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Er erinnert sich an den Tag, als sie heruntergekommen ist, um mit seinem Chef zu sprechen. Das hieß, dass das, was sie ihm mitzuteilen hatte, wichtig genug war, um eine Fahrt mit der Höllenmaschine namens Lastenaufzug zu riskieren.

Der Lastenaufzug bestand aus rostigem Eisen. Seine Türen schlossen sich nicht von beiden Seiten wie bei einem normalen Aufzug, sondern von oben und unten, und trafen sich in der Mitte wie zuklappende Kiefer. Natürlich gab es auch eine Treppe. Laut Brandschutzvorschrift müssen alle staatlichen Gebäude über Treppen verfügen. Aber niemand nahm die Stufen zur Anatomie; für Edgar Allan Pogue kam das überhaupt nicht in Frage. Wenn er zwischen der Leichenhalle und seinem unterirdischen Arbeitsplatz hin- und herfahren musste, fühlte er sich immer, als würde er wie Jonas aus der Bibel bei lebendigem Leibe verschlungen, sobald er die eisernen Aufzugstüren mit einem Ruck an dem Eisenhebel in der Kabine schloss. Der Boden bestand aus geriffeltem Stahlblech und war mit Resten menschlicher Asche und Knochenstaub bedeckt. Für gewöhnlich stand auch eine Bahre in dem engen alten Eisenaufzug herum, denn wen interessierte es schon, was Pogue darin vergaß.

Tja, sie interessierte es. Leider.

An dem Vormittag, an den Pogue gerade denkt, während er in seiner Wohnung in Hollywood im Liegestuhl sitzt und seinen Baseballschläger mit einem Taschentuch poliert, trat sie aus dem Lastenaufzug. Sie trug einen langen weißen Labormantel über ihrem grünen OP-Anzug, und er wird nie vergessen, wie lautlos sie über den braun gefliesten Boden der unterirdischen fensterlosen Welt glitt, in der er seine Tage und später auch einige seiner Nächte verbrachte. Sie hatte Schuhe mit Gummisohlen an den Füßen, vermutlich weil man darin nicht so leicht ausrutschte und seinen Rücken schonte, wenn man stundenlang im Autopsiesaal stand und Menschen aufschnitt. Seltsam, dass das Aufschneiden von Menschen bei ihr in Ordnung geht, nur weil sie Ärztin ist, während Pogue überhaupt nichts vorzuweisen hat. Er hat nicht einmal die Highschool abgeschlossen, obwohl in seinem Lebenslauf etwas anderes steht, eine von vielen Lügen, auf die ihn nie jemand angesprochen hat.

»Wir dürfen die Bahre nicht mehr im Aufzug lassen«, sagte sie zu Pogues Chef Dave, einem seltsamen, gebeugten Mann mit dunklen Ringen unter den Augen und schwarz gefärbtem, steif gegeltem Haar. »Offenbar handelt es sich bei dem Wagen um den, den Sie im Krematorium benutzen, und deshalb ist der Aufzug voller Staub. Das sieht unmöglich aus und ist außerdem gesundheitsschädlich.«

»Aber sie ist doch gar nicht im Aufzug.« Dave warf einen bedeutungsschwangeren Blick auf die Bahre, die – zerkratzt, zerbeult und mit rostigen Scharnieren – mitten im Raum stand. Darauf lag eine zusammengeknüllte durchsichtige Plastikhülle.

»Es ist mir nur gerade eingefallen, und deshalb wollte ich es Ihnen gleich sagen. Der Aufzug wird zwar bloß von den wenigsten in diesem Gebäude benutzt, aber wir sollten trotzdem auf Sauberkeit und Hygiene achten«, sagte sie.

