52

Dr. Stanley Philpotts Praxis in Fan, dem »Fächer« von Richmond, ist in einem weiß verputzten Reihenhaus aus Backstein in der Main Street untergebracht. Er ist Allgemeinmediziner und war entgegenkommend, als Scarpetta ihn spät am gestrigen Abend anrief, um mit ihm über Edgar Allan Pogue zu sprechen.

»Sie wissen doch, dass ich keine Auskünfte über meine Patienten geben darf«, war seine erste Reaktion.

»Die Polizei kann sich auch eine richterliche Anordnung besorgen«, erwiderte sie. »Wäre Ihnen das lieber?«

»Eigentlich nicht.«

»Ich muss mit Ihnen über ihn reden. Kann ich gleich morgen früh in Ihre Praxis kommen?«, meinte sie. »Ich fürchte, sonst würde die Polizei Mittel und Wege finden, Sie zu befragen.«

Dr. Philpott hat keine Lust auf einen Besuch der Polizei. Er möchte keine Streifenwagen in der Nähe seiner Praxis sehen und auch nicht riskieren, dass Cops in sein Wartezimmer spazieren und seine Patienten erschrecken. Der Arzt ist ein sanft wirkender Herr mit schlohweißem Haar und anmutigen Bewegungen, der Scarpetta höflich begrüßt, nachdem seine Assistentin sie zur Hintertür hereingelassen und in die winzige Küche geführt hat, wo er sie erwartet.

»Ich habe einige Vorträge von Ihnen gehört«, sagt Dr. Philpott und schenkt ihr eine Tasse Kaffee ein. »Einmal an der Richmond Academy und einmal im Commonwealth Club. Aber bestimmt erinnern Sie sich nicht an mich. Wie trinken Sie Ihren Kaffee?«

»Schwarz, bitte. Danke.« Scarpetta nimmt an einem Tisch am Fenster Platz, aus dem man auf eine kopfsteingepflasterte Seitengasse blickt. »Der Vortrag im Commonwealth Club ist schon lange her.«

Nachdem er die Tassen auf den Tisch gestellt hat, zieht er sich einen Stuhl heran, sodass er mit dem Rücken zum Fenster sitzt. Das Licht, das durch die Wolken fällt, lässt sein ordentlich gekämmtes, dichtes weißes Haar und seinen gestärkten Arztkittel aufleuchten. Ein Stethoskop hängt um seinen Hals, als sei es dort vergessen worden. Seine Hände sind groß und ruhig. »Soweit ich mich erinnere, haben Sie einige amüsante Geschichten erzählt«, meint er nachdenklich. »Allerdings immer geschmackvoll. Damals fand ich, dass Sie eine couragierte Frau sind. In jener Zeit wurden nicht allzu viele Frauen vom Commonwealth Club eingeladen. Eigentlich hat sich bis heute nicht viel daran geändert. Wissen Sie, ich habe sogar mit dem Gedanken gespielt, mich als Leichenbeschauer zu melden, so sehr haben Sie mich inspiriert.«

»Dafür ist es noch nicht zu spät«, entgegnet sie lächelnd. »Soweit ich im Bilde bin, werden noch etwa hundert Kollegen gesucht. Die Personalknappheit wirft ziemliche Probleme auf, weil die Leichenbeschauer, insbesondere auf dem flachen Land, die meisten Totenscheine ausstellen, auf Notrufe reagieren und gleich vor Ort entscheiden, ob eine Leiche ein Fall für die Autopsie ist. Während meiner Amtszeit hatten wir im ganzen Bundesstaat ungefähr fünfhundert Ärzte auf der Liste, die sich freiwillig gemeldet hatten. Unsere Truppen – so habe ich sie immer genannt. Ich weiß nicht, was ich ohne diese Leute gemacht hätte.«

»Heutzutage engagieren sich Ärzte nicht mehr gern ehrenamtlich«, sagt Dr. Philpott und umfasst die Kaffeetasse mit beiden Händen. »Insbesondere nicht die jungen Kollegen. Ich fürchte, auf der Welt geht es immer egoistischer zu.«

»Ich versuche, nicht daran zu denken. Es schlägt mir aufs Gemüt.«

»Wahrscheinlich ist das die vernünftigste Philosophie … Wie genau kann ich Ihnen helfen?« Ein trauriger Ausdruck tritt in seine hellblauen Augen. »Ich ahne, dass Sie keine guten Nachrichten für mich haben. Was hat Edgar Allan denn angestellt?«

»Vermutlich Mord. Mordversuch. Sprengstoffanschlag. Vorsätzliche Körperverletzung«, zählt Scarpetta auf. »Bestimmt haben Sie von dem vierzehnjährigen Mädchen gehört, das vor einigen Wochen hier in der Nähe gestorben ist.« Sie möchte nicht weiter ins Detail gehen.

