Es ist halb zwölf, als Scarpetta Marino am Mietwagen auf dem Parkplatz ihrer ehemaligen Wirkungsstätte trifft. Die dunklen Wolken erinnern sie an Fäuste, die zornig im Himmel geschüttelt werden. Immer wieder schlüpft die Sonne zwischen ihnen hindurch, und plötzliche Windböen zerren an Scarpettas Kleidern und Haaren.
»Kommt Fielding mit?«, fragt Marino, während er den Geländewagen aufschließt. »Ich nehme an, du möchtest, dass ich fahre. Irgendein Schwein hat sie also festgehalten und erstickt. So ein Dreckskerl. Ein junges Mädchen umzubringen. Der Typ muss ganz schön kräftig gebaut gewesen sein, um sie so festzuhalten, dass sie sich nicht rühren konnte. Meinst du nicht?«
»Fielding kommt nicht mit. Du darfst fahren. Wenn man keine Luft mehr kriegt, gerät man in Panik und schlägt wie wild um sich. Also brauchte der Täter nicht kräftig gebaut zu sein, nur groß und stark genug, um sie fest nach unten zu drücken. Wahrscheinlich handelt es sich um eine mechanische Asphyxie, nicht um Ersticken.«
»Und das Gleiche müsste man auch mit diesem Arschloch machen, wenn man ihn erst mal erwischt. Ein paar Kleiderschränke von Gefängniswärtern sollten sich auf seine Brust setzen, bis ihm die Luft wegbleibt, damit er mal sieht, wie schön das ist.« Sie steigen ein, und Marino lässt den Motor an. »Ich melde mich freiwillig. Ich bin sofort dabei. Mein Gott, so etwas einem Kind anzutun.«
»Verschieben wir das Thema ›Legt sie alle um, und überlasst den Rest dem lieben Gott‹ auf später«, unterbricht sie ihn. »Wir haben viel zu tun. Was weißt du über ihre Mutter?«
»Da Fielding nicht mitkommt, nehme ich an, dass du sie angerufen hast.«
»Ich habe ihr erklärt, dass wir mit ihr reden wollen, mehr nicht. Sie war am Telefon ein bisschen seltsam und glaubt allen Ernstes, Gilly wäre an der Grippe gestorben.«
»Wirst du ihr die Wahrheit sagen?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Tja, eines steht zumindest fest. Das FBI wird sich vor Begeisterung überschlagen, wenn es erfährt, dass du wieder Hausbesuche machst, Doc. Die krallen sich nämlich am liebsten Fälle, die sie nichts angehen, und könnten dir die Einmischung übel nehmen.« Er schmunzelt und fährt im Schritttempo über den überfüllten Parkplatz.
Scarpetta ist die Meinung des FBI herzlich gleichgültig. Sie betrachtet ihr früheres Gebäude, das den Namen Biotech II trug, die klaren grauen Linien, abgesetzt mit dunkelrotem Klinker, und die überdachte Zufahrt zur Leichenhalle, die sie an ein weißes, seitlich herausragendes Iglu erinnert. Jetzt, da sie wieder hier ist, fühlt sie sich, als wäre sie nie weggewesen. Sie empfindet es gar nicht als seltsam, dass sie unterwegs zum Fundort einer Leiche – aller Wahrscheinlichkeit auch einem Tatort – in Richmond, Virginia, ist. Und wie das FBI, Dr. Marcus oder sonst jemand ihre Hausbesuche beurteilt, interessiert sie nicht.
»Ich habe den Eindruck, auch dein Freund Dr. Marcus wird vor Freude ganz aus dem Häuschen sein«, fügt Marino spöttisch hinzu, als könnte er ihre Gedanken lesen. »Hast du ihm schon verraten, dass Gilly ermordet worden ist?«
»Nein«, erwidert sie.
