24

Er sitzt, die aufgeschlagene Zeitung auf dem Schoß, in seinem Wohnzimmer, als er die Müllabfuhr hört.

Der Motor weist das typische Dieseltuckern auf, und wenn der Müllwagen am Ende der Auffahrt hält, kommt zu dem brummenden Vibrieren noch das Surren der hydraulischen Hebevorrichtung hinzu. Mülltonnen stoßen krachend an die Metallverkleidung des riesigen Müllwagens. Dann knallen die Müllmänner die leeren Tonnen schlampig wieder in die Einfahrt, und der Lastwagen rumpelt weiter die Straße entlang.

Dr. Marcus sitzt in dem riesigen Ledersessel in seinem Wohnzimmer. Ihm ist schwindelig, er ringt nach Atem, und sein Herz klopft vor Angst, während er abwartet. In Westham Green, gleich westlich von Henrico County, einem von Angehörigen der oberen Mittelschicht bewohnten Viertel, wo auch er sein Haus hat, wird der Müll montags und donnerstags gegen halb neun abgeholt. An diesen beiden Tagen kommt Dr. Marcus stets zu spät zur Mitarbeiterbesprechung, und es ist gar nicht so lange her, dass er, wenn der große Lastwagen mit den großen, finsteren Männern erschien, gar nicht zur Arbeit gegangen ist.

Inzwischen nennen sie sich Entsorgungsspezialisten, nicht mehr Müllmänner, aber der Name spielt keine Rolle. Auch nicht, welche Bezeichnung für die großen dunklen Männer mit der großen dunklen Kleidung und den großen Lederhandschuhen heutzutage politisch korrekt ist. Dr. Marcus hat eine Todesangst vor Müllmännern und ihren Lastwagen, eine Phobie, die seit seinem Umzug hierher vor vier Monaten stärker geworden ist. An den Tagen, an denen der Müll abgeholt wird, verlässt er erst das Haus, wenn der Lastwagen und die Männer da waren und wieder verschwunden sind. Seit er zu einem Psychiater in Charlottesville geht, hat es sich ein wenig gebessert.

Dr. Marcus sitzt auf dem Ledersessel und wartet darauf, dass sein Herz langsamer schlägt, Schwindel und Übelkeit nachlassen und seine Nerven keine Überreizungssignale mehr aussenden. Dann steht er, immer noch in Pyjama und Hauspantoffeln, auf. Es ist zwecklos, dass er sich anzieht, bevor die Müllabfuhr da war, denn während er sich das abscheuliche dunkle Grollen und das laute metallische Geklapper des großen Lastwagens mit den großen dunklen Männern vorstellt, schwitzt er so stark, dass er patschnass ist und vor Kälte zittert, wenn sie endlich wieder weg sind. Dr. Marcus geht über die Eichenbohlen seines Wohnzimmers und wirft durch das Fenster einen Blick auf die grünen Plastikmülleimer, die schief an der Ecke seiner Auffahrt stehen. Dann lauscht er auf den grässlichen Lärm, um sich zu vergewissern, dass der Lastwagen nirgendwo in der Nähe ist oder vielleicht sogar zurückkommt, obwohl er die Route der Müllfahrer in diesem Viertel kennt.

Inzwischen stoppt und startet der Lastwagen schon einige Straßen weiter, damit die Männer hinauf- und herunterspringen können, um die Tonnen auszuleeren. So arbeiten sie sich weiter voran, bis sie in die Patterson Avenue einbiegen. Wie es danach weitergeht, weiß Dr. Marcus nicht, und es interessiert ihn auch herzlich wenig, solange sie nur weg sind. Er starrt durch das Fenster auf seine schief stehenden Mülltonnen und kommt zu dem Schluss, dass draußen noch immer Gefahr droht.

