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Draußen liegt eine dicke Schneeschicht auf den Zweigen der schwarzen Fichte und in den Astgabeln der Espen. Durch ihr Zimmerfenster im zweiten Stock hört Lucy das Knirschen von Skistiefeln unten auf dem vereisten Gehweg. Das Hotel St. Regis ist ein ausladender Backsteinbau, der sie an einen kauernden Drachen am Fuße des Berges Ajax erinnert. Die Seilbahn fährt so früh am Morgen noch nicht, doch die Menschen sind bereits auf den Beinen. Die Berge verstellen der Sonne den Weg, und die Morgendämmerung ist ein blaugrauer Schatten. Nichts ist zu hören bis auf die knirschenden Schritte der Skifahrer auf dem Weg zu den Pisten und Bussen.

Nach ihrem verrückten Marsch auf der Maroon Creek Road am gestrigen Nachmittag sind Benton und Lucy zu ihren Autos zurückgekehrt und auf getrennten Wegen zurückgefahren. Er war von Anfang an dagegen gewesen, dass sie nach Aspen kam. Er hatte auch nie die Absicht, sich Henri, die er kaum kennt, ins Haus zu holen. Aber so ist es nun mal im Leben: Es steckt voller merkwürdiger und unangenehmer Überraschungen. Henri ist hier. Und Lucy ebenfalls. Also hat Benton zu Lucy gesagt, sie könne aus naheliegenden Gründen nicht bei ihm wohnen. Er möchte nicht, dass sie die Fortschritte stört, die er vielleicht, wenn überhaupt, mit Henri macht. Doch heute wird Lucy sie sehen, wenn es Henri in den Kram passt. Inzwischen sind zwei Wochen vergangen, und Lucy hält die Schuldgefühle und die unbeantworteten Fragen nicht mehr aus. Ganz gleich, was für ein Mensch Henri auch sein mag, Lucy muss selbst dahinterkommen.

Als der Morgen heller wird, gewinnt alles, was Benton getan und gesagt hat, an Klarheit. Erst hat er Lucy in die dünne Luft hinaufgejagt, sodass sie nicht genug Puste hatte, um zu früh zu viel auszusprechen oder ihre Angst und Wut auszutoben. Anschließend hat er sie einfach ins Bett geschickt. Sie ist kein Kind mehr, auch wenn er sie gestern so behandelt hat. Aber sie weiß, dass sie ihm wichtig ist; das hat sie schon immer gewusst. Er ist immer gut zu ihr gewesen, selbst als sie ihn gehasst hat.

Sie wühlt aus ihrer Reisetasche eine Skihose aus Stretchmaterial, einen Pullover, lange Seidenunterwäsche und Socken hervor und legt sie aufs Bett neben die Neun-Millimeter-Glock mit der Tritium-Visierung und den Magazinen, die siebzehn Kugeln fassen. Sie benutzt diese Waffe, wenn sie davon ausgeht, sich in einem geschlossenen Raum verteidigen zu müssen, also eine Pistole braucht, die aus nächster Nähe wirksam ist, und wenn Durchschlagskraft nicht gefragt ist. Schließlich möchte sie nicht mit .40- oder .45-kalibrigen Geschossen in einem Hotelzimmer herumballern. Sie hat sich noch nicht überlegt, was sie zu Henri sagen will und was sie bei ihrem Anblick empfinden wird.

Erwarte nichts Gutes, denkt sie. Rechne nicht damit, dass sie sich freut, dich zu sehen, oder dass sie nett und freundlich zu dir ist. Lucy setzt sich aufs Bett, zieht die Jogginghose aus und zerrt sich das T-Shirt über den Kopf. Vor dem Spiegel, der bis zum Boden reicht, bleibt sie stehen und betrachtet sich, um sicherzugehen, dass Alter und Schwerkraft noch nicht ihren Tribut gefordert haben. Das haben sie nicht, was auch kein Wunder ist, denn sie hat ihren dreißigsten Geburtstag noch vor sich.