Sie hat sich die Mühe gespart, Dr. Marcus erreichen oder ihm etwas mitteilen zu wollen, nachdem sie mit Gilly Paulsson fertig war, alles sauber gemacht, wieder ihren Hosenanzug angezogen und sich noch einige Proben unter dem Mikroskop angesehen hatte. Fielding kann Dr. Marcus die Fakten erläutern und ihm ausrichten, dass sie ihn gerne später informieren wird und dass er sie, wenn nötig, auf dem Mobiltelefon anrufen kann. Aber Dr. Marcus wird sich nicht melden. Er möchte so wenig wie möglich mit dem Fall Gilly Paulsson zu tun haben. Wie Scarpetta inzwischen glaubt, ist er schon vor seinem Anruf bei ihr in Florida zu dem Schluss gekommen, dass ihm der Tod dieses vierzehnjährigen Mädchens nur Ärger einbringen wird und dass es deshalb für ihn am ratsamsten ist, sich einen Sündenbock zu suchen. Und wem ließe sich die Schuld besser in die Schuhe schieben als seiner umstrittenen Vorgängerin Kay Scarpetta, die sich so vorzüglich als Blitzableiter eignet? Vermutlich hat er schon von Anfang an den Verdacht gehabt, dass Gilly Paulsson ermordet wurde. Und er hat aus irgendwelchen Gründen entschieden, sich nicht die Hände mit dem Fall schmutzig zu machen.
»Wer ist der zuständige Detective?«, fragt Scarpetta Marino, während sie darauf warten, dass der Verkehr, der vom Highway I-95 abbiegt, an der Fourth Street an ihnen vorbeirollt. »Jemand, den wir kennen?«
»Nein. Er war zu unserer Zeit noch nicht da.« Marino entdeckt eine Lücke, startet durch und schießt auf die rechte Spur. Seit er wieder in Richmond ist, hat er zu seinem alten Fahrstil zurückgefunden, den er sich in seinen Anfangsjahren bei der New Yorker Polizei angewöhnt hat.
»Weißt du etwas über ihn?«
»Genug.«
»Wie ich annehme, wirst du die Baseballkappe den ganzen Tag über aufbehalten«, meint sie.
»Warum nicht? Oder hast du eine bessere für mich? Außerdem wird es Lucy freuen, zu hören, dass ich ihre Kappe trage. Wusstest du, dass die Polizeizentrale umgezogen ist? Sie ist nicht mehr in der Ninth Street, sondern in der Nähe des Jefferson Hotel im alten Farm Bureau Building. Abgesehen davon hat sich bei der Polizei nichts geändert, bis auf die Lackierung der Streifenwagen und dass sie hier jetzt auch Baseballkappen tragen dürfen wie in New York.«
»Vermutlich werden diese Kappen uns alle überleben.«
»Genau. Also hör auf, an meiner rumzumeckern.«
»Wer hat dir eigentlich erzählt, dass sich das FBI eingeschaltet hat?«
»Der Detective. Er heißt Browning und macht einen ganz vernünftigen Eindruck. Allerdings hat er noch nicht viel Erfahrung mit Mordfällen, und die, mit denen er bis jetzt zu tun hatte, fallen eher in die Kategorie Stadterneuerung: Ein Arschloch knallt ein anderes Arschloch ab.« Marino klappt einen Notizblock auf und wirft einen Blick darauf, während er quer durch die Stadt zur Broad Street fährt. »Am Donnerstag, dem 4. Dezember, wurde er verständigt, weil das Opfer beim Eintreffen des Krankenwagens bereits tot war. Er fuhr zu der Adresse im Fan, zu der wir gerade auf dem Weg sind, drüben, wo früher das Stuart Circle Hospital stand, bevor sie es in sündhaft teure Eigentumswohnungen umgewandelt haben. Wusstest du das? Es ist passiert, als du schon nicht mehr hier warst. Würdest du in einem ehemaligen Krankenhauszimmer wohnen wollen? Nein, danke.«
»Hast du eine Ahnung, was das FBI will, oder machst du es absichtlich so spannend?«, fragt sie.