Da er sich noch nicht bereit fühlt, das Haus zu verlassen, begibt er sich stattdessen ins Schlafzimmer, um sich zu vergewissern, dass die Alarmanlage eingeschaltet ist. Dann zieht er den nassen Pyjama aus und stellt sich unter die Dusche. Nach kurzer Zeit, als er sich sauber und aufgewärmt fühlt, zieht er sich fürs Büro an, dankbar, dass der Anfall vorbei ist. Er gibt sich Mühe, nicht daran zu denken, was passieren könnte, falls er einmal ohne Vorwarnung in der Öffentlichkeit so einen Anfall kriegt. Nein, so weit wird es schon nicht kommen. Solange er zu Hause oder in der Nähe seines Büros ist, kann er die Tür schließen und unbehelligt abwarten, bis der Sturm vorüber ist.

In der Küche nimmt er eine orangefarbene Tablette. An diesem Vormittag hat er bereits eine Klonopin und ein Antidepressivum geschluckt, doch er nimmt noch einmal 0,5 Milligramm Klonopin. In den letzten Monaten hat er die Dosis auf drei Milligramm erhöht, und er ist gar nicht glücklich darüber, von Benzodiazepinen abhängig zu sein. Sein Psychiater in Charlottesville meint, er solle sich nicht den Kopf darüber zerbrechen. Solange Dr. Marcus keinen Alkohol trinkt oder andere Drogen nimmt – und das tut er nicht –, kann ihm das Klonopin nicht schaden. Besser, er schluckt Klonopin, als dass er von seinen Panikattacken so außer Gefecht gesetzt wird, dass er sich nur noch im Haus verkriecht, seinen Job verliert oder sich blamiert, was er sich einfach nicht leisten kann. Anders als Scarpetta ist er nicht wohlhabend, und die Demütigungen, die sie einfach so wegzustecken scheint, könnte er niemals ertragen. Bevor er ihr Nachfolger als Chefpathologe von Virginia geworden ist, brauchte er weder Klonopin noch Antidepressiva, doch inzwischen leidet er laut seinem Psychiater an einer co-morbiden Störung, was bedeutet, dass er jetzt nicht nur eine Störung hat, sondern gleich zwei. In St. Louis ist er auch manchmal der Arbeit ferngeblieben und nur selten gereist, aber es war zu schaffen. Das Leben vor Scarpetta war erträglich.

Im Wohnzimmer betrachtet er wieder die großen grünen Mülltonnen durch das Fenster und lauscht nach dem großen Lastwagen und den Männern darauf. Aber er hört nichts. Nachdem er seinen alten grauen Wollmantel und ein altes Paar schwarzer Handschuhe aus Schweinsleder angezogen hat, hält er an der Tür inne, um festzustellen, wie er sich fühlt. Da alles in Ordnung scheint, schaltet er die Alarmanlage ab und öffnet die Tür. Dann eilt er raschen Schrittes seine Auffahrt entlang und hält in beide Richtungen nach dem Lastwagen Ausschau. Aber er kann nichts feststellen und fühlt sich gut, als er die Tonnen neben die Garage rollt, wo sie hingehören.

Er kehrt ins Haus zurück und zieht Mantel und Handschuhe aus. Inzwischen ist er schon viel ruhiger und beinahe glücklich. Während er sich gründlich die Hände wäscht, muss er an Scarpetta denken, und er fühlt sich entspannt und in bester Stimmung, weil er seinen Willen durchsetzen wird. All die Monate hat er nur »Scarpetta hier«, »Scarpetta da« gehört und konnte dem, weil er sie nicht kannte, nichts entgegensetzen. Als der Gesundheitsminister sagte: »Es wird schwierig, wenn nicht gar unmöglich für Sie werden, in ihre Fußstapfen zu treten, und einige Leute werden Sie wahrscheinlich nur deshalb nicht respektieren, weil Sie nicht sie sind«, hat Dr. Marcus nichts darauf erwidert. Was hätte er auch sagen sollen? Er kannte sie ja nicht.

