44

Am nächsten Morgen um zehn schlendert Lucy im Raum umher, greift hier und da nach einer Zeitschrift und gibt sich ungeduldig und gelangweilt. Sie hofft, dass der Helikopterpilot, der neben dem Fernseher sitzt, endlich aufsteht und zu seinem Termin geht oder einen wichtigen Anruf bekommt und verschwindet. Dabei durchquert sie das Wohnzimmer des Hauses neben dem Krankenhauskomplex und bleibt vor einem Fenster mit alter, geschwungener Scheibe stehen, um die Barre Street und die historischen Gebäude dort zu betrachten. Die Touristen werden erst im Frühling in Charleston einfallen; im Moment ist draußen kaum jemand zu sehen.

Vor etwa einer Viertelstunde hat Lucy an der Tür geklingelt. Eine mollige ältere Frau hat sie hereingelassen und ins Wartezimmer geführt, das gleich neben der Eingangstür liegt und in den Glanzzeiten des Hauses vermutlich ein Empfangssalon war. Dann hat ihr die Frau ein Formular von der Bundesbehörde für Flugsicherung gegeben und sie gebeten, es auszufüllen. Es ist das gleiche Formular, das Lucy im letzten Jahrzehnt alle zwei Jahre ausgefüllt hat. Anschließend ist die mollige Assistentin über eine lange Treppe aus poliertem Holz entschwunden. Lucys Formular liegt auf dem Couchtisch. Sie hat mit dem Ausfüllen begonnen, aber dann damit aufgehört. Sie nimmt eine andere Zeitschrift vom Tisch, wirft einen Blick darauf und legt sie zurück auf den Stapel, während der Hubschrauberpilot sein Formular bearbeitet und sie hin und wieder ansieht.

»Ich möchte Ihnen ja keine Vorschriften machen«, meint er freundlich. »Aber Dr. Paulsson hat es gar nicht gerne, wenn man drankommt und das Formular noch nicht fertig ausgefüllt ist.«

»Also kennen Sie sich hier schon aus«, sagt Lucy und setzt sich. »Dieser verdammte Papierkrieg. Daran bin ich schon immer gescheitert. Als wir in der Schule die Formulare durchgenommen haben, habe ich wohl gefehlt.«

»Ich kann die Dinger auch nicht ausstehen«, stimmt der Helikopterpilot zu. Er ist jung und durchtrainiert und hat kurz geschorenes dunkles Haar und dicht beieinander stehende dunkle Augen. Als er sich vor ein paar Minuten vorgestellt hat, hat er erklärt, er flöge Black Hawks für die Nationalgarde und Jet Rangers bei einer Charterfirma. »Das letzte Mal habe ich vergessen, das Kästchen für Allergien anzukreuzen, weil ich dagegen Spritzen bekomme. Meine Frau hat eine Katze, und deshalb musste ich mit den Spritzen anfangen. Sie haben so prima gewirkt, dass ich meine Allergien ganz vergessen habe, und der Computer hat meinen Antrag rausgeschmissen.«

»Es ist zum Kotzen«, erwidert Lucy. »Ein Fehler, und der Computer macht einem monatelang das Leben zur Hölle.«

»Diesmal habe ich eine Durchschrift des alten Formulars mitgebracht«, verkündet er und hält einen gefalteten gelben Zettel hoch. »Damit ich auch alle Fragen identisch beantworte. Das ist der Trick. Aber an Ihrer Stelle würde ich das Formular ausfüllen. Wenn Sie ohne ausgefülltes Formular reingehen, wird ihm das gar nicht gefallen.«

»Ich habe mich verschrieben«, antwortet Lucy und greift nach ihrem Formular. »Und die Stadt in die falsche Zeile eingetragen. Ich muss noch einmal von vorne anfangen.«

»Oh, oh.«

»Wenn die Dame zurückkommt, bitte ich sie um ein neues Formular.«

»Sie arbeitet schon seit einer Ewigkeit hier«, meint der Helikopterpilot.