In diesem Augenblick wurde Pogue klar, dass sie seine Tätigkeit als unhygienisch betrachtete. Wie sonst sollte er eine solche Bemerkung verstehen? Der Witz an der Sache allerdings war, dass die Medizinstudenten ohne die an die Wissenschaft gespendeten Leichen nichts zum Sezieren hätten. Und was würde dann aus Kay Scarpetta werden? Was würde sie ohne Edgar Allan Pogues Leichen anfangen, auch wenn sie während ihres Medizinstudiums noch keine Bekanntschaft mit ihnen machen konnte? Denn das war vor seiner Zeit und außerdem nicht in Virginia gewesen. Sie hat nämlich in Baltimore Medizin studiert, nicht in Virginia, und ist etwa zehn Jahre älter als Pogue.

Obwohl sie an diesem Tag nicht mit ihm gesprochen hat, kann er ihr keine Arroganz vorwerfen. Sie hat immer laut und deutlich »Hallo, Edgar Allan« und »Guten Morgen, Edgar Allan« und »Wo ist Dave, Edgar Allan?« gesagt, wenn sie der Anatomie aus irgendeinem Grund einen Besuch abstattete. An diesem Tag allerdings hat sie kein Wort mit ihm gewechselt, als sie, die Hände in den Taschen ihres Labormantels, über den braunen Fußboden eilte. Vielleicht lag das ja daran, dass sie ihn nicht gesehen hat. Aber sie hat auch nicht Ausschau nach ihm gehalten. Hätte sie es nämlich getan, dann hätte sie ihn am Ofen angetroffen, wo er Asche und die Knochenstückchen zusammenfegte, die er gerade mit seinem Lieblings-Baseballschläger zertrümmert hatte.

Der springende Punkt ist, dass sie nicht hingeschaut hat. Nein, das hat sie nicht. Er hingegen hatte den Vorteil, von der dämmrigen Betonnische, wo der Ofen stand, direkten Blick auf den Hauptraum zu haben, wo Dave gerade die rosafarbene alte Frau an den Haken aus der mit Formalin gefüllten Wanne hochzog. Die motorgetriebenen Winden und Ketten rasselten gleichmäßig vor sich hin, während die Leiche rosig durch die Luft schwebte, Arme und Knie angezogen, als säße sie immer noch in der Wanne. Das Licht der Neonröhren brach sich in der stählernen Identifikationsmarke, die an ihrem rechten Ohr baumelte.

Pogue konnte sich eines Anflugs von Stolz nicht erwehren, als er die schwebende Leiche beobachtete, bis er Scarpetta plötzlich sagen hörte: »Im neuen Gebäude wird das anders werden, Dave. Wir stapeln sie auf Bahren in einem Kühlraum so wie die anderen Leichen auch. Das hier ist pietätlos und mittelalterlich. Es gehört sich nicht.«

»Ja, Ma’am. Ein Kühlraum wäre gut. Allerdings passen in die Wannen mehr hinein«, entgegnete Dave und betätigte einen Schalter, worauf die Kette plötzlich anhielt. Die rosafarbene Frau schwankte, als säße sie in einem ruckartig gestoppten Sessellift.

»Vorausgesetzt, ich kann den Platz abzweigen. Sie wissen ja, wie es ist. Um jeden Quadratzentimeter muss ich kämpfen. Alles ist eine Platzfrage«, sagte Scarpetta, legte den Finger ans Kinn und blickte sich in ihrem Königreich um.

Edgar Allan Pogue weiß noch, was er damals gedacht hat: Schon gut, dieser braune Fußboden und die Wannen, der Ofen und der Raum zum Einbalsamieren mögen in diesem Moment dein Königreich sein. Aber wenn du nicht da bist, also neunundneunzig Prozent der Zeit, gehört dieses Königreich mir. Die Menschen, die hereingeschoben werden und ausbluten, die in den Wannen sitzen, in Flammen aufgehen und zum Schornstein hinausschweben, sie alle sind meine Untertanen und Freunde.