Als die Gouverneurin so gnädig war, Dr. Marcus nach seiner Ernennung in ihr Büro auf einen Kaffee einzuladen, musste er absagen. Sie hatte den Termin auf Montagmorgen festgesetzt, und das ist genau die Zeit, in der in Westham Green der Müll abgeholt wird. Natürlich konnte er ihr den Grund für seine Absage nicht nennen, es ging eben nicht, war absolut unmöglich. Er weiß noch, wie er in seinem Wohnzimmer saß, auf den großen Lastwagen mit den großen Männern lauschte und sich fragte, wie sein zukünftiges Leben in Virginia wohl aussehen würde, nachdem er eine Einladung zum Kaffee bei der Gouverneurin abgesagt hatte. Außerdem ist sie eine Frau und achtet ihn vermutlich ohnehin nicht, weil er weder weiblich noch Scarpetta ist.

Dr. Marcus ist nicht sicher, ob die neue Gouverneurin zu Scarpettas Bewunderern gehört, aber er nimmt es an. Er hatte keine Ahnung, was ihm bevorstand, als er den Posten des Chefpathologen annahm und von St. Louis hierher zog. Er hat eine Behörde voller weiblicher Pathologen und Ermittler zurückgelassen, die alle über Scarpetta im Bilde waren. Sie sagten ihm, er habe großes Glück, ihre Stelle zu ergattern, da Virginia ihr die beste Pathologie in den gesamten Vereinigten Staaten zu verdanken habe. Ein Jammer, dass sie mit dem damaligen Gouverneur nicht zurechtgekommen sei, sodass der sie schließlich gefeuert habe. Die Frauen in seinem Büro haben ihn dazu ermuntert, Scarpettas Stelle zu übernehmen.

Sie wollten ihn loswerden. Das ist ihm schon damals klar gewesen. Und sie konnten beim besten Willen nicht verstehen, warum man sich in Virginia ausgerechnet für einen angepassten, unpolitischen Menschen ohne eigenes Profil wie ihn interessierte. Er wusste genau, was seine Mitarbeiterinnen damals über ihn sagten. Sie tuschelten und befürchteten, dass es mit seiner Ernennung nicht klappen könnte, sodass sie ihn weiter auf dem Hals haben würden. Davon ist er überzeugt.

Also ist er nach Virginia gezogen, und es dauerte keinen Monat, bis er Schwierigkeiten mit der Gouverneurin bekam, und das alles nur wegen der Müllabfuhr in Westham Green. Er gibt Scarpetta die Schuld daran. Sie ist dafür verantwortlich, dass ein Fluch auf ihm lastet. Ständig muss er sich Geschichten über sie und das Gejammer anhören, weil er nicht sie ist. Kaum hatte er seinen Posten angetreten, hat er schon angefangen, sie und alles, was sie geleistet hat, zu hassen. Er ist ein Meister darin geworden, seine Verachtung zu zeigen, indem er alles verschlampen lässt, was für ihn im Zusammenhang mit Scarpetta steht, sei es nun ein Bild, eine Pflanze, ein Buch, das Verhältnis zu seinen Mitarbeitern oder ein toter Patient, dem es zu Scarpettas Zeiten als Chefin sicher besser ergangen wäre. Zu beweisen, dass sie ein Mythos, eine Hochstaplerin und eine Versagerin ist, ist bei ihm zur fixen Idee geworden. Allerdings konnte er eine Wildfremde nicht demontieren, ja, nicht einmal etwas Negatives über sie sagen, weil er sie nicht kannte.

Dann starb Gilly Paulsson, und ihr Vater schaltete den Gesundheitsminister ein, der sich wiederum sofort an die Gouverneurin wandte. Diese ihrerseits verständigte den Leiter des FBI, da sie Vorsitzende eines landesweiten Anti-Terror-Komitees ist und Frank Paulsson Verbindungen zum Ministerium für Heimatschutz hat. Schließlich musste man sichergehen, dass die kleine Gilly nicht von irgendwelchen Feinden der amerikanischen Regierung umgebracht wurde.

