Der Raum für Leichen im fortgeschrittenen Stadium der Verwesung ist ein kleiner Seziersaal, der mit einer Kühlkammer, zwei Waschbecken und Schränken – allesamt aus Edelstahl – und außerdem mit einem speziellen Entlüftungssystem ausgestattet ist, das ekelhafte Gerüche und Mikroorganismen durch eine Abluftanlage entsorgt. Wände und Boden sind mit einem rutschfesten, grauen keimabweisenden Acrylanstrich versehen, der sowohl wisch- als auch desinfektionsmittelfest ist.
Das Mittelstück des Raumes bildet ein transportabler Autopsietisch – eigentlich nicht mehr als ein fahrbares Gestell mit Laufrollen und schwenkbaren Rädern, die Bremsen haben – mit einer Auflage für die Toten, die sich auf Lagern bewegt. All diese modernen Vorrichtungen erfüllen eigentlich den Zweck, dem Menschen das Heben von Leichen zu ersparen, was aber in der Wirklichkeit nicht funktioniert. Wer in der Pathologie arbeitet, muss sich auch weiterhin mit dem Gewicht von Verstorbenen abmühen, und das wird wohl immer so bleiben. Der Tisch ist leicht geneigt, damit Flüssigkeiten ablaufen können, wenn man ihn am Waschbecken befestigt. Doch das wird heute Morgen nicht nötig sein, da es nichts mehr zum Ablaufen gibt. Gilly Paulssons Körperflüssigkeit wurde bereits vor zwei Wochen gesammelt und weggespült, als Fielding sie zum ersten Mal obduziert hat.
Nun steht der Autopsietisch mitten auf dem Boden mit dem Acrylanstrich. Gilly Paulssons Leiche befindet sich in einem schwarzen Sack, der auf dem schimmernden Stahltisch wie ein Kokon wirkt. Der Raum hat keine Fenster, jedenfalls keine, die ins Freie führen, nur ein Beobachtungsfenster, das viel zu hoch liegt, als dass jemand hindurchsehen könnte. Allerdings hat Scarpetta sich bei ihrem Einzug in das Gebäude vor acht Jahren nicht über diesen architektonischen Patzer beschwert, da niemand zu beobachten braucht, was in diesem Raum vor sich geht, wo die Toten aufgedunsen und grünlich und von Maden bedeckt oder so schwer verbrannt sind, dass sie verkohltem Holz ähneln.
Sie ist gerade hereingekommen. Zuvor hat sie einige Minuten in der Damenumkleide verbracht, um sich in den vor Kontakt mit infektiösem Material schützenden Anzug zu vermummen. »Tut mir Leid, dass ich Sie von Ihrem anderen Fall weghole«, sagt sie zu Fielding, und vor ihrem geistigen Auge sieht sie Mr. Whitby in olivgrüner Hose und schwarzer Jacke. »Aber ich glaube, Ihr Chef dachte allen Ernstes, ich würde das hier ohne Sie machen.«
»Wie viel hat er Ihnen denn erzählt?«, dringt seine Stimme durch die Schutzmaske.
»Im Grunde genommen gar nichts«, erwidert sie, während sie sich die Handschuhe überstülpt. »Ich bin nicht schlauer als gestern, als er mich in Florida anrief.«
Fielding runzelt die Stirn und bricht in Schweiß aus. »Waren Sie nicht gerade bei ihm im Büro?«
Ihr fällt ein, dass der Raum vielleicht verwanzt ist. Dann erinnert sie sich daran, dass sie in ihrer Zeit als Chefpathologin im Autopsiesaal mit den verschiedensten Diktiergeräten experimentiert hat, und zwar stets vergeblich, da die Vielzahl der Hintergrundgeräusche in einem Leichenschauhaus selbst die besten Mikrofone und Recorder schachmatt setzt. Deshalb geht sie zum Waschbecken und dreht das Wasser auf, bis es laut und blechern gegen den Stahl prasselt.
»Warum tun Sie das?«, erkundigt sich Fielding und öffnet den Sack.
»Ich dachte, Sie hätten bei der Arbeit vielleicht gern ein bisschen Wassermusik.«
Er blickt sie an. »Hier drinnen können wir unbelauscht reden, da bin ich ziemlich sicher. So schlau ist er nicht. Außerdem glaube ich nicht, dass er diesen Raum jemals betreten hat. Wahrscheinlich weiß er nicht mal, wo er ist.«
»Man gerät leicht in Versuchung, Menschen zu unterschätzen, die man nicht leiden kann«, entgegnet sie und hilft ihm, die Laschen des Leichensacks aufzuschlagen.
