmiger wird.

»Jemand hat ihr eine Bombe in den Briefkasten gelegt«, antwortet er rasch. »Ich kann jetzt nicht ins Detail gehen. Außerdem soll sie es dir selbst erzählen.«

Im Schneckentempo steuert Scarpetta auf die Besucherparkplätze zu. »Wann war das, und was genau ist passiert?«, erkundigt sie sich.

»Ich habe das Ding gerade gefunden. Vor einer knappen Stunde. Ich wollte nach dem Rechten sehen und habe bemerkt, dass der Signalwimpel am Briefkasten hochgeklappt war. Das kam mir komisch vor. Also habe ich den Briefkasten aufgemacht, und drinnen war ein großer Plastikbecher. Er war mit Markierstift orangefarben angemalt, der Deckel war grün. Rings um den Deckel und über der kleinen Tülle, aus der man trinkt, war Isolierband angebracht, sodass ich nicht sehen konnte, was drin war. Also habe ich mir eine von den langen Stangen aus der Garage geholt. Ich weiß nicht, wie man die Dinger nennt. Sie hat oben einen Greifer, damit man hoch hängende Glühbirnen wechseln kann. Ich habe das verdammte Ding damit rausgefischt, hinters Haus getragen und unschädlich gemacht.«

Sie lässt sich Zeit beim Parken und hört zu. »Wie denn? Ich frage dich ja nur ungern.«

»Ich habe darauf geschossen. Keine Angst. Mit Schlangenschrot. Es war eine Chemiebombe, eine Flaschenbombe, du kennst die Dinger ja. Mit kleinen Alukügelchen darin.«

»Metall, um die Reaktion zu beschleunigen.« Scarpetta kennt die verschiedenen Bombentypen. »Das ist häufig bei Bomben, die aus salzsäurehaltigen Putzmitteln wie zum Beispiel Toilettenreiniger aus dem Supermarkt oder aus dem Baumarkt bestehen. Leider kann sich jeder die Bauanleitungen aus dem Internet herunterladen.«

»Sie hat wirklich nach Säure gerochen, so wie Chlor. Aber da ich neben dem Pool darauf geschossen habe, kam der Geruch vielleicht von dort.«

»Möglicherweise Chlorgranulat für Swimmingpools in Verbindung mit einer zuckerhaltigen Limonade. Das ist auch sehr beliebt. Nach einer chemischen Analyse wissen wir mehr.«

»Keine Sorge, das wird erledigt.«

»Ist von dem Becher noch etwas übrig?«

»Wir werden ihn auf Fingerabdrücke untersuchen und alles, was wir finden, mit IAFIS abgleichen.«

»Theoretisch kann man aus Fingerabdrücken auch DNS-Spuren sicherstellen, wenn sie noch frisch sind. Es ist einen Versuch wert.«

»Wir überprüfen den Becher und das Isolierband. Keine Sorge.«

Je öfter er wiederholt, dass sie sich keine Sorgen machen soll, desto mehr macht sie sich welche.

»Ich habe nicht die Polizei verständigt«, fügt er dann hinzu.

»Es steht mir nicht zu, dir Ratschläge zu erteilen.« Sie hat es aufgegeben, ihm oder den Menschen in seinem Umfeld sagen zu wollen, was sie tun sollen. Lucy und ihre Mitarbeiter leben nach anderen Regeln, die kreativ und riskant sind und in vielen Fällen die Grenzen der Legalität überschreiten. Deshalb will Scarpetta keine Einzelheiten mehr hören, die ihr nachts nur den Schlaf rauben würden.

»Vielleicht steckt etwas anderes dahinter«, meint Rudy. »Doch das soll Lucy dir selbst erzählen. Falls du sie sprichst, bevor ich sie erreiche, richte ihr aus, dass sie mich so schnell wie möglich anrufen soll.«

»Rudy, du tust ohnehin, was du willst. Aber ich hoffe trotzdem, dass nicht noch weitere dieser Bomben dort herumliegen und dass der Täter sich nicht mehr als ein Opfer ausgeguckt hat«, sagt sie. »Ich hatte mit Menschen zu tun, die gestorben sind, weil derartige Chemikalien vor ihrer Nase explodierten, ihnen ins Gesicht geschüttet wurden oder in die Luftröhre und Lunge geraten sind. Diese Säuren sind so stark, dass die Reaktion nicht einmal vollständig abgeschlossen sein muss, damit es zur Explosion kommt.«

»Ich weiß, ich weiß.«

»Bitte vergewissere dich, dass es keine weiteren Opfer oder potenziellen Opfer gibt. Das beschäftigt mich immer am meisten, wenn du die Dinge selbst in die Hand nimmst.« Damit will sie ausdrücken, dass er wenigstens so verantwortungsvoll sein soll, für die Sicherheit seiner Mitmenschen zu sorgen, wenn er schon die Polizei nicht verständigen will.

»Ich weiß, was ich tun muss. Keine Sorge«, erwidert er.

»Mein Gott«, ruft Scarpetta, nachdem das Telefonat vorbei ist. Sie blickt Marino an. »Was um Himmels willen ist da unten bloß los? Offenbar hast du gestern Abend Lucy angerufen. Hast sie dir erzählt, was dort gespielt wird? Ich habe sie seit September nicht gesehen und tappe völlig im Dunkeln.«

»Eine Säurebombe?« Er richtet sich im Sitz auf, sprungbereit wie immer, wenn jemand Lucy an den Kragen will.

»Eine Bombe, die auf chemischer Basis funktioniert. Mit solchen Flaschenbomben hatten wir in Fairfax zu tun. Erinnerst du dich an die Bombenserie vor ein paar Jahren im Norden von Virginia? Ein paar Jugendliche, die zu viel Zeit hatten und es lustig fanden, Briefkästen in die Luft zu sprengen. Eine Frau ist dabei gestorben.«

»Verdammt«, sagt er.

»Leicht herzustellen und hochgefährlich. Mit einem pH-Wert von eins oder weniger, also so sauer, dass es nicht mehr messbar ist. Sie hätte Lucy unter der Nase explodieren können. Ich hoffe nur, sie hätte nicht versucht, sie selbst aus dem Briefkasten zu nehmen. Bei ihr kann man nie wissen.«

»Bei ihr zu Hause?«, hakt Marino nach, und seine Wut wächst. »Die Bombe war in ihrer Villa in Florida?«

»Was hast du gestern Abend mit ihr besprochen?«

»Ich habe ihr nur von Frank Paulsson erzählt und ihr geschildert, was sich hier tut. Mehr nicht. Sie meinte, sie würde sich darum kümmern. In ihrem riesigen Haus, das von Kameras und solchem Mist nur so strotzt? Die Bombe war in ihrem Haus?«

»Komm«, erwidert Scarpetta und öffnet die Autotür. »Ich erkläre es dir auf dem Weg.«

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