Ihr Körper ist muskulös und mager, aber nicht knabenhaft. Eigentlich hat sie keinen Grund, über ihr Aussehen zu klagen, doch sie wird stets von einem merkwürdigen Gefühl ergriffen, wenn sie sich selbst im Spiegel sieht. Ihr Körper wird ihr dann fremd und unterscheidet sich äußerlich von dem, was sie innerlich ist. Sie fühlt sich eigentlich nicht unattraktiv, sondern einfach nur anders. Und ihr schießt der Gedanke durch den Kopf, dass sie nie erfahren wird, wie ein Gegenüber wohl ihren Körper und ihre Berührung empfindet, ganz gleich, wie oft sie mit ihm ins Bett geht. Einerseits würde sie es gerne wissen, andererseits ist sie froh über ihre Ahnungslosigkeit.

Dein Aussehen ist in Ordnung, denkt sie, während sie vom Spiegel zurückweicht. Dein Aussehen genügt vollkommen, sagt sie sich, als sie in die Dusche steigt. Dein Aussehen wird heute nicht die geringste Rolle spielen. Du wirst heute niemanden anfassen, hält sie sich vor Augen und dreht das Wasser an. Morgen auch nicht. Oder übermorgen. »Mein Gott, was soll ich nur tun?«, fragt sie sich laut, während das heiße Wasser heftig gegen Marmorfliesen und Glastür und gegen ihre Haut prasselt. Was habe ich getan, Rudy? Was habe ich getan? Bitte verlass mich nicht. Ich schwöre, dass ich mich ändern werde.

Fast ihr halbes Leben lang hat sie heimlich in Duschen geweint. Als sie beim FBI anfing, war sie noch eine Schülerin, die dank ihrer einflussreichen Tante in den Sommerferien Jobs und Praktika bekam. Sie war eigentlich noch viel zu jung, um in Quantico in einem Schlafsaal zu leben, Waffen abzufeuern und sich mit Agents, die nie in Panik gerieten oder weinten, durch Hindernisparcours zu kämpfen. Zumindest hat sie sie nie panisch oder weinend gesehen und deshalb angenommen, dass sie es auch nie waren. Damals hat sie noch viele Mythen geschluckt, weil sie jung, leichtgläubig und voller Ehrfurcht war. Inzwischen weiß sie es vielleicht besser, doch die Programmierung der frühen Jahre ist nicht mehr rückgängig zu machen. Wenn sie weint, was sie nur selten tut, weint sie allein. Und wenn sie Schmerzen hat, verheimlicht sie es.

Sie ist schon fast angezogen, als ihr die Stille auffällt. Leise vor sich hin fluchend und plötzlich hektisch, kramt sie aus einer Tasche ihrer Skijacke das Mobiltelefon hervor. Der Akku ist leer. Gestern Abend war sie zu müde und unglücklich, um an ihr Telefon zu denken. Sie hat es in der Tasche vergessen, was ihr bis jetzt noch nie passiert ist. Rudy weiß nicht, wo sie ist. Ihre Tante ebenso wenig. Da sie beide den falschen Namen, unter dem sie abgestiegen ist, nicht kennen, würden sie sie auch nicht finden, wenn sie es im St. Regis versuchten. Benton ist als Einziger im Bilde. Es ist unfair und unprofessionell, Rudy so auszuschließen, und er wird sicher wütend auf sie sein. Ausgerechnet jetzt darf sie ihn nicht noch mehr verärgern. Was ist, wenn er kündigt? Keinem ihrer Mitarbeiter vertraut sie so sehr wie ihm. Sie nimmt das Ladegerät, steckt das Telefon hinein und schaltet es ein. Sie hat elf Nachrichten. Die meisten davon wurden um sechs Uhr morgens Ostküstenzeit hinterlassen und stammen von ihm.