»Richmond hat es hinzugezogen. Das ist einer der vielen Aspekte dieses Falles, die für mich keinen Sinn ergeben. Ich begreife einfach nicht, warum die Polizei von Richmond das FBI gebeten hat, seine Nase reinzustecken, oder warum das FBI überhaupt bereit dazu war.«
»Was meint Browning dazu?«
»Für ihn hat der Fall keine große Priorität. Er glaubt, das Mädchen wäre an irgendeiner Art von Krampfanfall gestorben.«
»Da irrt er sich aber gewaltig. Und was ist mit der Mutter?«
»Sie ist ein wenig seltsam. Dazu komme ich noch.«
»Und der Vater?«
»Geschieden, wohnt in Charleston, South Carolina. Er ist Arzt. Wirklich absurd, findest du nicht? Ein Arzt weiß doch genau, wie es in einem Leichenschauhaus so zugeht, und dann lässt er sein kleines Mädchen zwei Wochen lang in einem Leichensack dort herumliegen, weil er und seine Frau sich nicht einigen können, wer für die Beerdigung zuständig ist, wo die Kleine beigesetzt werden soll und was es sonst noch für Hickhack gibt.«
»An deiner Stelle würde ich ziemlich bald rechts in die Grace abbiegen«, sagt Scarpetta. »Und dann geht es nur noch geradeaus.«
»Ich danke dir, Magellan. Ich bin jahrelang in dieser Stadt herumgefahren. Wie habe ich das nur geschafft, ohne dass du mich lotst?«
»Ich kann mir sowieso nicht vorstellen, wie du überlebst, wenn ich nicht in deiner Nähe bin. Erzähl mir mehr über Browning. Wie war die Situation, als er bei den Paulssons ankam?«
»Das Mädchen lag auf dem Rücken im Bett. Es trug einen Pyjama. Die Mutter war hysterisch, wie du dir ja sicher vorstellen kannst.«
»War sie zugedeckt?«
»Die Decke war zurückgeschlagen und hing auf den Boden hinunter. Die Mutter hat Browning erklärt, sie hätte das Mädchen so vorgefunden, als sie vom Drugstore nach Hause kam. Aber sie leidet an Gedächtnisschwund, wie du vermutlich weißt. Ich glaube, dass sie lügt.«
»In welcher Hinsicht?«
»Ich bin nicht sicher. Das schließe ich nur aus Brownings Schilderung am Telefon. Wenn ich sie persönlich kennen lerne, mache ich mir selbst ein Bild.«
»Was ist mit Hinweisen auf einen möglichen Einbruch?«, erkundigt sich Scarpetta. »Gibt es welche?«
»Offenbar nichts, was Browning aufgefallen wäre. Wie ich schon sagte, nimmt er die Sache auf die leichte Schulter. Das ist nie ein gutes Zeichen, denn wenn der Detective kein großes Interesse zeigt, werden die Leute von der Spurensicherung ebenfalls nachlässig. Wo soll man anfangen, nach Fingerabdrücken zu suchen, wenn man nicht an einen Einbruch glaubt?«
»Jetzt erzähle mir bloß nicht, das hätten sie nicht getan.«
»Wie ich bereits sagte, mache ich mir selbst ein Bild, wenn ich dort gewesen bin.«
Inzwischen befinden sie sich in dem Bezirk, der Fan District heißt. Das Viertel wurde kurz nach dem Bürgerkrieg eingemeindet und irgendwann wegen seiner Form »Fan« – Fächer – genannt. Seine schmalen, gewundenen Straßen enden plötzlich ohne ersichtlichen Grund und tragen Obstnamen wie Strawberry, Cherry oder Plum. Die meisten Einfamilien- und Reihenhäuser wurden restauriert und verströmen mit ihren großzügig geschnittenen Veranden, den klassischen Säulen und den schmiedeeisernen Verzierungen wieder den Charme vergangener Zeiten. Das Haus der Paulssons ist nicht so schmuck und verspielt wie die anderen, sondern ein bescheidenes Gebäude mit klaren Linien, einer schlichten Backsteinfassade, einer Veranda, die sich über die gesamte Vorderfront erstreckt, und einem Schieferdach mit vorgetäuschter Mansarde, das Scarpetta an einen Schlapphut erinnert.
Marino parkt vor dem Haus neben einem dunkelblauen Minivan, und sie steigen aus. Der Gartenweg, den sie entlanggehen, ist mit Backsteinen gepflastert, alt und an manchen Stellen glatt und abgetreten. Es ist später Vormittag und bewölkt, und Scarpetta wäre nicht überrascht, wenn es gleich zu schneien beginnen würde. Allerdings hofft sie, dass sie von überfrierendem Regen verschont bleiben. Diese Stadt hat sich nie an das unwirtliche Winterwetter gewöhnt, und sobald auch nur das Wort »Schnee« fällt, stürmen die Bewohner von Richmond die Supermärkte und Lebensmittelläden. Die Stromleitungen verlaufen überirdisch und werden meist in Mitleidenschaft gezogen, wenn gewaltige alte Bäume umstürzen oder im heftigen Sturm und unter zu schwer gewordenen Eisschichten abknicken. Deshalb schickt Scarpetta ein Stoßgebet zum Himmel, dass es keinen überfrierenden Regen geben wird, solange sie in der Stadt ist.