Durch zwei Wochen Kühlung wurde der Verwesungsprozess zwar aufgehalten, aber der Körper ist ausgedörrt und befindet sich auf dem Weg zur Mumifizierung. Der Gestank ist heftig, doch Scarpetta nimmt das nicht persönlich. Ein übler Geruch ist nun einmal die Art einer Leiche, sich auszudrücken, ohne damit jemandem zu nahe treten zu wollen. Gilly Paulsson ist machtlos dagegen, wie sie aussieht, riecht oder dass sie tot ist. Sie ist bleich, leicht grünlich und blutleer. Ihr Gesicht wirkt durch die Austrocknung abgezehrt, die Augen sind zu Schlitzen geöffnet, die Sklera unter den Lidern ist beinahe schwarz. Ihre trockenen, braunen Lippen sind halb geöffnet. Langes blondes Haar klebt ihr an den Ohren und unter dem Kinn. Scarpetta kann keine äußerlichen Verletzungen am Hals feststellen, auch nicht solche, die bei der Autopsie entstanden sein können, wie zum Beispiel die Todsünde eines Knopfloches, die eigentlich niemandem unterlaufen dürfte. Allerdings kommt es immer wieder dazu, wenn ein unerfahrener oder achtloser Mensch Gewebe in der Kehle beiseite schiebt, um die Zunge und den Kehlkopf zu entfernen, und dabei versehentlich die Haut durchstößt. Eine bei der Obduktion zugefügte Schnittwunde am Hals lässt sich trauernden Familien nur schwer erklären.
Der Y-Schnitt beginnt an den Enden des Schlüsselbeins, trifft am Brustbein zusammen, verläuft nach unten, umrundet den Nabel und endet im Schambereich. Er ist mit Stichen zugenäht, die Fielding nun mit einem Skalpell öffnet, als trenne er die Nähte einer mit der Hand geflickten Stoffpuppe auf. Währenddessen nimmt Scarpetta eine Aktenmappe von der Arbeitsfläche und beginnt, Gillys Autopsieprotokoll und den vorläufigen Ermittlungsbericht durchzulesen. Sie war einen Meter sechzig groß, wog siebenundvierzig Kilo und wäre, wenn sie noch leben würde, im Februar fünfzehn geworden. Ihre Augen waren blau. In Fieldings Autopsiebericht kommt wiederholt der Ausdruck »im normalen Bereich« vor. Ihr Gehirn, ihr Herz, ihre Leber, ihre Lunge, ja, alle ihre Organe waren in genau dem Zustand, in dem sie bei einem gesunden jungen Mädchen auch sein sollten.
Doch Fielding hat auch Spuren gefunden, die nun noch besser zu sehen sein müssten, da ihr Körper blutleer ist, während Blut, das in Form eines Blutergusses im Gewebe eingeschlossen war, sich kräftig von der leichenblassen Haut abhebt. Auf ein Körperdiagramm hat er Hämatome auf ihren Handrücken eingetragen. Scarpetta legt die Akte zurück auf die Theke, während Fielding den schweren Beutel mit den sezierten Organen aus der Brusthöhle nimmt. Sie tritt näher, um sich die Leiche anzusehen, und greift nach einer ihrer kleinen Hände. Die Hand ist eingeschrumpft, blass und feuchtkalt. Scarpetta hält sie in ihren behandschuhten Händen, dreht sie um und betrachtet den Bluterguss. Hand und Arm sind schlaff. Die Totenstarre ist abgeklungen, und der Körper sperrt sich nicht mehr, als ob es sich nun, da das Leben in ihm schon so lange erloschen ist, nicht mehr lohnt, sich gegen den Tod zu stemmen. Der Bluterguss hebt sich dunkelrot von der geisterhaft bleichen Haut ab und befindet sich direkt auf dem Rücken ihrer schlanken, verschrumpelten Hand. Die Rötung zieht sich vom Daumenknöchel bis zum Knöchel des kleinen Fingers. Ein ähnlicher Bluterguss ist auch auf ihrer anderen Hand, der linken, zu erkennen.
»Oh, ja«, meint Fielding. »Komisch, nicht wahr? Als hätte sie jemand festgehalten. Aber wozu?« Er wickelt eine Schnur oben vom Beutel ab. Dem bräunlichen Brei darin entsteigt ein abscheulicher Gestank. »Puh! Keine Ahnung, was Sie da drin zu finden hoffen. Aber tun Sie sich keinen Zwang an.«
»Stellen Sie es einfach auf den Tisch. Ich sehe es mir im Beutel an. Vielleicht hat sie jemand runtergedrückt. Wie wurde sie denn gefunden? Beschreiben Sie mir ihre Körperhaltung«, sagt Scarpetta, geht zum Waschbecken und nimmt ein Paar dicke Gummihandschuhe, die ihr fast bis zu den Ellenbogen reichen.
