Seit gestern Abend muss Marino ständig an Suz denken. Ihm gefällt es, wie sie ihr Haar trägt, nämlich gerade lang genug, dass es ihre Schultern streift. Außerdem blond. Blond war schon immer seine Lieblingshaarfarbe.
Schon bei der ersten Begegnung in ihrem Haus hat er den Schwung ihrer Wangen und ihre vollen Lippen bewundert. Er fand es schön, wie sie ihn ansah, denn er hat sich dadurch groß, stark und wichtig gefühlt. Ihr Blick schien ihm zu sagen, dass sie ihm die Lösung aller Probleme zutraute, sogar der unlösbaren, die jeden anderen überfordern würden.
Bestimmt war es dieser Blick, der ihn am meisten berührt hat.
Und die Art und Weise, wie sie bei der Durchsuchung von Gillys Zimmer dicht an ihn herangerückt ist. Als er ihre Nähe spürte, hat er geahnt, dass es Ärger geben wird. Außerdem war er sich bewusst, dass er sich auf etwas würde gefasst machen müssen, falls Scarpetta es bemerkte.
Marino und Scarpetta waten durch dicken roten Schlamm, und es wundert ihn wie immer, dass sie auch im ungeeignetsten Schuhwerk jeder Bodenbeschaffenheit trotzt und einfach weitergeht, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Feuchter roter Schlamm schmatzt unter Marinos schwarzen Stiefeln, und seine Füße geraten ins Rutschen, als er sich vorsichtig vorantastet. Scarpetta hingegen bemerkt offenbar gar nicht, dass sie keine Stiefel trägt, sondern nur Schnürschuhe mit flachen Absätzen, die bequem sind und gut zu ihrem Hosenanzug passen. Oder besser: gepasst haben. Inzwischen sehen sie nämlich aus wie rote Schlammklumpen. Morast bespritzt ihre Hosensäume und ihren langen Mantel, als sie und Marino auf die Ruine des Gebäudes zusteuern.
Die Abrissmannschaft hält in der Arbeit inne, während Marino und Scarpetta wie zwei Idioten durch Schlamm waten und über Geröll klettern und Kurs auf das Zentrum der Zerstörung nehmen. Ein stämmiger Mann mit Bauarbeiterhelm starrt ihnen entgegen. Er hält ein Klemmbrett in der Hand und spricht gerade mit einem anderen Mann, der ebenfalls einen Bauarbeiterhelm auf dem Kopf hat. Dann kommt er auf sie zu und wedelt mit den Händen. Marino winkt ihn zu sich, da sie sich mit ihm unterhalten wollen.
»Ich bin Detective Marino«, stellt er sich vor. »Und das ist Dr. Scarpetta, die Gerichtsmedizinerin.«
»Oh«, erwidert der Mann mit dem Klemmbrett. »Sie sind sicher wegen Ted Whitby hier.« Er schüttelt den Kopf. »Ich konnte es kaum fassen. Sie wissen sicher über seine Familie Bescheid.«
»Erzählen Sie«, fordert Marino ihn auf.
»Seine Frau erwartet ihr erstes Kind. Für Ted ist es die zweite Ehe. Sehen Sie den Mann da drüben?« Er dreht sich zu der Ruine um und zeigt auf einen Mann in Grau, der gerade dem Führerhaus eines Krans entsteigt. »Das ist Sam Stiles. Er und Ted hatten ihre Probleme, um es einmal so auszudrücken. Sie – das heißt Teds Frau – behauptet jetzt, Sam hätte die Abrissbirne zu dicht an Teds Traktor vorbeizischen lassen. Und deshalb wäre er runtergefallen und überrollt worden.«
»Woraus kann man schließen, dass er runtergefallen ist?«, fragt Scarpetta.
Marino weiß, dass sie an die Szene denkt, die sie beobachtet hat. Sie glaubt immer noch, sie habe Ted Whitby gesehen, und zwar kurz bevor er überfahren wurde, als er noch auf seinen eigenen zwei Füßen stand und sich am Motor zu schaffen machte. Möglicherweise hat sie Recht. Und da er sie gut kennt, nimmt er an, dass es wirklich so gewesen sein muss.