»O Gott«, sagt er kopfschüttelnd und starrt in seine Tasse. »Gütiger Himmel.«

»Wie lange ist er schon Ihr Patient, Dr. Philpott?«

»Eine Ewigkeit«, antwortet er. »Seit seiner Kindheit. Seine Mutter habe ich auch schon behandelt.«

»Ist sie noch am Leben?«

»Sie ist vor ungefähr zehn Jahren gestorben. Eine ziemlich herrschsüchtige Person und recht anstrengend. Edgar Allan ist Einzelkind.«

»Und der Vater?«

»Alkoholiker. Hat vor langer Zeit Selbstmord begangen. Es muss ungefähr zwanzig Jahre her sein. Ich möchte Ihnen gleich sagen, dass ich Edgar Allan nicht gut kenne. Von Zeit zu Zeit kommt er wegen alltäglicher Dinge zu mir, hauptsächlich um sich gegen Grippe und Lungenentzündung impfen zu lassen. Das tut er jeden September, pünktlich wie die Uhr.«

»Auch in diesem Jahr?«, will Scarpetta wissen.

»Offen gestanden nein. Ich habe mir, kurz bevor Sie kamen, seine Akte angesehen. Er war am 14. Oktober hier und hat sich gegen Lungenentzündung impfen lassen, allerdings nicht gegen Grippe. Ich fürchte, mir war der Impfstoff ausgegangen. Sie wissen ja, dass es da einen Engpass gab. Deshalb hat er sich nur gegen Lungenentzündung impfen lassen und ist wieder gegangen.«

»War an seinem Besuch etwas auffällig?«

»Er kam rein, sagte guten Tag, und ich fragte ihn, wie es seiner Lunge gehe. Er leidet an einer schweren interstitiellen Lungenfibrose, ausgelöst durch fortwährenden Kontakt mit Konservierungsflüssigkeit. Offenbar hat er in einem Beerdigungsinstitut gearbeitet.«

»Nicht ganz«, erwidert sie. »Er war mein Mitarbeiter.«

»Verflixt und zugenäht!«, ruft der Arzt überrascht aus. »Das habe ich nicht gewusst. Warum hat er nur …? Tja, zumindest hat er behauptet, er sei stellvertretender Direktor eines Beerdigungsinstituts.«

»Er hat gelogen. In Wahrheit war er in der Anatomie beschäftigt, und zwar schon, als ich in den späten Achtzigern dort anfing. 1997 ist er wegen Arbeitsunfähigkeit in Frührente gegangen, kurz bevor wir in das neue Gebäude in der East Fourth Street umgezogen sind. Was hat er Ihnen über seine Lungenkrankheit erzählt? Kontakt mit Konservierungsmitteln?«

»Er sagte, er habe eines Tages ein paar Spritzer Formaldehyd abbekommen und eingeatmet. Die Geschichte ist ziemlich bizarr. Edgar Allan ist zugegebenermaßen ein wenig seltsam, das war mir schon immer klar. Seiner Darstellung nach hat er eine Leiche im Beerdigungsinstitut einbalsamiert und vergessen, ihr den Mund zu verstopfen. So lautete wenigstens seine Version. Die Flüssigkeit sei zu schnell geflossen und der Leiche aus dem Mund gequollen, weil der Schlauch gerissen sei. Wirklich grotesk. Aber was erzähle ich Ihnen? Wenn er für Sie gearbeitet hat, kennen Sie ihn besser als ich, und ich brauche seine abstrusen Geschichten nicht zu wiederholen.«

»Diese ist mir völlig neu«, meint sie. »Ich erinnere mich nur daran, dass er mit Formaldehyd in Kontakt gekommen ist und Fibrose hatte. Oder besser Lungenfibrose.«

»Daran besteht kein Zweifel. Sein interstitielles Gewebe ist vernarbt, und eine Biopsie ergab eine erhebliche Schädigung des Lungengewebes. Er simuliert nicht.«