Der Türklopfer aus Messing hat die Form einer Ananas. Marino betätigt ihn dreimal. Das laute, scharfe Pochen lässt sie zusammenzucken und wirkt angesichts des Grundes für ihren Besuch ein wenig pietätlos. Rasche Schritte sind zu hören, dann schwingt die Tür weit auf. Die Frau, die vor ihnen steht, ist klein und mager. Ihr Gesicht ist aufgequollen, als ob sie nicht genug isst, dafür aber reichlich trinkt und viel geweint hat. Unter besseren Umständen könnte man sie als hübsch bezeichnen, wenn auch auf eine billige, blondierte Art.
»Kommen Sie rein«, sagt sie mit verstopfter Nase. »Ich bin erkältet, aber es ist nicht ansteckend.« Ihr Blick aus verschwollenen Augen richtet sich auf Scarpetta. »Aber das muss ich einer Ärztin ja nicht erklären. Ich nehme an, dass Sie die Ärztin sind, mit der ich gerade gesprochen habe.« Wie sollte es auch anders sein, denn Marino ist ein Mann in schwarzem Kampfanzug und mit LAPD-Baseballkappe.
»Ich bin Dr. Scarpetta.« Sie hält ihr die Hand hin. »Das mit Gilly tut mir sehr Leid.«
Helle Tränen schimmern in Mrs. Paulssons Augen.
»Kommen Sie schon rein. In letzter Zeit habe ich den Haushalt ein bisschen schleifen lassen. Ich habe gerade Kaffee gekocht.«
»Klingt gut«, erwidert Marino und stellt sich vor. »Detective Browning hat mit mir gesprochen. Doch ich dachte, wir machen uns besser selbst ein Bild, wenn Ihnen das recht ist.«
»Wie möchten Sie Ihren Kaffee?«
Marino ist vernünftig genug, ihr nicht seine Standardantwort zu geben: Wie meine Frauen, süß und weiß.
»Schwarz ist in Ordnung«, sagt Scarpetta. Sie folgen Mrs. Paulsson einen Flur mit altem Dielenfußboden entlang. Rechts liegt ein gemütliches kleines Wohnzimmer mit dunkelgrünen Ledermöbeln und Kamingerätschaften aus Messing. Links befindet sich ein steif möblierter, formeller Salon, der unbenutzt wirkt. Im Vorbeigehen schlägt Scarpetta daraus die Kälte entgegen.
»Darf ich Ihnen die Mäntel abnehmen?«, fragt Mrs. Paulsson. »Typisch für mich. An der Tür rede ich von Kaffee, und nach Ihren Mänteln frage ich erst, wenn Sie schon in der Küche stehen. Kümmern Sie sich nicht darum. Ich bin zurzeit nicht auf dem Damm.«
Nachdem sie aus den Mänteln geschlüpft sind, hängt Mrs. Paulsson diese an hölzernen Haken in der Küche auf. Scarpetta bemerkt einen hellroten handgestrickten Schal an einem der Haken und überlegt aus irgendeinem Grund, ob er vielleicht Gilly gehört hat. Die Küche ist in den letzten Jahrzehnten nicht modernisiert worden; der Boden hat ein altmodisches schwarz-weißes Schachbrettmuster, und die Geräte sind alt und weiß. Durch das Fenster sieht man einen kleinen Garten mit einem Holzzaun. Dahinter befindet sich ein niedriges Schieferdach mit fehlenden Pfannen. Es ist mit Moos bewachsen, und die Dachrinnen sind mit Laub verstopft.
Mrs. Paulsson schenkt Kaffee ein. Dann setzen sie sich an einen Holztisch an das Fenster, das Blick auf den Zaun und das bemooste Dach bietet. Scarpetta fällt auf, wie sauber und ordentlich die Küche ist. Töpfe und Pfannen hängen an Eisenhaken über einem Metzgerblock. Abtropfbrett und Spüle sind leer und fleckenlos. Sie bemerkt eine Flasche Hustensaft auf der Anrichte neben einem Papierhandtuchspender. Es ist ein nicht verschreibungspflichtiger Hustensaft mit Schleimlöser. Scarpetta trinkt ihren schwarzen Kaffee.
