Benton sitzt im zweiten Stock seines Stadthauses in dem Zimmer, das er als Büro benutzt, am Schreibtisch vor dem Laptop und wartet darauf, dass Lucy die versteckte Videokamera aktiviert. Diese ist als Schreibstift getarnt und mit einer Schnittstelle verbunden, die wie ein Piepser aussieht. Anschließend muss sie noch den hochsensiblen Sender einschalten, der das Aussehen eines Drehbleistifts hat. Auf dem Schreibtisch rechts von seinem Laptop befindet sich eine tragbare Empfangsstation, die in einen Aktenkoffer eingebaut ist. Der Aktenkoffer ist offen, Kassettenrecorder und Empfänger stehen auf Standby.
In Charleston ist es achtundzwanzig Minuten nach zehn Uhr morgens, hier in Aspen zwei Stunden früher. Benton starrt auf den schwarzen Bildschirm seines Laptops und sitzt geduldig, die Kopfhörer auf dem Kopf, da. Seit fast einer Stunde wartet er nun schon. Lucy hat ihn gestern am späten Abend Ortszeit nach ihrer Landung angerufen und ihm mitgeteilt, sie habe noch einen Termin bekommen. Dr. Paulsson sei zwar absolut ausgebucht, doch sie habe der Dame am Telefon erklärt, es sei dringend. Sie müsse sich sofort flugärztlich untersuchen lassen, da ihre Zulassung in zwei Tagen auslaufe. Warum sie bis zur letzten Minute gewartet habe, wollte die Frau in Dr. Paulssons Praxis wissen.
Stolz hat Lucy Benton ihre oscarverdächtige Darbietung geschildert: Mit zitternder Stimme habe sie herumgedruckst und gestammelt, sie sei einfach nicht dazu gekommen. Der Besitzer des Helikopters, den sie flöge, habe sie ununterbrochen in der Gegend herumgehetzt, sodass ihr keine Zeit geblieben sei, sich untersuchen zu lassen. Und, ja, sie habe persönliche Probleme, habe sie zu der Frau gesagt. Wenn sie die Bescheinigung nicht bekäme, dürfe sie nicht mehr fliegen und würde dann zu allem Unglück auch noch ihren Job verlieren. Daraufhin habe die Frau Lucy aufgefordert zu warten. Als sie wieder an den Apparat gekommen sei, habe sie verkündet, Dr. Paulsson werde sie um zehn Uhr am nächsten Morgen, also heute, dazwischenschieben. Damit tue er ihr einen großen Gefallen, da er wegen ihrer misslichen Lage sein wöchentliches Tennis-Doppel absagen müsse. Also sollte Lucy sich hüten, den Termin zu versäumen oder zu spät zu kommen, denn schließlich sei Dr. Paulsson ein wichtiger und viel beschäftigter Mann.
Bis jetzt klappt also alles wie am Schnürchen. Lucy ist als P. W. Winston angemeldet. Inzwischen befindet sie sich im Haus des Flugarztes. Benton wartet an seinem Schreibtisch und betrachtet durch das Fenster den Himmel, wo die Schneewolken tiefer und dichter hängen als noch vor einer knappen halben Stunde.
Laut Wetterbericht soll bei Einbruch der Dunkelheit Schneefall einsetzen und die ganze Nacht lang anhalten. Allmählich hat er den Schnee satt. Er hat genug von seiner Heimatstadt und von Aspen. Seit Henri sich in sein Leben gedrängt hat, hat er eigentlich die Nase voll von allem.
Henri Waiden ist eine Soziopathin, eine Narzisstin und ein Mensch, der sich wie eine Klette an andere heftet. Sie verschwendet seine Zeit. Über seine Versuche, ihre traumatische Erfahrung therapeutisch zu verarbeiten, macht sie sich nur lustig. Wenn er nicht so wütend auf Lucy wäre, weil sie zugelassen hat, dass Henri so viel Schaden anrichtet, würde er Mitleid mit Scarpettas Nichte haben. Henri hat sie verführt und benutzt und bekommen, was sie wollte. Vielleicht hat sie nicht damit gerechnet, dass sie in Lucys Haus in Florida überfallen werden könnte. Doch auch wenn nicht alles nach Plan gelaufen ist, hat sich Henri Lucy herausgepickt, um sie auszubeuten. Nun verspottet sie Benton. Er hat seinen Aspen-Urlaub mit Scarpetta geopfert, um sich von einer Möchtegern-Schauspielerin und Möchtegern-Privatdetektivin namens Henri an der Nase herumführen und zum Narren machen zu lassen. Und das, obwohl er es sich eigentlich nicht leisten kann, da es zwischen ihm und Scarpetta sowieso schon kriselt. Möglicherweise ist nun alles vorbei. Er könnte es ihr nicht zum Vorwurf machen. Der Gedanke ist zwar unerträglich, aber Scarpetta trifft keine Schuld.