Das FBI kam rasch zu dem Schluss, dass man die Angelegenheit näher unter die Lupe nehmen müsse, und mischte sich sofort in die Angelegenheiten der örtlichen Polizei ein, bis die rechte Hand nicht mehr wusste, was die linke tat. So landeten einige Beweisstücke in hiesigen Labors und andere in Labors des FBI, während manche Indizien gar nicht erst sichergestellt wurden. Dr. Paulsson wollte nicht, dass Gillys Leiche freigegeben wurde, bevor alle Fakten bekannt waren. Und zu allem Überfluss wurde das Durcheinander noch von Dr. Paulssons zerrütteter Beziehung zu seiner geschiedenen Frau vergrößert. Irgendwann war die Untersuchung des Todes einer unbedeutenden Vierzehnjährigen dann derart verkompliziert und politisch überfrachtet, dass Dr. Marcus nichts anderes übrig blieb, als den Gesundheitsminister selbst um Rat zu fragen.

»Wir müssen einen anerkannten Berater hinzuziehen«, erwiderte der Gesundheitsminister. »Bevor wir noch mehr Probleme bekommen.«

»Wir haben doch so schon genug Ärger«, gab Dr. Marcus zurück. »Sobald die Polizei von Richmond erfuhr, dass das FBI mit von der Partie ist, hat sie ihre Mitarbeit eingestellt und ist in Deckung gegangen. Und um die Sache noch zu verschlimmern, wissen wir nicht, woran das Mädchen eigentlich gestorben ist. Ich halte die Todesumstände für verdächtig, aber wir kennen die genaue Ursache nicht.«

»Also brauchen wir einen Berater. Sofort. Jemand, der nicht von hier ist und der zur Not die Kastanien für uns aus dem Feuer holt. Wenn die Gouverneurin wegen dieses Falles Schwierigkeiten auf Bundesebene kriegt, werden Köpfe rollen, und meiner ist dann bestimmt nicht der einzige, Joel.«

»Was ist mit Dr. Scarpetta?«, schlug Dr. Marcus vor, und er war damals selbst überrascht, wie schnell und spontan ihm ihr Name über die Lippen kam.

»Ausgezeichnete Idee. Und ziemlich schlau«, entgegnete der Gesundheitsminister. »Kennen Sie sie persönlich?«

»Ich werde sie wohl bald kennen lernen«, sagte Dr. Marcus, und es erstaunte ihn selbst, was für ein brillanter Stratege er war.

Bis zu diesem Augenblick hätte er diese Fähigkeit nie an sich vermutet, doch da er Scarpetta nie kritisiert hatte – da er sie ja nicht kannte –, fand es niemand merkwürdig, dass er sie als Beraterin vorschlug. So rief er sie sofort, nämlich vorgestern, an. Er sagte sich voller Ingrimm, dass er Scarpetta bald gegenüberstehen würde, o ja. Und dann würde er sie abkanzeln, demütigen und so richtig mit ihr Schlitten fahren.

Er plant, ihr für alles, was im Fall Gilly Paulsson und in seiner Behörde schief gelaufen ist, sowie auch für mögliche zukünftige Ereignisse die Schuld in die Schuhe zu schieben. Dann wird die Gouverneurin gewiss vergessen, dass Dr. Marcus ihre Einladung zum Kaffee abgelehnt hat. Sollte sie ihn wieder fragen und den Termin auf einen Montag- oder Donnerstagmorgen festsetzen, wird Dr. Marcus ihr erklären, dass um diese Zeit die Mitarbeiterbesprechung in seinem Büro stattfindet, bei der er unbedingt den Vorsitz führen muss. Deshalb wäre er der Gouverneurin sehr dankbar, wenn sie die Einladung verschieben würde. Keine Ahnung, warum ihm das nicht schon beim ersten Mal eingefallen ist, doch nun weiß er, was er sagen wird.