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, sagt Mrs. Paulsson. »Eigentlich habe ich auch gar keine Ahnung, wer Sie sind. Detective Browning hat mich heute Morgen angerufen, erklärt, Sie seien Experten von außerhalb, und mich gebeten, zu Hause zu sein. Dann haben Sie sich gemeldet.« Sie sieht Scarpetta an.
»Also hat Browning Sie angerufen«, meint Marino.
»Er war wirklich nett.« Sie betrachtet Marino und scheint etwas an ihm interessant zu finden. »Keine Ahnung, warum all diese Leute … Tja, vermutlich weiß ich nicht allzu viel.« Wieder steigen ihr Tränen in die Augen. »Ich sollte dankbar sein. Nicht auszudenken, wie es wäre, wenn einem so etwas zustößt und niemand kümmert sich darum.«
»Alle sind sehr betroffen«, erwidert Scarpetta. »Deshalb sind wir ja hier.«
»Wo wohnen Sie?« Sie starrt weiter Marino an, greift nach ihrer Tasse, trinkt einen Schluck und mustert ihn dabei eindringlich.
»In Südflorida, ein Stück nördlich von Miami«, antwortet Marino.
»Ach, ich dachte, Sie wären vielleicht aus Los Angeles«, entgegnet sie, und ihr Blick wandert zu seiner Kappe.
»Wir haben Geschäftsverbindungen nach L.A.«, sagt Marino.
»Es ist erstaunlich«, fährt sie fort, wirkt aber gar nicht erstaunt. Allmählich erahnt Scarpetta eine andere Seite an Mrs. Paulsson, ein Geschöpf, das sprungbereit in ihr lauert. »Das Telefon läutet ununterbrochen. So viele Reporter, so viele Leute.« Sie dreht sich auf ihrem Stuhl um und deutet auf die Vorderseite des Hauses. »In riesigen Übertragungswagen mit Parabolantennen, oder wie die Dinger sonst heißen. Eigentlich ist es ja pietätlos. Aber die FBI-Agentin, die letztens hier war, meinte, es läge daran, dass niemand weiß, was Gilly zugestoßen ist. Sie sagte, es sei nicht so schlimm, wie es sich anhört, was immer das auch bedeuten mag. Sie habe schon viel schrecklichere Dinge gesehen, aber das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Vielleicht hat sie ja die Medien gemeint«, erwidert Scarpetta mitfühlend.
»Was könnte schrecklicher sein als das, was mit meiner Gilly passiert ist?«, fragt Mrs. Paulsson und wischt sich die Augen ab.
»Was, glauben Sie, ist ihr denn passiert?«, erkundigt sich Marino und streicht mit dem Daumen über den Rand seiner Kaffeetasse.
»Sie ist an der Grippe gestorben«, antwortet Mrs. Paulsson. »Gott hat sie zu sich geholt. Warum, kann ich nicht sagen. Ich wünschte, jemand würde es mir erklären.«
»Es gibt Leute, die nicht so sicher sind, dass es die Grippe war«, entgegnet Marino.
»Mein kleines Mädchen lag mit Grippe im Bett. In diesem Jahr sind viele Menschen an der Grippe gestorben.« Sie sieht Scarpetta an.
»Mrs. Paulsson«, beginnt Scarpetta. »Ihre Tochter ist nicht an der Grippe gestorben. Ich bin sicher, dass man Ihnen das bereits mitgeteilt hat. Sie haben doch mit Dr. Fielding gesprochen, richtig?«
»Oh, ja. Wir haben miteinander telefoniert, kurz nachdem es passiert ist.« Sie bricht in Tränen aus. »Gilly hatte vierzig Grad Fieber und erstickte fast vor Husten, als ich losgegangen bin, um neuen Hustensaft zu holen. Länger war ich nicht weg. Ich bin nur zum Drugstore in der Cary Street gefahren, um Hustensaft zu kaufen.«
Wieder wandert Scarpettas Blick zu der Flasche auf der Anrichte. Sie denkt an die Proben, die sie in Fieldings Büro betrachtet hat, bevor sie sich auf den Weg zu Mrs. Paulsson machte. Unter dem Mikroskop waren Reste von Fibrin, Lymphozyten und Makrophagen in Teilen des Lungengewebes zu erkennen. Die Alveolen waren frei. Gillys leichte Lungenentzündung, eine bei Grippe häufig auftretende Komplikation, insbesondere bei alten und jungen Menschen, war im Abklingen und nicht schwer genug, um die Lungenfunktion zu beeinträchtigen.