»Ich will mich da nicht festlegen, Ma’am«, entgegnet der Mann mit dem Klemmbrett. Er ist etwa in Marinos Alter, hat aber dichtes Haar und Falten. Seine Haut ist gebräunt und wettergegerbt wie bei einem Cowboy, und er hat leuchtend blaue Augen. »Ich sage nur, dass die Frau, oder besser die Witwe, überall diese Geschichte verbreitet. Natürlich will sie Geld. Ist das nicht immer so? Das heißt nicht, dass sie mir nicht Leid täte. Aber es ist nicht richtig, sich einen Sündenbock zu suchen, wenn jemand ums Leben kommt.«
»Waren Sie hier, als es geschah?«, erkundigt sich Scarpetta.
»Genau hier, nur ein paar Hundert Meter von der Stelle entfernt, wo es passiert ist.« Er deutet auf die vordere rechte Ecke des Gebäudes.
»Haben Sie es gesehen?«
»Nein, Ma’am. Es gibt keine Zeugen. Er war hinten auf dem Parkplatz und hat am Motor herumgebastelt, da das Ding ständig abgesoffen ist. Ich vermute, dass er die Sicherung überbrückt hat – und den Rest der Geschichte kennen wir ja. Ich und die anderen haben nur mitgekriegt, dass der Traktor losgerollt ist, ohne dass jemand darauf saß. Dann ist er gegen den gelben Pfosten am Rolltor geprallt und daran hängen geblieben. Aber Ted lag auf dem Boden, war schwer verletzt und hat heftig geblutet. Es sah ziemlich übel aus.«
»War er noch bei Bewusstsein?«, erkundigt sich Scarpetta und macht sich wie immer Notizen in ein schwarzes Buch. Über der Schulter trägt sie ihre schwarze Tatorttasche aus Nylon an einem langen Riemen.
»Ich habe nicht gehört, dass er was gesagt hätte.« Der Mann verzieht bedauernd das Gesicht und wendet sich ab. Dann schluckt er lautstark und räuspert sich. »Seine Augen waren offen, und er schnappte nach Luft. Das ist ein Bild, das ich wohl nie mehr vergessen werde. Er hat nach Atem gerungen und lief blau an. Und im nächsten Moment war er tot. Natürlich kam sofort die Polizei. Und ein Krankenwagen. Aber man konnte nichts mehr für ihn tun.«
Marino steht im Schlamm, hört zu und beschließt, auch ein oder zwei Fragen zu stellen, weil er sich unwohl fühlt, wenn er zu lange schweigend wie ein Ölgötze an einer Stelle verharrt. In Scarpettas Gegenwart kommt er sich immer dumm vor, obwohl sie nichts tut, um ihm dieses Gefühl zu vermitteln. Doch das macht es nur noch schlimmer.
»Dieser Sam Stiles«, meint Marino und weist mit dem Kopf auf den reglosen Kran mit der Abrissbirne, die an ihrem Ausleger sacht hin- und herbaumelt. »Wo war er, als Ted überfahren wurde? Irgendwo in seiner Nähe?«
»Nein. Das ist doch albern. Dass Ted von einer Abrissbirne vom Traktor geholt worden sein soll, ist absoluter Schwachsinn und wäre eigentlich komisch, wenn die Sache an sich nicht so traurig wäre. Haben Sie überhaupt eine Vorstellung davon, was eine Abrissbirne bei einem Menschen anrichten würde?«
»Sähe bestimmt nicht sehr hübsch aus«, erwidert Marino.
»Sie würde ihm das Hirn direkt aus der Rübe donnern. Das Überfahren mit dem Traktor könnte man sich anschließend sparen.«
Scarpetta macht sich weiter Notizen. Hin und wieder blickt sie sich nachdenklich um, bevor sie etwas aufschreibt. Einmal hat Marino ihre Aufzeichnungen offen auf dem Schreibtisch liegen sehen, als sie nicht im Büro war. Weil er neugierig war, was in ihrem Kopf vorgeht, hat er die Gelegenheit genutzt, einen Blick zu riskieren. Aber er konnte nur ein einziges Wort entziffern, und das war zufällig sein Name: Marino. Sie hat nicht nur eine fürchterliche Handschrift, sondern macht ihre Notizen in einer seltsamen Art von Kurzschrift, die außer ihrer Sekretärin Rose niemand entschlüsseln kann.