»Woher wissen Sie das?«, erkundigt sich Lucy. »Sie sind doch viel zu jung, um beurteilen zu können, ob jemand schon seit einer Ewigkeit hier arbeitet.«

Er grinst und fängt an, ein wenig mit ihr zu flirten. »Sie wären überrascht, was ich schon alles gesehen habe. Wo fliegen Sie denn? Ich habe Sie noch nie hier gesehen. Und Sie haben es mir noch nicht verraten. Ihr Fliegeroverall sieht nicht nach Militär aus. Zumindest nicht nach einer Waffengattung, die ich kenne.«

Ihr Fliegeroverall ist schwarz und trägt auf einer Schulter die amerikanische Flagge. Auf der anderen prangt ein ungewöhnlicher Aufnäher in Blau und Gold, den sie selbst entworfen hat und der von einem Adler umgeben wird, den Sterne zieren. Auf ihrem ledernen Namensschild steht »P. W. Winston«. Es ist mit Klettband befestigt, sodass sie es je nach Situation auswechseln kann. Da ihr leiblicher Vater Kubaner war, kann sich Lucy als Latina, Italienerin oder Portugiesin ausgeben, ohne sich dafür schminken zu müssen. Heute, in Charleston, South Carolina, ist sie nichts weiter als eine hübsche weiße Frau mit einem leichten Südstaatenakzent, der ihrer sonst unauffälligen Aussprache eine reizende Note verleiht.

»Ich bin lizenzierte Pilotin gemäß Vorschrift Nummer 91«, antwortet sie. »Der Typ, für den ich fliege, hat einen Bell Textron 430.«

»So ein Glückspilz«, erwidert der Pilot beeindruckt. »Der muss ganz schön Kohle haben. Der Bell Textron 430 ist ein toller Vogel. Was halten Sie vom Sichtwinkel? Haben Sie lange gebraucht, um sich dran zu gewöhnen?«

»Ich finde ihn prima«, entgegnet sie und wünscht, er würde den Mund halten. Obwohl sie den ganzen Tag lang über Helikopter fachsimpeln könnte, möchte sie momentan lieber herausfinden, wie und wo sie Frank Paulssons Haus am besten verwanzen kann.

Die mollige Assistentin, die Lucy ins Wartezimmer geführt hat, kehrt zurück und fordert den Piloten auf, sie zu begleiten. Sie verkündet, Dr. Paulsson habe jetzt Zeit für ihn, und fragt, ob er sein Formular vollständig und korrekt ausgefüllt habe.

»Falls Sie mal bei Mercury Air vorbeikommen: Wir haben ein Büro im Hangar, das Sie schon vom Parkplatz aus sehen. Ich habe dort eine Harley Softail stehen«, meint er zu Lucy.

»Ein Mann nach meinem Geschmack«, sagt sie von ihrem Sessel aus. »Ich brauche ein neues Formular«, wendet sie sich dann an die Assistentin. »Ich habe mich verschrieben.«

Die Frau blickt sie argwöhnisch an. »Tja, lassen Sie mich sehen, was sich tun lässt. Aber werfen Sie das alte nicht weg, sonst bringen Sie die Seriennummern durcheinander.«

»Ja, Ma’am. Es liegt hier auf dem Tisch.« Zu dem Piloten meint sie: »Ich habe meine Harley Sportster gerade gegen eine V-Rod eingetauscht. Sie ist noch nicht mal eingefahren.«

»Du meine Güte! Ein Bell Textron 430 und eine V-Rod. Genau meine Kragenweite«, gibt er bewundernd zurück.

»Vielleicht machen wir mal zusammen eine Spazierfahrt. Viel Glück mit der Katze.«

Er lacht auf. Sie hört, wie er die Treppe hinaufgeht und dabei der verbiesterten molligen Assistentin erklärt, dass sich seine Frau von Anfang an geweigert habe, ihre Katze wegzugeben. Das Tier schlafe bei ihr im Bett, worauf er früher in den unpassendsten Momenten Hautausschläge bekommen habe. Lucy hat die untere Etage mindestens eine Minute lang für sich, zumindest so lange, wie die Assistentin braucht, um ein neues Formular zu holen und wieder ins Wartezimmer zu kommen. Sie zieht Baumwollhandschuhe an und wischt hastig jede Zeitschrift im Raum ab, die sie angefasst hat.

Die erste Wanze, die sie anbringt, hat die Größe einer Zigarettenkippe. Es ist ein drahtloser Mikrofon-Audiotransmitter, den sie selbst in einer wasserdichten, unauffälligen grasgrünen Plastikröhre verpackt hat. Eigentlich sollte eine Wanze so getarnt sein, dass man sie mit einem anderen Gegenstand verwechselt, aber manchmal ist es das beste, wenn man sie einfach gar nicht sieht. Lucy versteckt das grüne Röhrchen in dem bunten Keramiktopf der üppig grünen Seidenpflanze auf dem Couchtisch. Dann schleicht sie in den hinteren Teil des Hauses und versenkt eine weitere unsichtbare Wanze in einer anderen Seidenpflanze, die auf einem Tisch in der Wohnküche steht. Die Schritte der Assistentin sind auf der Treppe zu hören.

Загрузка...