Dr. Marcus greift zum Wohnzimmertelefon und schaut aus dem Fenster, erleichtert, dass er in den nächsten drei Tagen nicht mehr an die Müllabfuhr wird denken müssen. Er fühlt sich ausgezeichnet, als er ein kleines schwarzes Adressbuch durchblättert, das er schon so lange besitzt, dass die Hälfte der Namen und Telefonnummern darin durchgestrichen ist. Er wählt eine Nummer, blickt aus dem Fenster, sieht einen alten blauen Chevrolet Impala vorbeifahren und erinnert sich daran, dass seine Mutter während seiner Kindheit in Charlottesville jeden Winter mit ihrem weißen Impala am Fuße desselben Hügels im Schnee stecken geblieben ist.

»Scarpetta«, meldet sie sich am Mobiltelefon.

»Dr. Marcus hier«, erwidert er in seinem geschliffenen, befehlsgewohnten, verbindlichen Tonfall, einer von vielen Nuancen, die er beherrscht und unter denen er frei wählen kann.

»Ja«, sagt sie. »Guten Morgen. Ich hoffe, Dr. Fielding hat Sie bereits über unsere zweite Untersuchung von Gilly Paulsson informiert.«

»Ich fürchte, ja. Er hat mich von Ihrer Meinung in Kenntnis gesetzt«, entgegnet er, betont dabei die Wörter Ihrer Meinung und bedauert es, ihre Reaktion nicht sehen zu können. So würde sich ein gerissener Verteidiger ausdrücken, während ein Staatsanwalt vermutlich Ihre Schlussfolgerungen sagen würde, um auszudrücken, dass er die Erfahrung des Experten schätzt. Ihre Meinung hingegen ist nichts weiter als eine verdeckte Beleidigung.

»Ich frage mich, ob Sie schon von den Spuren gehört haben«, fährt er fort und denkt dabei an die gestrige E-Mail von Junius Eise, der sich wie immer im Ton vergriffen hat.

»Nein«, entgegnet sie.

»Es ist wirklich recht außergewöhnlich«, sagt er bedeutungsschwanger. »Deshalb findet ja auch die Sitzung statt.« Obwohl Dr. Marcus diese Sitzung bereits gestern anberaumt hat, informiert er sie erst jetzt. »Ich würde mich freuen, wenn Sie heute Vormittag um halb zehn zu mir ins Büro kämen.« Er beobachtet, wie der alte blaue Impala zwei Häuser weiter in eine Auffahrt einbiegt, und fragt sich, warum der Wagen dort hält und wem er wohl gehört.

Scarpetta zögert, als ob dieser kurzfristige Termin ihr nicht ins Konzept passen würde. »Natürlich. In einer halben Stunde bin ich da«, antwortet sie dann.

»Darf ich fragen, was Sie gestern Nachmittag gemacht haben? Ich habe Sie gar nicht im Büro gesehen«, sagt er und schaut zu, wie eine alte schwarze Frau aus dem blauen Impala steigt.

»Papierkram und jede Menge Telefonate. Warum? Hätten Sie etwas gebraucht?«

Dr. Marcus fühlt sich ein wenig schwindelig, während sein Blick weiter auf der alten schwarzen Frau und dem blauen Impala ruht. Die große Scarpetta fragt ihn, ob er etwas gebraucht hat, als wäre sie seine Untergebene. Aber zurzeit arbeitet sie ja auch für ihn, so schwer vorstellbar das sein mag.

»Im Moment brauche ich nichts von Ihnen«, sagt er. »Wir sehen uns bei der Sitzung.« Er hängt auf, und es bereitet ihm eine große Befriedigung, ein Telefonat mit Scarpetta einfach so abzubrechen.

Die Absätze seiner altmodischen schwarzen Schnürschuhe klappern auf den Eichendielen, als er in die Küche geht und eine zweite Kanne koffeinfreien Kaffee aufsetzt. Die erste Kanne hat er zum Großteil ins Spülbecken geschüttet, weil er vor lauter Angst vor dem Müllwagen und den Männern den Kaffee völlig vergessen hatte, bis er anfing, angebrannt zu riechen. Nachdem er die Kaffeemaschine eingeschaltet hat, kehrt er ins Wohnzimmer zurück, um den Impala weiter zu beobachten.