»Ich bin nicht sicher. Als ihre Mutter heimkam, hat sie versucht, sie wiederzubeleben. Sie meint, sie könne sich nicht erinnern, ob Gilly bäuchlings, auf dem Rücken oder auf der Seite lag. Sie hat keine Ahnung, was mit ihren Händen war.«
»Was ist mit Livor Mortis?«
»Keine Chance. So lange war sie noch nicht tot.«
Wenn das Blut nicht länger fließt, sackt es aufgrund der Schwerkraft in die untere Körperhälfte und erzeugt ein Muster aus tief rosafarbenen und bleichen Stellen, wo die Körperoberfläche auf einen Gegenstand drückt. Sosehr man hofft, einen Toten so schnell wie möglich zu finden, hat eine Verzögerung auch ihre Vorteile. Ein paar Stunden genügen schon, damit Livor Mortis und Rigor Mortis einsetzen und verraten, in welcher Stellung sich der Tote befand, als er starb, selbst wenn später Lebende auf der Bildfläche erschienen sind, um den Tatort zu manipulieren und die Geschichte in ihrem Sinne zu ändern.
Scarpetta zieht vorsichtig Gillys Unterlippe herunter und hält Ausschau nach Verletzungen, die darauf hinweisen, dass jemand ihr gewaltsam den Mund zugehalten oder sie erstickt hat, indem er ihr Gesicht in die Kissen drückte.
»Nur zu, aber danach habe ich auch schon gesucht«, lautet Fieldings Kommentar dazu. »Ich konnte keine anderen Verletzungen entdecken.«
»Und ihre Zunge?«
»Sie hat nicht hineingebissen. Nichts deutet darauf hin. Ich verrate Ihnen ja nur ungern, wo die Zunge jetzt ist.«
»Ich kann es mir denken«, erwidert sie, steckt die Hand in den Beutel mit den kalten, matschigen Organteilen und tastet darin herum.
Fielding wäscht sich die behandschuhten Hände unter dem kräftigen Wasserstrahl, der sich ins Metallbecken ergießt, und trocknet sie mit einem Handtuch ab. »Warum ist Marino nicht mit von der Partie?«
»Ich weiß nicht, wo er steckt«, antwortet Scarpetta. Sie ist nicht sonderlich erfreut darüber.
»Seine Begeisterung für verweste Leichen hielt sich schon immer in Grenzen.«
»Mir machen eher die Leute Sorgen, die eine Schwäche dafür haben.«
»Und für Kinder. Jeder, der was für tote Kinder übrig hat«, fügt Fielding hinzu. Er lehnt an der Theke und sieht ihr zu. »Hoffentlich finden Sie was, denn ich habe nichts entdecken können. Das frustriert mich ziemlich.«
»Was ist mit Petechien? Ihre Augen sind in einem schrecklichen Zustand, sodass ich nichts mehr feststellen kann.«
»Sie war ziemlich mit Blut überfüllt, als sie eingeliefert wurde«, erwidert Fielding. »Schwer zu sagen, ob sie petechiale Blutungen hatte, aber mir sind keine aufgefallen.«
Scarpetta stellt sich vor, wie Gillys Leiche im Leichenschauhaus eintraf. Sie war erst wenige Stunden tot, ihr Gesicht mit Blut überfüllt und rot, die Augen ebenfalls gerötet.
»Lungenödem?«, erkundigt sie sich.
»Ein leichtes.«
Scarpetta hat die Zunge entdeckt. Sie geht zu den Waschbecken, um sie abzuspülen, und tupft sie mit einem kleinen weißen Frottiertuch besonders billiger Qualität trocken, wie sie der Staat einzukaufen pflegt. Dann rollt sie eine OP-Lampe heran, schaltet sie ein und richtet sie auf die Zunge. »Haben Sie eine Lupe?«, fragt sie, während sie die Zunge noch einmal mit dem Handtuch abtupft und die Lampe einrichtet.
»Kommt sofort.« Er zieht eine Schublade auf, kramt ein Vergrößerungsglas heraus und reicht es ihr. »Sehen Sie was? Ich habe nichts bemerkt.«
»Hat sie unter Krampfanfällen gelitten?«
»Nicht, soweit ich informiert bin.«
»Tja, ich kann keine Verletzung feststellen.« Sie sucht nach Hinweisen darauf, dass Gilly sich auf die Zunge gebissen hat. »Und haben Sie Abstriche von ihrer Zunge und aus der Mundhöhle genommen?«
»Klar doch. Von allen Körperöffnungen«, entgegnet Fielding, kehrt zur Theke zurück und lehnt sich wieder daran. »Alles ohne Befund. Im Labor wurde auch nichts gefunden, was auf sexuellen Missbrauch hindeutet. Keine Ahnung, was – wenn überhaupt etwas – sie sonst noch ermittelt haben.«
»Auf ihrem CME-1-Formular steht, dass ihre Leiche bei der Einlieferung mit einem Pyjama bekleidet war. Das Oberteil war mit der Innenseite nach außen gedreht.«
»Klingt richtig.« Er greift nach der Akte und beginnt, sie durchzublättern.