»Wir müssen ihn finden«, meint Scarpetta. »Haben Sie vielleicht einen Tipp für uns, wo wir suchen sollten?«

»Was ist mit seinen ehemaligen Kollegen?«

»Die überprüft die Polizei bereits. Allerdings verspreche ich mir nicht viel davon. Als er für mich arbeitete, war er ein Einzelgänger«, antwortet sie. »Ich weiß, dass er in ein paar Tagen ein neues Rezept für sein Prednison braucht. Ist er in dieser Hinsicht zuverlässig?«

»Meiner Erfahrung nach läuft es bei ihm phasenweise, was die Medikamente angeht. Ein Jahr lang mag er gewissenhaft sein, und dann setzt er das Zeug wieder monatelang ab, weil er davon dick wird.«

»Ist er denn übergewichtig?«

»Bei seinem letzten Besuch war er es.«

»Wie groß ist er, und wie viel hat er gewogen?«

»Etwa eins siebzig groß. Im Oktober sah er aus, als wöge er mindestens neunzig Kilo. Ich habe ihm erklärt, wie sehr das seine Atmung belastet, ganz zu schweigen von seinem Herzen. Mit den Kortikosteroiden ist es bei ihm wegen seiner Gewichtsprobleme ein ewiges Hin und Her. Außerdem kann er recht paranoid werden, wenn er die Medikamente nimmt.«

»Befürchten Sie eine Steroidpsychose?«

»Darauf sollte man immer achten. Wenn Sie so was je miterlebt haben, tun Sie das ganz automatisch. Allerdings ist bei Edgar Allan schwer zu sagen, ob er wegen der Medikamente so merkwürdig ist oder ob er es auch ohne sie wäre. Wie hat er es denn getan, wenn ich mir die Frage erlauben darf? Wie hat er das Mädchen getötet?«

»Haben Sie schon mal von Burke und Hare gehört? Zwei Männer im Schottland des frühen neunzehnten Jahrhunderts, die Menschen töteten und ihre Leichen an die Anatomie verkauften.

Damals waren Leichen zum Sezieren ziemlich knapp, und die Medizinstudenten mussten frische Gräber schänden oder sich Leichen auf sonstige illegale Weise beschaffen, wenn sie anatomische Kenntnisse erwerben wollten.«

»Grabschändung«, sagt Dr. Philpott. »Das so genannte Burking ist mir ein Begriff, obwohl mir nie ein moderner Fall zu Ohren gekommen ist. Ich glaube, die Männer, die die Gräber schändeten, um Leichen zum Sezieren zu beschaffen, nannte man damals Resurrektionisten.«

»Heutzutage geht es nicht mehr darum, jemanden zu töten, um seine Leiche zu verkaufen. Doch Burking kommt immer noch vor. Es ist schwer festzustellen, und die Dunkelziffer ist ziemlich hoch.«

»Tritt der Tod durch Ersticken oder Arsen ein?«

»In der forensischen Pathologie bezeichnet Burking einen Mord durch mechanische Asphyxie. Der Legende zufolge pflegte Burke sich ein schwaches Opfer auszusuchen, für gewöhnlich einen alten Menschen, ein Kind oder einen Kranken, sich auf die Brust des Betreffenden zu setzen und ihm gleichzeitig Mund und Nase zuzuhalten.«

»Und ist das auch mit dem armen Mädchen passiert?«, fragt Dr. Philpott, und tiefe, bedrückte Falten zeigen sich auf seinem Gesicht. »Ist es das, was er ihm angetan hat?«

»Wie Ihnen sicher bekannt ist, stellt man häufig eine Diagnose auf der Basis dessen, dass es keine gibt. Ein Ausschlussverfahren sozusagen«, entgegnet Scarpetta. »Bei ihr wurde nichts weiter als frische Blutergüsse festgestellt, die durchaus darauf hinweisen, dass jemand auf ihrer Brust saß und die Hände festhielt. Außerdem hatte sie Nasenbluten.« Viel mehr möchte sie nicht sagen. »Natürlich ist das streng vertraulich.«

»Ich habe keine Ahnung, wo er stecken könnte«, sagt Dr. Philpott mit finsterer Miene. »Falls er aus irgendeinem Grund anruft, verständige ich Sie sofort.«

»Ich gebe Ihnen die Nummer von Pete Marino.« Sie schreibt sie auf.