Durch das Fenster, an dem sein großer Lieblingssessel aus Leder steht und durch das er immer hinausschaut, sieht er der alten schwarzen Frau zu, die Einkaufstüten aus dem Kofferraum des Impala hebt. Offenbar die Haushälterin, denkt er. Und es ärgert ihn, dass eine schwarze Haushälterin den gleichen Wagen fährt wie seine Mutter während seiner Kindheit. Früher war das einmal ein schickes Auto. Nicht jeder hatte einen weißen Impala mit einem blauen Streifen an der Seite, und er war stolz darauf, mit Ausnahme der Male, die der Wagen am Fuße des Hügels im Schnee stecken blieb. Seine Mutter war keine gute Fahrerin. Eigentlich hätte sie dieses Auto gar nicht fahren dürfen. Der Impala ist nach einer afrikanischen Antilope benannt, die große Sprünge machen kann und ziemlich scheu ist. Seine Mutter war schon schreckhaft genug, wenn sie zu Fuß ging. Sie gehörte nicht hinters Steuer eines Fahrzeugs, das nach einer kräftigen, scheuen Antilopenart benannt ist.

Die Bewegungen der alten Haushälterin sind bedächtig, als sie die Plastiktüten aus dem Kofferraum des Impala hebt und langsam und steifbeinig vom Auto zu einer Seitentür des Hauses geht. Dann kehrt sie wieder zum Impala zurück, um weitere Tüten zu holen, und stößt die Wagentür mit der Hüfte zu. Früher war das einmal ein schickes Auto, denkt Dr. Marcus und starrt aus dem Fenster. Der Impala der Haushälterin hat sicher schon seine vierzig Jahre auf dem Buckel und scheint gut in Schuss zu sein. Er weiß nicht, wann er zuletzt einen Impala Baujahr 63 oder 64 gesehen hat. Dass er heute einen zu Gesicht kriegt, deutet er als wichtiges Zeichen, von dem er allerdings nicht weiß, was es bedeutet. Also geht er wieder in die Küche, um sich einen Kaffee zu holen. Wenn er sich noch zwanzig Minuten Zeit lässt, sind seine Ärzte bei seiner Ankunft mit Autopsien beschäftigt, und er wird mit niemandem reden müssen. Während er wartet, wird sein Puls wieder schneller, und seine Nerven sprühen Funken.

Zuerst schiebt er sein Herzrasen und das Zittern und Zucken auf die winzige Spur Koffein im entkoffeinierten Kaffee, aber er hat doch erst ein paar Schlucke getrunken und ahnt, dass etwas anderes dahinter steckt. Je länger er den Impala auf der anderen Straßenseite beobachtet, desto nervöser und aufgeregter wird er, und er wünscht, die Haushälterin wäre nicht ausgerechnet heute hier erschienen, während er wegen der Müllabfuhr zu Hause ist. Er kehrt ins Wohnzimmer zurück, lässt sich in seinem großen Ledersessel nieder, lehnt sich zurück und versucht, sich zu entspannen. Sein Herz klopft so heftig, dass er sieht, wie die Vorderseite seines weißen Hemdes sich bewegt; er holt tief Luft und schließt die Augen.