»Sie haben ja supergründlich fotografiert.« Sie fragt nicht, sondern deutet nur sarkastisch an, was eigentlich die normale Vorgehensweise sein sollte.
»Hey«, erwidert er lachend. »Von wem habe ich traurige Gestalt denn meinen Job gelernt?«
Scarpetta blickt ihn kurz an. Sie hat ihm ein sorgfältigeres Arbeiten beigebracht, aber sie spricht es nicht aus. »Ich freue mich, dass Sie an der Zunge nichts übersehen haben.« Sie steckt sie zurück in den Beutel, wo sie auf den anderen bräunlichen Teilen von Gillys verwesenden Organen landet.
»Kommen Sie, wir drehen sie um. Dazu müssen wir sie aus dem Leichensack nehmen.«
Sie gehen Schritt für Schritt vor. Fielding packt die Leiche unter den Achseln und hebt sie an, während Scarpetta den Sack unter ihr wegzieht. Dann dreht er die Tote auf den Bauch, und Scarpetta zerrt den Sack aus dem Weg. Als sie ihn zusammenfaltet und auf die Bahre legt, ächzt und stöhnt das dicke Vinyl. Sie und Fielding sehen den Bluterguss auf Gillys Rücken gleichzeitig.
»Um Himmels willen!«, ruft er erschrocken aus.
Es ist eine leichte Rötung, rund und etwa so groß wie ein Silberdollar, auf der linken Seite ihres Rückens, gleich unterhalb des Schulterblatts.
»Ich schwöre, das war nicht da, als ich sie obduziert habe«, meint er, beugt sich vor und rückt die OP-Lampe zurecht, um sich die Stelle besser anzuschauen. »Scheiße. Ich fasse es nicht, dass mir das entgangen ist.«
»So was kann vorkommen«, entgegnet Scarpetta und verschweigt ihm, was sie in Wirklichkeit denkt. Es bringt nichts, ihn zu kritisieren. Dafür ist es zu spät. »Blutergüsse sind nach der Obduktion immer besser sichtbar«, erklärt sie.
Sie nimmt ein Skalpell vom Instrumentenwagen und macht einige tiefe lineare Einschnitte in das gerötete Gebiet, um festzustellen, ob die Verfärbung erst nach dem Tod herbeigeführt wurde und deshalb nur oberflächlich ist. Aber das ist sie nicht. Das Blut in dem darunter liegenden weichen Gewebe ist diffus, was für gewöhnlich auf ein Trauma und geplatzte Blutgefäße hinweist, als der Körper noch einen Blutdruck hatte. Schließlich ist ein Bluterguss oder eine Beule nichts anderes als eine Ansammlung von kleinen Blutgefäßen, die nach einer Quetschung lecken. Fielding legt ein zwanzig Zentimeter langes Plastiklineal an die eingeschnittene Stelle und fängt an zu fotografieren.
»Was ist mit ihrer Bettwäsche?«, fragt Scarpetta. »Haben Sie die untersucht?«
»Die habe ich nie zu Gesicht gekriegt. Die Polizei hat sie mitgenommen und ins Labor gebracht. Wie ich schon sagte, keine Samenflüssigkeit. Verdammt, ich kapiere nicht, wie ich den Bluterguss übersehen konnte.«
»Wir sollten uns erkundigen, ob auf den Laken oder auf dem Kopfkissen Flüssigkeit von einem Lungenödem festgestellt wurde. Wenn ja, muss der Fleck auf ziliare Schleimhautepithelzellen überprüft werden. Denn das würde die Theorie eines Todes durch Ersticken unterstützen.«
»Scheiße«, schimpft er. »Ich weiß nicht, wie mir dieser Bluterguss nicht auffallen konnte. Also sind Sie überzeugt, dass ein Tötungsdelikt vorliegt?«
»Ich glaube, jemand hat sich auf sie draufgesetzt«, beginnt Scarpetta. »Sie lag auf dem Bauch, der Täter drückte ihr das Knie oben in den Rücken, lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie, hielt ihr die Hände über dem Kopf fest und presste sie mit den Handflächen nach unten aufs Bett. Das würde die Blutergüsse auf ihren Handrücken und ihrem Rücken erklären. Ich glaube, wir haben es mit mechanischer Asphyxie zu tun, also eindeutig mit einem Tötungsdelikt. Jemand hat sich auf die Brust oder den Rücken des Opfers gesetzt, sodass dieses keine Luft mehr bekam. Was für eine schreckliche Art zu sterben.«