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Der Morgen dämmert mandarinenfarben und rosig am rauchblauen Horizont über dem Meer, und die Sonne erinnert an ein zerbrochenes Ei, als Rudy Musil mit seinem olivgrünen Hummer in Lucys Auffahrt einbiegt und mit der Fernbedienung das elektrische Tor öffnet. Instinktiv blickt er sich um, schaut in sämtliche Richtungen und lauscht. Er weiß nicht, warum, aber er hat sich heute Morgen so beunruhigt gefühlt, dass er aus dem Bett gesprungen ist und beschlossen hat, bei Lucy nach dem Rechten zu sehen.

Langsam gleiten die schwarzen Stäbe des Metallgitters auseinander. Immer wieder erschaudern sie in ihrer Schiene, weil diese eine Krümmung hat und das Tor, obwohl es dieselbe Krümmung besitzt, offenbar eine gerade Schiene vorziehen würde. Einer der vielen Planungsfehler, denkt Rudy oft, wenn er Lucy in ihrer lachsfarbenen Villa besucht. Doch der größte Fehler von allen war, dieses verdammte Haus überhaupt zu kaufen, sagt er sich, und darin zu residieren wie eine stinkreiche Drogendealerin. Mit den Ferrari ist es eine andere Sache. Er hat Verständnis dafür, dass jemand die besten Autos und den besten Hubschrauber der Welt besitzen will. Er hat ja auch Spaß an seinem Hummer. Allerdings ist es ein himmelweiter Unterschied, ob man sich eine Rakete und einen Panzer oder einen riesigen und geschmacklosen Haufen Ballast anschafft.

Es fällt ihm auf, als er die Einfahrt entlangrollt. Doch er schaut kein zweites Mal hin und denkt sich erst etwas dabei, nachdem er durch das offene Tor gefahren und aus dem Hummer gestiegen ist. Als er umkehrt, um die Zeitung mitzunehmen, stellt er fest, dass der rote Signalwimpel am Briefkasten hochgeklappt ist. Lucy bekommt ihre Post nicht nach Hause, und außerdem ist sie gar nicht da, um den Signalwimpel hochzuklappen. Selbst wenn sie es wäre, würde sie das niemals tun. Alle Lieferungen und die abzuschickende Post werden im Ausbildungslager und im Büro, eine halbe Autostunde südlich von hier in Hollywood, abgewickelt.

Komisch, denkt er, als er zum Briefkasten zurückkehrt und daneben stehen bleibt. In der einen Hand hält er die Zeitung, mit der anderen streicht er sein sonnengebleichtes Haar glatt, weil es sich so früh am Morgen sträubt. Er hat weder geduscht noch sich rasiert, und er hätte es bitter nötig. Die ganze Nacht hat er sich schwitzend im Bett herumgewälzt und es einfach nicht geschafft, eine bequeme Liegeposition zu finden. Nachdenklich blickt er sich um. Kein Mensch ist auf der Straße. Niemand joggt oder führt seinen Hund aus. Eines ist ihm an diesem Viertel bereits aufgefallen: Die Leute leben zurückgezogen und haben offenbar keine Freude an ihren Luxusvillen oder den bescheideneren Behausungen. Nur selten sitzt jemand auf der Terrasse oder schwimmt im Pool, und die Leute, die Boote besitzen, fahren kaum damit. Eine seltsame Gegend, denkt er. Eine unfreundliche, merkwürdige, unsympathische Gegend. Es macht ihn wütend.

Ausgerechnet hierher musste sie ziehen, überlegt er weiter. Warum? Warum zum Teufel hierher? Wer sucht sich denn freiwillig Arschlöcher als Nachbarn? Du hast gegen alle deine Regeln verstoßen, Lucy. Wirklich gegen alle. Er reißt die Klappe des Briefkastens auf, späht hinein und macht sofort einen Satz zur Seite. Unwillkürlich weicht er drei Meter zurück, und seine Aufregung wächst, bevor ihm richtig klar wird, was er da gesehen hat.

»Scheiße!«, murmelt er. »Verdammte Scheiße!«

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