»Edgar Allan gehört wie gesagt nicht zu den Menschen, die ich gut kenne. Offen gestanden war er mir nie sehr sympathisch. Er ist seltsam und kam mir unheimlich vor. Als seine Mutter noch lebte, begleitete sie ihn stets zu den Terminen, auch dann noch, als er bereits ein erwachsener Mann war, bis kurz vor ihrem Tod.«

»Woran ist sie gestorben?«

»Wenn Sie mich so direkt fragen, fand ich die Umstände ihres Todes ein bisschen merkwürdig«, sagt er bedrückt. »Sie war fettsüchtig und lebte ausgesprochen ungesund. Eines Winters erkrankte sie an der Grippe und starb zu Hause. Damals erschien mir das nicht weiter verdächtig. Inzwischen habe ich so meine Zweifel.«

»Darf ich mir seine Akte ansehen? Und auch ihre, falls Sie die noch haben?«, erkundigt sich Scarpetta.

»Ihre habe ich nicht griffbereit, weil sie schon so lange tot ist. Aber in seine können Sie einen Blick werfen. Warten Sie hier, ich hole sie. Sie liegt auf meinem Schreibtisch.« Als er aufsteht und die Küche verlässt, wirken seine Bewegungen langsamer als zuvor, und er macht einen erschöpften Eindruck.

Scarpetta schaut aus dem Fenster und beobachtet, wie ein blauer Eichelhäher ein Vogelhäuschen plündert, das am kahlen Ast einer Eiche hängt. Er wirkt wie ein blau gefiedertes Wutbündel, und das Vogelfutter fliegt in alle Richtungen, als er sich darüber hermacht, bis er sich schließlich mit einem Schwirren seiner blauen Schwingen abstößt und verschwindet. Edgar Allan Pogue könnte ungeschoren davonkommen. Fingerabdrücke beweisen nicht viel, und man wird Art und Ursache der Todesfälle in Zweifel ziehen. Unmöglich zu sagen, wie viele Menschen er auf dem Gewissen hat. Und sie muss sich jetzt darüber Gedanken machen, was er getrieben hat, als er noch für sie tätig war. Was hat er in den unterirdischen Räumen angestellt? Sie sieht ihn in seinem Arbeitsanzug vor sich. Damals war er blass und mager. Sie weiß noch, wie sich sein bleiches Gesicht ihr zuwandte und er ihr verstohlene Blicke zuwarf, wenn sie aus dem grässlichen Lastenaufzug stieg, um sich mit Dave zu unterhalten. Der konnte Edgar Allan nicht leiden und hat sicher keine Ahnung, wo er stecken mag.

Wegen der bedrückenden Atmosphäre dort unten ist Scarpetta so selten wie möglich in die Anatomie gegangen. Außerdem bekam die Abteilung so geringe staatliche Mittel und derart wenig Geld von den Universitäten, die die Leichen anforderten, dass für die Würde der Toten nicht mehr viel getan werden konnte. Das Krematorium war ständig defekt. In einer Ecke lehnten Baseballschläger, denn wenn die Verbrennungsreste aus dem Ofen genommen wurden, mussten einige Knochenfragmente zerschmettert werden, damit sie in die billigen, vom Staat gestellten Urnen passten. Eine Mühle wäre zu teuer gewesen, während ein Baseballschläger sich großartig dazu eignet, Knochenstücke in handliche Teile oder in Pulver zu verwandeln. Scarpetta möchte nicht daran denken, was dort unten vor sich ging. Sie ließ sich in dieser Abteilung nur blicken, wenn es nicht anders ging, und machte einen großen Bogen um das Krematorium, um die Baseballschläger nicht sehen zu müssen.

Ich hätte eine Mühle kaufen sollen, denkt sie, als sie dasitzt und das leere Vogelhäuschen betrachtet. Ich hätte eine von meinem eigenen Geld anschaffen müssen. Die Baseballschläger hätte ich nie erlauben dürfen. Inzwischen würde ich sie verbieten.