»Mrs. Paulsson, wir können feststellen, ob Ihre Tochter an der Grippe gestorben ist«, entgegnet Scarpetta. Sie möchte nicht ins Detail gehen, wie verhärtet, verklebt, klumpig und entzündet Gillys Lungen gewesen wären, wäre sie an einer akuten Lungenentzündung gestorben. »Hat Ihre Tochter Antibiotika genommen?«
»Oh, ja. In der ersten Woche.« Sie greift nach ihrer Kaffeetasse. »Ich dachte wirklich, dass es ihr schon besser ginge, und habe geglaubt, es wäre nur noch eine Erkältung.«
Marino schiebt seinen Stuhl zurück. »Macht es Ihnen was aus, wenn Sie sich zu zweit weiterunterhalten? Ich würde mich gern ein bisschen umschauen, falls Sie das nicht stört«, meint er.
»Ich weiß nicht, was es hier zu sehen gäbe. Aber nur zu, Sie wären nicht der Erste. Ihr Zimmer ist hinten.«
»Ich finde es schon.« Als er den Raum verlässt, klingen seine Stiefel dumpf auf dem alten Dielenboden.
»Gilly ging es wirklich besser«, bestätigt Scarpetta. »Das hat die Untersuchung ihrer Lunge ergeben.«
»Tja, sie war immer noch schwach und wackelig auf den Beinen.«
»Sie ist nicht an der Grippe gestorben, Mrs. Paulsson«, wiederholt Scarpetta mit Nachdruck. »Es ist wichtig, dass Sie das begreifen. Wenn sie an der Grippe gestorben wäre, säße ich nicht hier. Ich versuche, Ihnen zu helfen, doch dazu müssen Sie mir ein paar Fragen beantworten.«
»Sie klingen nicht, als wären Sie von hier.«
»Ursprünglich aus Miami.«
»Oh, und da wohnen Sie ja immer noch, wenigstens in der Nähe. Ich wollte schon immer mal nach Miami, vor allem wenn das Wetter so trüb ist wie heute.« Sie steht auf, um Kaffee nachzuschenken, und bewegt sich mühsam und steifbeinig zur Kaffeemaschine neben der Hustensaftflasche. Scarpetta stellt sich vor, wie Mrs. Paulsson ihre Tochter bäuchlings aufs Bett drückt, und sie kann diese Möglichkeit nicht ausschließen, auch wenn sie ihr wenig wahrscheinlich vorkommt. Die Mutter wiegt nicht viel mehr als die Tochter, während der Mensch, der Gilly festgehalten hat, um einiges schwerer und stärker gewesen sein muss als sie, um ihre Gegenwehr zu brechen. Sonst hätte sie nämlich schwerere Verletzungen davongetragen. Allerdings könnte Scarpetta auch nicht schwören, dass Mrs. Paulsson Gilly nicht ermordet hat, so gern sie das täte.
»Ich wünschte, ich hätte mit Gilly nach Miami, nach Los Angeles oder in sonst eine tolle Stadt fahren können«, spricht Mrs. Paulsson weiter. »Aber ich habe Flugangst, und im Auto wird mir übel, und deshalb bin ich nie viel gereist. Jetzt bedauere ich, dass ich mir keine größere Mühe gegeben habe, über meinen Schatten zu springen.«
Als sie die Kanne aus der Kaffeemaschine holt, zittert sie in ihrer kleinen, schlanken Hand. Scarpetta betrachtet Mrs. Paulssons Hände und Handgelenke und sucht die unbedeckte Haut nach halb abgeheilten Kratzern, Abschürfungen oder anderen Verletzungen ab. Doch inzwischen sind zwei Wochen vergangen. Sie notiert sich in ihren Block, dass sie sich erkundigen muss, ob Mrs. Paulsson irgendwelche Verletzungen aufwies, als die Polizei sie vernommen hat.
»Ich wünschte, ich hätte es getan. Gilly hätte es in Miami bestimmt gefallen. Die vielen Palmen und die rosa Flamingos«, sagt Mrs. Paulsson.