Benton greift nach einem Sender, der aussieht wie ein kleines Polizeifunkgerät. »Hörst du mich?«, erkundigt er sich bei Lucy.
Wenn nicht, wird sie seinen Funkspruch nicht mit dem winzigen drahtlosen Empfänger in ihrem Ohrkanal hören. Das Gerät ist zwar unsichtbar, allerdings nicht in jeder Situation tragbar. Zum Beispiel, wenn Dr. Paulsson ihr in die Ohren leuchtet. Deshalb wird Lucy sehr schnell und geschickt sein müssen. Benton hat sie gewarnt, dass dieser Empfänger zwar hilfreich ist, aber auch ein Risiko bedeutet. Ich würde dir gern soufflieren, hat er gemeint. Es wäre wirklich sehr praktisch, wenn du Stichwörter von mir empfangen könntest. Aber du kennst das Risiko. Irgendwann während der Untersuchung wird er das Ding entdecken.
Lucys Antwort lautete, dass sie in diesem Fall lieber auf die Stichwörter verzichten würde, aber er hat darauf bestanden.
»Lucy? Bist du auf Empfang?«, sendet er wieder. »Ich wollte mich nur vergewissern, weil ich dich weder sehe noch höre.«
Plötzlich wird die Videokamera aktiviert. Benton empfängt Bilder auf dem Laptop und hört Lucys Schritte. Vor ihr vibriert eine Holztreppe, die sie gerade hinaufsteigt, und ihre Schritte und Atemzüge hallen durch die Kopfhörer.
»Ich empfange dich laut und deutlich«, spricht er in das Mikrofon, das er sich dicht vor den Mund hält. Stimm- und Videorecorder sind von Standby auf Record umgesprungen.
Nun kommt Lucys Faust ins Bild, die laut an eine Tür klopft. An seinem Schreibtisch sitzend beobachtet Benton, wie sich die Tür öffnet und ein Arztkittel den Bildschirm ausfüllt. Dann sieht er den Hals eines Mannes und schließlich Dr. Paulssons strenges Gesicht. Er begrüßt Lucy, weicht zurück und fordert sie auf, sich zu setzen. Als sie sich bewegt, gleitet die Linse der Stiftkamera durch das kleine, nüchtern eingerichtete Behandlungszimmer und zu einem mit weißem Papier bedeckten Untersuchungstisch.
»Das ist das erste Formular. Und hier das zweite, das ich ausgefüllt habe«, sagt Lucy und reicht ihm einige Blätter. »Tut mir Leid. Hoffentlich habe ich Ihr System nicht durcheinander gebracht. Ich komme einfach nicht klar mit Formularen. Als die durchgenommen wurden, habe ich wohl in der Schule gefehlt.« Sie lacht nervös, während Dr. Paulsson die beiden Formulare mit ernster Miene studiert.
»Laut und deutlich«, spricht Benton ins Mikrofon.
Auf dem Bildschirm erscheint ihre Hand, die sie vor der Stiftkamera bewegt, um ihm mitzuteilen, dass sie ihn durch den winzigen Empfänger im Ohr verstehen kann.
»Waren Sie auf dem College, Miss Winston?«, erkundigt sich Dr. Paulsson.
»Nein, Sir. Eigentlich wollte ich, aber …«
»Das ist schade«, fällt er ihr, ohne zu lächeln, ins Wort. Er trägt eine kleine randlose Brille und ist sehr attraktiv. Einige würden ihn sogar als schönen Mann bezeichnen. Er ist nur unwesentlich größer als Lucy, etwa eins fünfundsiebzig oder eins achtundsiebzig, und schlank und macht einen muskulösen Eindruck. Allerdings kann Benton nur das sehen, was die Stiftkamera in der Brusttasche von Lucys Fliegeroverall von ihm zeigt.