Seit vier Monaten wohnt er jetzt schon hier, ohne dass ihm der Impala jemals aufgefallen wäre. Er stellt sich das schmale blaue Lenkrad ohne Airbag vor. Dann das blaue Armaturenbrett auf der Beifahrerseite, das nicht gepolstert ist und ebenfalls nicht über einen Airbag verfügt. Die alten blauen Sicherheitsgurte führen nicht um die Schultern herum, sondern nur um das Becken. Als er sich das Innere des Impala ausmalt, ist es nicht mehr der Wagen auf der anderen Straßenseite, sondern der weiße mit dem blauen Streifen an der Seite, den seine Mutter gefahren hat. Der Kaffee ist vergessen und erkaltet auf dem Tisch neben dem Ledersessel, während er mit geschlossenen Augen dasitzt. Einige Male steht Dr. Marcus auf und schaut aus dem Fenster, und als er den blauen Impala nicht mehr sieht, schaltet er die Alarmanlage ein, schließt das Haus ab und geht in die Garage. Kurz schießt ihm der ängstliche Gedanke durch den Kopf, dass der Impala vielleicht gar nicht existiert und nie da war. Doch er war da, natürlich war er das.

Einige Minuten später fährt er langsam seine Straße entlang, bleibt vor dem Haus einige Türen weiter stehen und starrt auf die leere Auffahrt, wo er gerade den blauen Impala und die alte schwarze Haushälterin mit ihren Einkaufstüten gesehen hat. Er sitzt in seinem Volvo, der bei nahezu allen Sicherheitstests als Sieger abgeschnitten hat, betrachtet die leere Auffahrt, biegt schließlich ein und steigt aus. In seinem langen grauen Mantel, dem grauen Hut und den schwarzen Handschuhen aus Schweinsleder, die er schon vor seiner Zeit in St. Louis bei kaltem Wetter getragen hat, sieht er zwar altmodisch, aber gepflegt aus. Er weiß, dass er einen seriösen Eindruck macht, als er die Klingel betätigt. Er wartet kurz, läutet noch einmal, und die Tür geht auf.

»Ja, bitte?«, fragt die Frau, die die Tür geöffnet hat. Sie ist etwa Mitte fünfzig und trägt einen Jogginganzug und Tennisschuhe. Sie erscheint ihm vertraut, ist höflich, aber nicht unbedingt freundlich.

»Ich bin Joel Marcus«, sagt er mit seiner verbindlichen Stimme. »Ich wohne gegenüber und habe zufällig vorhin einen sehr alten blauen Impala in Ihrer Auffahrt gesehen.« Er bereitet sich innerlich schon auf die Ausflucht vor, er habe sich vermutlich im Haus geirrt, nur für den Fall, dass sie antwortet, sie wisse nichts über einen sehr alten blauen Impala.

»Ach, Mrs. Walker. Sie hat dieses Auto schon seit einer Ewigkeit und würde ihn niemals gegen einen nagelneuen Cadillac eintauschen«, erwidert die Nachbarin, die ihm irgendwie bekannt vorkommt, zu seiner Erleichterung lächelnd.

»Ich verstehe«, sagt er. »Ich war nur neugierig. Ich sammle nämlich alte Autos.« Er sammelt zwar keine Autos, weder alte noch sonst welche, aber er hat sich den Impala nicht eingebildet. Gott sei Dank. Natürlich nicht.

»Tja, auf den werden Sie in Ihrer Sammlung wohl verzichten müssen«, gibt sie fröhlich zurück. »Mrs. Walker liebt dieses Auto … Ich glaube, wir sind uns noch nicht vorgestellt worden, obwohl ich natürlich weiß, wer Sie sind. Sie sind der neue Chefpathologe und haben den Posten dieser berühmten Pathologin übernommen. Wie war noch mal ihr Name? Ich war ziemlich erschrocken und enttäuscht, dass sie Virginia den Rücken gekehrt hat. Was ist eigentlich aus ihr geworden? Ach, Sie stehen ja immer noch in der Kälte herum. Wo habe ich nur meine Manieren? Möchten Sie nicht hereinkommen? Sie war auch eine sehr attraktive Frau. Oh, wie hieß sie nur?«

»Ich muss leider los«, erwidert Dr. Marcus in einer anderen Stimme, die steif und barsch klingt. »Ich fürchte, ich komme zu spät zu einem Termin mit der Gouverneurin«, lügt er, ohne mit der Wimper zu zucken.

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