Am Tisch füllt sie die Tassen nach, und der Kaffee schwappt in der Glaskanne, als sie sie ein wenig zu heftig zurück in die Kaffeemaschine schiebt. »Diesen Sommer sollte sie mit ihrem Vater verreisen.« Erschöpft nimmt sie auf dem ungepolsterten Stuhl aus Eichenholz Platz. »Oder wenigstens eine Weile bei ihm in Charleston verbringen. Sie war auch noch nie in Charleston.« Sie stützt die Ellenbogen auf den Tisch. »Gilly war noch nie am Strand und kennt das Meer nur von Fotos oder aus dem Fernsehen, auch wenn ich sie bloß selten fernsehen ließ. Kann man mir das zum Vorwurf machen?«
»Ihr Vater lebt in Charleston?«, fragt Scarpetta, obwohl sie sehr gut verstanden hat.
»Im letzten Sommer ist er wieder dorthin gezogen. Er ist Arzt und wohnt in einem eleganten Haus direkt am Meer. Es wird sogar in Reiseführern erwähnt, und die Leute bezahlen viel Eintritt, nur um sich seinen Garten anzuschauen. Natürlich kümmert er sich nicht selbst um den Garten, das ist ihm viel zu mühsam. Und wenn ihm etwas zu mühsam ist, stellt er einfach jemanden ein, der ihm die Arbeit abnimmt. Die Beerdigung zum Beispiel. Seine Anwälte tun alles, um mir Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Ich möchte, dass sie in Richmond beigesetzt wird, aber er besteht auf Charleston.«
»Was für ein Arzt ist er denn?«
»Allgemeinmediziner und außerdem Flugarzt. Sie wissen ja, dass es in Charleston einen großen Luftwaffenstützpunkt gibt. Also geht es ihm nicht schlecht. Frank, meine ich.« Sie redet und redet, fast ohne zwischen den Sätzen Luft zu holen, und wiegt sich dabei auf ihrem Stuhl hin und her.
»Mrs. Paulsson, erzählen Sie mir vom Donnerstag, dem 4. Dezember. Fangen Sie mit dem Aufstehen am Morgen an.« Scarpetta weiß, wie das Gespräch enden wird, wenn sie nicht einschreitet: Mrs. Paulsson wird vom Hölzchen aufs Stöckchen kommen, wirklich wichtigen Fragen und Details ausweichen und sich stattdessen weitschweifig über ihren geschiedenen Ehemann beklagen. »Um wie viel Uhr sind Sie an diesem Morgen aufgestanden?«
»Ich stehe immer um sechs auf. Ich brauche keinen Wecker, weil ich eine innere Uhr habe.« Sie berührt ihren Kopf. »Wissen Sie, ich wurde um Punkt sechs Uhr geboren, und deshalb wache ich auch immer um sechs auf …«
»Und dann?« Scarpetta fällt anderen Leuten zwar nur ungern ins Wort, aber wenn sie es nicht tut, wird diese Frau den ganzen Tag lang weiterplappern und auf verschlungenen Pfaden immer weiter vom Thema abkommen. »Dann sind Sie aufgestanden?«
»Aber natürlich. So wie immer. Ich bin sofort in die Küche gegangen und habe Kaffee aufgesetzt. Dann bin ich in mein Schlafzimmer zurückgekehrt und habe eine Weile in der Bibel gelesen. Wenn Gilly Schule hat, schicke ich sie um Viertel nach sieben los, mit geschmierten Pausenbroten und so weiter. Sie fährt bei einer ihrer Freundinnen mit. Ich habe großes Glück, dass sie eine Freundin hat, deren Mutter es nicht stört, sie jeden Morgen mitzunehmen.«
»Donnerstag, der 4. Dezember, vor zwei Wochen«, bringt Scarpetta sie zum Thema zurück. »Sie sind um sechs aufgestanden, haben Kaffee aufgesetzt und sind dann in Ihr Zimmer zurückgekehrt, um die Bibel zu lesen? Und was dann?«, fragt sie, als Mrs. Paulsson bestätigend nickt. »Sie saßen also im Bett und lasen die Bibel. Wie lange?«
»Eine gute halbe Stunde.«
»Haben Sie nach Gilly gesehen?«
»Ich habe zuerst für sie gebetet und habe sie währenddessen einfach schlafen lassen. Dann, so gegen Viertel nach sieben, bin ich in ihr Zimmer. Da lag sie im Bett, die Decke bis zum Kinn hochgezogen, und schlief wie ein Murmeltier.« Sie fängt an zu weinen. »›Gilly‹, sagte ich. ›Meine kleine Gilly. Wach auf, dann bekommst du heiße Weizencreme.‹ Sie schlug die hübschen blauen Augen auf und antwortete: ›Mama, ich habe gestern Nacht so viel gehustet, mir tut die Brust weh.‹ Da habe ich bemerkt, dass der Hustensaft alle war.« Plötzlich hält sie inne und starrt mit weit aufgerissenen, tränennassen Augen ins Leere. »Das Komische war, dass der Hund gebellt und gebellt hat. Ich weiß nicht, warum mir das jetzt erst einfällt.«
»Was für ein Hund? Haben Sie einen Hund?« Scarpetta macht sich zwar Notizen, aber ganz unauffällig. Sie weiß, wie man hinschaut, zuhört und ganz beiläufig ein paar Wörter in einer Handschrift hinkritzelt, die kaum jemand entziffern kann.