Nun fragt sie den Mann mit dem Klemmbrett nach seinem Namen, worauf dieser erwidert, er heiße Bud Light. Das kann Marino sich gut merken, obwohl er Budweiser Light ebenso wenig mag wie Miller Light, Michelob Light oder sonst irgendwelche alkoholreduzierten Biere. Scarpetta erklärt, sie wolle sich den Fundort ansehen, um Bodenproben zu nehmen. Bud scheint das kein bisschen zu wundern. Vielleicht glaubt er, dass gut aussehende Gerichtsmedizinerinnen und dicke Polizisten mit Baseballkappen immer Bodenproben nehmen, wenn ein Bauarbeiter von einem Traktor überfahren wurde. Also waten sie wieder durch den zähen, feuchten Schlamm auf das Gebäude zu. Dabei muss Marino die ganze Zeit an Suz denken.
Gestern Abend hatte er gerade noch eine Runde Whisky im Polizeiclub bestellt und führte ein nettes, offenes Gespräch mit Junius Eise. Browning war schon nach Hause gegangen, und Marino war mitten in einem Satz, als sein Mobiltelefon läutete. Inzwischen war er schon ziemlich angetrunken und hätte eigentlich nicht mehr ans Telefon gehen sollen. Es wäre wohl das Beste gewesen, es abzuschalten, aber das hat er nicht getan. Schließlich hatte Scarpetta ihn zuvor angerufen, weil Fielding die Tür nicht aufgemacht hat. Marino hatte ihr angeboten, sie könne sich wieder bei ihm melden, falls sie ihn brauche. Und deshalb nahm er das Gespräch auch an, als es läutete. Nach einigen Runden Whisky neigt er ohnehin eher dazu, die Tür zu öffnen oder am Telefon mit Fremden zu reden, als sonst.
»Marino«, übertönte er das Stimmengewirr im Polizeiclub.
»Hier spricht Suzanna Paulsson. Tut mir Leid, dass ich Sie störe.« Sie brach in Tränen aus.
Was sie anschließend gesagt hat, war nicht so wichtig, und er kann sich auch nicht mehr an alles erinnern, als er durch den zähen roten Schlamm watet, während Scarpetta einen sterilen Gaumenspatel aus Holz sowie einige Gefrierbeutel aus ihrer Schultertasche kramt. Das wichtigste Ereignis der gestrigen Nacht kann Marino sich nicht mehr vergegenwärtigen, und das wird wohl für immer so bleiben, weil Suz Whiskey zu Hause hatte. Sour-Mash-Bourbon, und zwar mehrere Flaschen. Sie trug Jeans und einen flauschigen rosafarbenen Pullover, als sie ihn ins Wohnzimmer führte, die Vorhänge zuzog, sich neben ihn aufs Sofa setzte und ihm von ihrem miesen Ex-Mann, dem Heimatschutz, den Pilotinnen und den anderen Paaren erzählte, die Frank nach Hause eingeladen hatte. Ständig erwähnte sie diese anderen Paare, als ob sie wichtig wären. Und deshalb erkundigte sich Marino, ob sie diese Leute gemeint habe, als sie während seines und Scarpettas Besuchs immer wieder von »sie« sprach. Allerdings ging sie nicht darauf ein, sondern wiederholte ihre Antwort: Fragen Sie Frank.
Ich frage aber Sie, erwiderte Marino.
Fragen Sie Frank, sagte sie bloß. Er hat alle möglichen Leute ins Haus geholt. Fragen Sie ihn.
Was wollten diese Leute hier?
Das werden Sie schon noch erfahren, entgegnete sie.
Marino steht da und sieht zu, wie Scarpetta Latexhandschuhe überstreift und ein weißes Papierpäckchen aufreißt. Dort, wo der Traktorfahrer seinen tödlichen Unfall hatte, ist nichts als schlammiger Asphalt vor einer Hintertür zu sehen, die sich neben dem großen Rolltor befindet. Er beobachtet, wie Scarpetta in die Hocke geht und den Boden betrachtet. Dabei fällt ihm der gestrige Vormittag ein, als sie im Mietwagen hier vorbeigefahren sind und über die Vergangenheit gesprochen haben. Wenn er die Zeit zu diesem Moment zurückdrehen könnte, würde er es tun. Aber es geht nicht. Sein Magen fühlt sich übersäuert an, und ihm ist leicht übel. Sein Schädel pocht im Gleichtakt mit seinem wild klopfenden Herzen. Als er die kalte Luft einatmet, legt sich der Geschmack nach Erde und dem Betonstaub des Gebäudes, das rings um sie zusammenbricht, auf seine Zunge.