»Hier«, sagt Dr. Philpott. Er kehrt in die Küche zurück und reicht ihr eine dicke Akte, auf der in Druckbuchstaben Pogues Name steht. »Ich muss mich jetzt um meine Patienten kümmern. Aber ich komme später nochmal zu Ihnen.«

Offen gestanden hatte Scarpetta von Anfang an eine Abneigung gegen die Anatomie. Sie ist forensische Pathologin und Anwältin, nicht Inhaberin eines Bestattungsunternehmens. Stets ging sie davon aus, dass die Toten in der Anatomie ihr nichts mitzuteilen hatten, weil sich um ihr Ableben kein Geheimnis rankte. Falls es so etwas wie einen friedlichen Tod gibt, war er bei diesen Menschen eingetreten. Scarpettas Mission hingegen sind diejenigen Toten, die nicht friedlich aus dem Leben geschieden sind. Und da sie nicht mit den Leichen in den Wannen sprechen wollte, hat sie den unterirdischen Teil ihrer Welt damals gemieden. Sie hat um die Leute, die dort arbeiteten, sowie um die Verstorbenen einen Bogen gemacht. Sie wollte sich nicht mit Dave oder mit Edgar Allan abgeben. Nein, auf keinen Fall. Wenn rosafarbene Leichen an Winden und Ketten hochgezogen wurden, wollte sie nicht dabei sein.

Ich hätte aufmerksamer sein müssen, denkt sie, während sie vom Kaffee ein saures Gefühl im Magen hat. Ich hätte mehr tun können. Bedächtig studiert sie Pogues Krankenakte. Ich hätte eine Mühle anschaffen sollen, sagt sie sich erneut, während sie nachsieht, welche Adresse Pogue angegeben hat. Laut Akte hat er bis 1996 in Ginter Park im Norden der Stadt gewohnt und dann ein Postfach als Adresse genannt. In seiner Akte steht nirgends, wo er seit 1996 wohnt, und sie fragt sich, ob er damals in das Haus hinter dem Gartenzaun der Paulssons eingezogen ist. In Mrs. Arnettes Haus. Vielleicht hat er sie ja auch umgebracht und anschließend ihr Haus benutzt.

Eine Meise landet auf dem Vogelhäuschen vor dem Fenster. Scarpetta beobachtet sie, während ihre Hand reglos auf Pogues Akte ruht. Sonnenlicht streift warm die linke Seite ihres Gesichts, als sie zusieht, wie der kleine graue Vogel mit funkelnden Augen und zuckendem Schwanz das Futter aufpickt. Ihr ganzes Berufsleben lang ist sie vor den Bemerkungen geflohen, die unwissende Menschen über Ärzte machen, deren Patienten tot sind. Sie sei morbide veranlagt. Sie sei seltsam und komme mit den Lebenden nicht zurecht. Forensische Pathologen seien Eigenbrötler, schrullig, kalt und bar jeglichen Mitgefühls, da sie als Ärzte, Väter, Mütter, Liebhaber und Menschen versagt hätten.

Wegen solcher Vorurteile unwissender Menschen hat sie die dunklen Seiten ihres Berufs ignoriert, und sie möchte das auch weiterhin tun. Sie versteht Edgar Allan Pogues Schrulligkeit. Auch wenn sie nicht so empfindet wie er, kann sie sie nachvollziehen. Sie sieht sein bleiches Gesicht und die verstohlenen Blicke in ihre Richtung, und sie erinnert sich an den Tag, als sie Lucy einmal mit nach unten nahm. Ihre Nichte verbrachte die Weihnachtsferien bei ihr und begleitete sie gern ins Büro. Da Scarpetta an diesem Tag etwas mit Dave zu besprechen hatte, kam sie mit in die Anatomie. Und sie benahm sich – typisch Lucy – wild, ungebärdig und pietätlos. Irgendetwas ist an besagtem Tag geschehen. Was war es nur?

Die Meise pickt das Futter auf und beobachtet Scarpetta unentwegt durch die Scheibe. Als sie die Kaffeetasse hebt, flattert der Vogel davon. Fahles Sonnenlicht spiegelt sich in der weißen Tasse, die das Wappen des Medical College of Virginia trägt. Scarpetta steht von Dr. Philpotts Küchentisch auf und wählt Marinos Mobilfunknummer.

»Ja«, meldet er sich.

»Er kommt nicht mehr nach Richmond«, sagt sie. »Er ist schlau genug, um zu wissen, dass wir ihn suchen. Außerdem eignet sich Florida großartig für Lungenkranke.«

»Dann sollte ich besser bald hinfliegen. Was ist mit dir?«

»Ich muss noch etwas erledigen, dann bin ich fertig mit dieser Stadt.«

»Brauchst du meine Hilfe?«

»Nein danke«, erwidert sie.

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