»Das ist es ja«, erwidert Mrs. Paulsson. Ihre Stimme kippt um, und ihre Lippen zittern, als sie noch heftiger zu weinen beginnt. »Sweetie ist weggelaufen!« Sie schluchzt lautstark und wiegt sich auf ihrem Stuhl hin und her. »Die kleine Sweetie war draußen im Garten, als ich mit Gilly sprach, und später war sie fort. Die Polizisten oder die Sanitäter haben das Gartentor nicht zugemacht. Als ob es nicht schon schlimm genug wäre. Als ob ich nicht schon so viel ertragen müsste.«
Langsam schließt Scarpetta ihr in Leder gebundenes Notizbuch und legt es mit dem Stift auf den Tisch. »Was für ein Hund ist Sweetie denn?«
»Eigentlich gehörte sie Frank, aber ihm machte sie zu viel Arbeit. Als er gegangen ist, wissen Sie, vor knapp sechs Monaten an meinem Geburtstag – wie kann man einem anderen Menschen so etwas antun? –, hat er gesagt: ›Du behältst Sweetie. Wenn nicht, kommt sie ins Tierheim.‹«
»Was für ein Hund ist Sweetie?«
»Ihn hat der Hund nie interessiert, und wissen Sie, warum? Weil er sich für gar nichts interessiert außer für sich selbst, das ist der Grund. Aber Gilly liebt den Hund, o ja, sie betet ihn richtig an. Wenn sie wüsste …« Tränen laufen ihr die Wangen hinunter, und sie leckt sich mit einer kleinen rosigen Zunge über die Lippen. »Wenn sie es wüsste, es würde ihr das kleine Herz brechen.«
»Mrs. Paulsson, was für ein Hund ist Sweetie? Haben Sie sie als vermisst gemeldet?«
»Gemeldet?« Sie blinzelt, ihr Blick wird für einen Moment klar, und sie lacht fast, als sie hervorstößt: »Wo denn? Bei den Polizisten, die das Tor offen gelassen haben? Tja, ich weiß nicht, ob man das eine Meldung nennen kann, aber ich habe es einem von ihnen erzählt. Ich weiß nicht, wem, einem Polizisten jedenfalls. ›Mein Hund ist weg‹, habe ich gesagt.«
»Wann haben Sie Sweetie zuletzt gesehen? Mrs. Paulsson, ich weiß, wie viel Sie durchgemacht haben, glauben Sie mir. Aber ich würde mich freuen, wenn Sie bitte meine Fragen beantworten könnten.«
»Was geht Sie überhaupt mein Hund an? Ein vermisster Hund ist doch nicht Ihre Sache, außer wenn er tot ist, und selbst dann glaube ich nicht, dass Ärzte wie Sie sich für tote Hunde interessieren.«
»Ich muss sämtliche Begleitumstände in Erwägung ziehen und möchte deshalb alles hören, was Sie wissen.«
In diesem Moment erscheint Marino in der Küchentür. Scarpetta hat seine schweren Schritte gar nicht wahrgenommen. Es überrascht sie immer wieder, wie er es schafft, seine massige Gestalt in den schweren Stiefeln zu bewegen, ohne dass sie ihn hört. »Marino«, sagt sie und sieht ihn an. »Weißt du etwas über den Hund? Ihr Hund ist verschwunden. Sweetie. Sie ist ein …Hilfesuchend blickt sie Mrs. Paulsson an.
»Ein Basset, noch ein Welpe«, schluchzt sie.
»Doc, ich brauche dich kurz«, sagt Marino.