»Tja, um einen Helikopter zu fliegen, brauchte ich nicht aufs College«, erwidert Lucy mit unsicherer Stimme. Sie schauspielert großartig und mimt glaubhaft eine eingeschüchterte, wenig selbstbewusste Frau, die mit dem Leben nicht zurechtkommt.
»Meine Assistentin hat mir gesagt, Sie hätten persönliche Probleme«, meint Dr. Paulsson, ohne den Blick von den Formularen zu heben.
»Ein bisschen.«
»Sagen Sie mir, was los ist«, fordert er sie auf.
»Ach, die üblichen Schwierigkeiten mit meinem Freund«, erwidert sie nervös und verlegen. »Eigentlich wollten wir heiraten, aber dann hat es doch nicht geklappt. Sie können sich das bei meinen Arbeitszeiten sicher denken. Im letzten halben Jahr war ich insgesamt bestimmt fünf Monate unterwegs.«
»Also wollte Ihr Freund Ihre ständige Abwesenheit nicht mehr tolerieren und hat sich aus dem Staub gemacht«, stellt Dr. Paulsson fest und legt die Formulare auf einen Tisch, auf dem auch ein Computer steht. Lucy stellt sich geschickt so hin, dass die als Stift getarnte Videokamera auf ihn gerichtet ist.
»Sehr gut«, sendet Benton ihr mit einem Blick auf die abgeschlossene Tür seines Arbeitszimmers. Obwohl Henri einen Spaziergang macht, will er nicht riskieren, dass sie einfach hereinplatzt. Sie begreift nicht, was Grenzen bedeuten, weil es in ihrem Denken so etwas nicht gibt.
»Wir haben uns getrennt«, erwidert Lucy. »Eigentlich geht es mir gut. Aber dann kam eines zum anderen … Es war alles recht stressig, aber jetzt geht es wieder.«
»Und deshalb haben Sie mit der flugärztlichen Untersuchung bis zur letzten Minute gewartet?«, fragt Dr. Paulsson und kommt näher.
»Ja, wahrscheinlich.«
»Das war nicht sehr klug von Ihnen. Ohne Bescheinigung Ihrer Flugtauglichkeit dürfen Sie nicht fliegen. Im ganzen Land gibt es Flugärzte, Sie hätten sich früher darum kümmern müssen. Was wäre gewesen, wenn ich heute keine Zeit für Sie gehabt hätte? Heute Morgen habe ich dem Sohn eines Freundes einen Nottermin gegeben und wollte mir eigentlich den restlichen Tag freinehmen. Aber für Sie habe ich eine Ausnahme gemacht. Was wäre, wenn ich nein gesagt hätte? Ihre Bescheinigung läuft morgen aus, vorausgesetzt, Sie haben das richtige Datum eingetragen.«
»Ja, Sir. Das war sehr dumm von mir. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar …«
»Ich bin sehr unter Zeitdruck. Also bringen wir die Sache so schnell wie möglich hinter uns.« Er nimmt die Blutdruckmanschette vom Tisch, legt sie ihr um den Oberarm und beginnt zu pumpen. »Sie sind ziemlich muskulös. Treiben Sie viel Sport?«
»Ich gebe mir Mühe«, erwidert sie mit zitternder Stimme, während seine Hand ihre Brust streift. Benton kann den Übergriff förmlich spüren, obwohl er ihn nur auf seinem Laptop im mehr als fünfzehnhundert Kilometer entfernten Aspen sieht. Niemand würde Benton eine Reaktion anmerken, ein Funkeln in seinen Augen oder eine Anspannung der Lippen wahrnehmen. Doch er empfindet die Erniedrigung ebenso stark wie Lucy.
»Er fasst dich an«, sendet Benton, damit es auch auf Band festgehalten wird. »Er hat gerade angefangen, dich zu betatschen.«
»Ja.« Lucy scheint Dr. Paulsson zu antworten, aber in Wirklichkeit meint sie Benton. Wieder bewegt sie die Hand bestätigend vor der Linse. »Ja, ich treibe viel Sport«, sagt sie.