»Ich dachte schon, du wärst vom Erdboden verschluckt worden«, lauten Rudys erste Worte. »Seit drei Stunden versuche ich, dich zu erreichen. Was machst du bloß? Sag jetzt nicht, das Telefon funktioniert nicht. Das würde ich dir nicht glauben. Es funktioniert überall, und ich habe es auch über Funk probiert. Du hattest das Scheißding abgeschaltet, stimmt’s?«

»Beruhige dich, Rudy«, erwidert sie. »Mein Akku war leer. Telefon und Funkgerät funktionieren nicht ohne Akku. Entschuldige.«

»Hast du kein Ladegerät dabei?«

»Ich habe mich entschuldigt, Rudy.«

»Tja, ich habe ein paar Informationen. Wäre gut, wenn du so schnell wie möglich zurückkommst.«

»Was ist los?« Lucy setzt sich neben der Steckdose, in die ihr Telefon eingestöpselt ist, auf den Boden.

»Leider bist du nicht die Einzige, die ein kleines Geschenk bekommen hat. Eine bedauernswerte alte Frau hat auch eine Bombe von Pogue gekriegt, und sie hatte weniger Glück als du.«

»Mein Gott«, sagt Lucy und schließt die Augen.

»Sie ist Kellnerin in einer Kaschemme in Hollywood, gleich gegenüber von einer Shell-Tankstelle. Und weißt du was? Dort gibt es Halb-Liter-Becher, auf denen die Katze mit Hut abgebildet ist. Das Opfer hat ziemlich schwere Verbrennungen erlitten, wird aber durchkommen. Offenbar war Pogue Gast in dem Laden, in dem sie arbeitet, der Other Way Lounge. Sagt dir das was?«

»Nein«, antwortet Lucy mit fast unhörbarer Stimme und denkt an die Frau mit den Brandverletzungen. »O mein Gott«, murmelt sie.

»Wir befragen gerade sämtliche Anwohner. Ich habe ein paar von unseren Leuten losgeschickt, aber keinen von den Neuen. Die sind nämlich nicht sehr hell.«

»Mein Gott«, wiederholt sie nur. »Klappt denn überhaupt nichts mehr?«

»Allmählich bessert sich die Lage. Ach, da wären noch zwei Dinge. Deine Tante meint, dass Pogue möglicherweise eine Perücke trägt, und zwar eine mit langen schwarzen Locken. Gefärbtes menschliches Haar. Die Mitochondrien-DNS sieht da sicher ziemlich komisch aus und lässt sich vermutlich auf irgendeine Nutte zurückverfolgen, die ihr Haar an einen Perückenmacher verhökert hat, um sich Crack zu kaufen.«

»Was sagst du da? Eine Perücke?«

»Edgar Allan Pogue ist rothaarig. Deine Tante hat rote Haare im Bett seines Hauses gefunden, das heißt, in dem Haus in Richmond, wo er gewohnt hat. Eine Perücke könnte die Erklärung für die langen, gewellten gefärbten Haare sein, die in Gilly Paulssons Bettwäsche, in deinem Schlafzimmer und auch an dem Isolierband der Bombe in deinem Briefkasten entdeckt wurden. Nach Ansicht deiner Tante würde eine Perücke auch viele andere Fragen beantworten. Außerdem suchen wir sein Auto. Offenbar hat die alte Frau, die verstorbene Bewohnerin des Hauses, in dem er sich versteckt hatte, einen weißen 91er Buick gefahren. Niemand hat eine Ahnung, was nach ihrem Tod aus dem Wagen geworden ist. Die Familie hat sich nicht darum gekümmert. Scheint so, als wäre die Frau selbst ihnen auch egal gewesen. Wir glauben, dass Pogue diesen Buick benutzt, der immer noch auf Mrs. Arnette zugelassen ist. Es wäre gut, wenn du so bald wie möglich zurückkommst. Allerdings solltest du besser nicht bei dir zu Hause übernachten.«

»Keine Sorge«, erwidert sie. »In dieses Haus setze ich keinen Fuß mehr.«

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