»Ich hätte eigentlich eine Leiche gebraucht, die nicht einbalsamiert ist«, meinte Scarpetta zu Dave. »Vielleicht sollte ich die Vorführung absagen.«

»Edgar Allan war zu schnell. Er hat sie einbalsamiert und in die Wanne gelegt, bevor ich Gelegenheit hatte, ihm zu sagen, dass Sie heute eine Leiche brauchen«, erwiderte Dave. »Eine frische kann ich zurzeit nicht bieten.«

»Hat sie Angehörige?« Scarpetta betrachtete die rosafarbene schwankende Leiche.

»Edgar Allan?«, rief Dave. »Die hat doch keine Angehörigen, oder?«

Edgar log und bestätigte das, da er wusste, dass Scarpetta niemals eine Tote mit Angehörigen verwenden würde. Das wäre nämlich nicht im Sinne des Verstorbenen, der seinen Körper der Wissenschaft vermacht hat. Pogue war sich allerdings sicher, dass es die rosafarbene alte Frau nicht interessiert hätte. Überhaupt nicht. Sie wollte sich nur wegen einiger erlittener Ungerechtigkeiten an Gott rächen.

»Ich denke, es wird gehen«, beschloss Scarpetta. »Ich würde nur ungern absagen. Es funktioniert schon.«

»Tut mir echt Leid«, sagte David. »Ich weiß, dass eine Autopsievorführung an einer einbalsamierten Leiche nicht das Optimale ist.«

»Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber.« Scarpetta tätschelte seinen Arm. »Kaum zu fassen, dass wir heute keinen einzigen Fall haben. Und ausgerechnet an so einem Tag bekommen wir Besuch von der Polizeiakademie. Tja, schicken Sie sie hoch.«

»Liebend gern«, meinte Dave, der manchmal mit Scarpetta flirtete, mit einem Zwinkern. »Zurzeit sieht es auch mit Spenden leider mau aus.«

»Seien Sie nur froh, dass die Öffentlichkeit nicht weiß, wo die Leichen landen. Dann würden Sie nämlich gar keine Spenden mehr kriegen«, erwiderte sie und ging in Richtung Aufzug. »Wir müssen uns bald mal die Pläne für das neue Gebäude anschauen, Dave.«

Also half Pogue seinem Chef, die jüngste Spende von den Haken zu lösen und sie auf dieselbe staubige Bahre zu legen, über die Scarpetta sich gerade beschwert hatte. Pogue rollte die rosafarbene alte Dame über die braunen Fliesen in den rostigen Lastenaufzug. Während sie nach oben fuhren und er sie im Erdgeschoss wieder hinausschob, dachte er sich, dass die alte Frau sicher nie mit dieser Reise gerechnet hätte. Nein, ganz sicher hatte sie diesen Umweg nicht eingeplant, das musste er eigentlich am besten wissen. Schließlich hatte er oft genug mit ihr geredet. Selbst vor ihrem Tod. Die Plastikhülle, die er über sie gebreitet hatte, raschelte, als er sie durch die dicke, nach Raumspray riechende Luft schob. Auf dem Weg zu den offenen Türflügeln, die in den Autopsiesaal führten, klapperten die Räder der Bahre über weiße Fliesen.

»Und das, liebe Mutter, ist es, was mit Mrs. Arnette passiert ist«, sagt Edgar Allan Pogue und richtet sich im Liegestuhl auf. Fotos von Mrs. Arnette mit ihrem bläulich getönten Haar sind auf dem gelbweißen Stoff zwischen seinen nackten, behaarten Schenkeln ausgebreitet. »Oh, mir ist klar, wie ungerecht und schrecklich sich das anhört. Aber so schlimm war es gar nicht. Ich wusste, dass ihr ein Publikum aus jungen Polizisten lieber gewesen wäre, als wenn irgendein undankbarer Medizinstudent an ihr herumgeschnitzt hätte. Eine hübsche Geschichte, findest du nicht, Mutter? Eine wirklich hübsche Geschichte.«

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