»Wonach suchen Sie eigentlich, wenn ich fragen darf?«, sagt Bud, der ebenfalls zusieht.
Scarpetta schabt mit dem Gaumenspatel sorgfältig über eine kleine Stelle in Erde und Sand, wo sich ein Fleck befindet. Vielleicht ist es Blut. »Mich interessiert nur, was da ist«, erklärt sie.
»Wissen Sie, ich schaue mir manchmal solche Fernsehsendungen an. Oder ich kriege wenigstens etwas davon mit, wenn meine Frau sie einschaltet.«
»Glauben Sie bloß nicht alles, was im Fernsehen kommt.« Scarpetta befördert weitere Erde in den Gefrierbeutel und lässt dann den Gaumenspatel ebenfalls hineinfallen. Nachdem sie den Beutel versiegelt hat, beschriftet sie ihn. Dann verstaut sie ihn vorsichtig in ihrer Nylontasche, die aufrecht auf dem Boden steht.
»Also nehmen Sie diesen Dreck nicht mit, um ihn in irgendeine Zaubermaschine zu stecken?«, witzelt Bud.
»Mit Zauberei hat unsere Arbeit nichts zu tun«, antwortet sie, öffnet wieder ein weißes Päckchen und kauert sich auf den Parkplatz neben der Tür, die sie in ihrer Zeit als Chefpathologin jeden Morgen aufgeschlossen hat, um das Gebäude zu betreten.
An diesem Morgen hat Marino einige Male Lichtblitze in der pulsierenden Finsternis seiner Seele gespürt. Sie sind elektrisch aufgeladen wie ein Bild, das auf einem defekten Fernseher immer wieder aufflackert, und verschwinden sofort wieder, sodass man nur einen verschwommenen Eindruck davon erhält, was die Bilder darstellen könnten. Lippen und Zunge. Fragmente von Händen und geschlossenen Augen. Und sein Mund, der an ihr hinuntergleitet. Er weiß nur noch, dass er um sieben Minuten nach fünf heute Morgen nackt in ihrem Bett aufgewacht ist.
Scarpetta arbeitet wie eine Archäologin, soweit Marino die Arbeitsweise von Archäologen beurteilen kann. Sie kratzt vorsichtig die Oberfläche einer schlammigen Stelle ab, unter der sie dunkle Blutflecken vermutet. Der Mantel schlingt sich um ihre Beine und schleift auf dem schmutzigen Asphalt. Doch das kümmert sie nicht. Wenn nur alle Frauen sich so wenig für unwichtige Kleinigkeiten interessieren würden wie sie. Marino glaubt, dass Scarpetta eine unerfreuliche Nacht verzeihen würde. Sie würde Kaffee kochen und lange genug bleiben, um darüber zu reden. Niemals würde sie sich heulend ins Bad einschließen und ihn anbrüllen, er solle verdammt nochmal sofort verschwinden.
Raschen Schrittes verlässt Marino den Parkplatz und watet durch den Schlamm zurück zum Auto. Er rutscht aus und behält mit einem Grunzen, das sich in ein Röcheln verwandelt, mit knapper Not das Gleichgewicht. Vornüber gebeugt, erbricht er sich und würgt und würgt, während sich eine braune Flüssigkeit auf seine Stiefel ergießt. Er zittert und keucht und glaubt schon, sterben zu müssen, als er ihre Hand am Ellenbogen spürt. Diese starke, sichere Hand würde er immer und überall erkennen.
»Komm«, sagt sie leise und nimmt seinen Arm. »Ich bringe dich zum Auto. Halt dich an meiner Schulter fest, und achte um Himmels willen darauf, wo du hintrittst. Sonst fallen wir noch beide hin.«
Er wischt sich den Mund am Jackenärmel ab. Tränen treten ihm in die Augen, als er sich zwingt, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Auf sie gestützt, hält er sich mühsam aufrecht und watet mit schmatzenden Schritten durch das schlammige blutrote Schlachtfeld rings um die Ruine des Gebäudes, in dem sie sich damals kennen gelernt haben.
»Was ist, wenn ich sie vergewaltigt habe?«, fragt er und fühlt sich so elend, dass er am liebsten sterben würde. »Was wäre dann?«