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Im kriminaltechnischen Labor hält der Forensiker Junius Eise einen Wolframfaden in die Flamme eines Bunsenbrenners.

Er ist stolz auf seine selbst gebastelten Werkzeuge, wie sie die Meister am Mikroskop schon seit Jahrhunderten anfertigen. Unter anderem ist es diese Fähigkeit, die ihn in seinen Augen als Puristen und Renaissancemenschen sowie als Liebhaber der Wissenschaft, Geschichte, Ästhetik und schöner Frauen qualifiziert.

Er hält das kurze Stück starren, feinen Drahtes mit einer Zange fest, sieht zu, wie das gräuliche Metall sich rasch leuchtend rot färbt, und stellt sich vor, dass es von Zorn oder Leidenschaft ergriffen wurde. Nachdem er den Draht aus der Flamme genommen hat, wälzt er die Spitze in Sodiumnitrit, wodurch das Wolfram oxidiert und geschärft wird. Ein kurzes Eintauchen in eine Petrischale mit Wasser, und das spitz zulaufende Drahtstück kühlt mit einem Zischen ab.

Er befestigt den Draht in einem Nadelhalter aus Edelstahl und weiß dabei genau, dass er dieses Werkzeug nur angefertigt hat, um Zeit zu gewinnen, sich eine Weile zurückzuziehen, sich auf etwas anderes zu konzentrieren und sich wenigstens vorübergehend einzureden, dass er alles im Griff hat. Er späht durch die Binokularlinsen seines Mikroskops. Das Chaos und Durcheinander sind unverändert geblieben, nur mit dem Unterschied, dass sie nun um das Fünfzigfache vergrößert sind.

»Ich verstehe das nicht«, sagt er zu sich selbst.

Mit seinem neuen Wolframwerkzeug schiebt er die Lack- und Glaspartikel hin und her; diese wurden an der Leiche eines Mannes sichergestellt, der vor wenigen Stunden von seinem eigenen Traktor zermalmt worden ist. Man müsste schon einen Dachschaden haben, um nicht mitzukriegen, dass der Chefpathologe mit einer Klage von Seiten der Familie des Mannes rechnet. Ansonsten wären derartige Spuren bei einem Unfall, noch dazu einem aus grober Fahrlässigkeit, nämlich nicht von Bedeutung. Das Problem ist nur, dass man, wenn man sucht, manchmal auch etwas findet, und jetzt ist Eise auf etwas gestoßen, das für ihn einfach keinen Sinn ergibt. In Augenblicken wie diesem denkt er stets daran, dass er schon dreiundsechzig ist – vor zwei Jahren hätte in Rente gehen können – und wiederholt eine Beförderung zum Leiter der kriminaltechnischen Abteilung ausgeschlagen hat, da er sich nur am Mikroskop zu Hause fühlt. Er braucht weder Haushaltsplanung noch Personalfragen für sein Lebensglück, und außerdem ist sein Verhältnis zum Chefpathologen so miserabel wie nie zuvor.

Im konzentrierten Lichtkegel des Mikroskops schiebt er mit seinem neuen Wolframwerkzeug Lack- und Glaspartikel auf einem trockenen Objektträger hin und her. Sie sind mit einer anderen Substanz vermischt, einem graubraunen und merkwürdigen Staub, den er noch nie gesehen hat – mit einer wichtigen Ausnahme. Vor zwei Wochen ist er schon einmal auf diesen Staub gestoßen, und zwar in einem ganz anderen Fall, denn er geht davon aus, dass der plötzliche und geheimnisvolle Tod eines vierzehnjährigen Mädchens nichts mit dem Unfall dieses Traktorfahrers zu tun haben kann.

Eise blinzelt, und sein Oberkörper erstarrt. Die Lackpartikel sind etwa so groß wie Schuppen und rot, weiß und blau. Sie stammen nicht von einem Fahrzeug oder gar von einem Traktor, so viel steht fest. Allerdings würde er beim Unfalltod des Traktorfahrers namens Theodore Whitby auch nicht von Autolack ausgehen. Die Lackpartikel und der seltsame graubraune Staub wurden in einer Risswunde im Gesicht des Toten gefunden. Ähnliche, wenn nicht sogar identische Lacksplitter sowie graubraunen Staub hat man in der Mundhöhle der Vierzehnjährigen sichergestellt, hauptsächlich auf ihrer Zunge. Der eigenartige Staub ist es, der Eise am meisten zu schaffen macht, denn so etwas ist ihm noch nie untergekommen. Die Partikel haben eine unregelmäßige Form und sind verkrustet wie getrockneter Schlamm. Aber es ist kein Schlamm. Diese Staubpartikel weisen Risse, Blasen und glatte Stellen auf und haben dünne, transparente Ränder wie die Oberfläche eines ausgedörrten Planeten. Manche zeigen sogar Löcher.

»Was zum Teufel ist das?«, fragt er sich. »Ich habe keine Ahnung, was das sein soll. Und wie kann dieses komische Zeug in zwei Fällen auftreten, zwischen denen unmöglich ein Zusammenhang besteht? Was ist hier nur los?«

Er nimmt eine Pinzette mit nadelspitzen Enden und entfernt vorsichtig einige Baumwollfasern von den Partikeln auf dem Objektträger. Als Licht durch die Linsen des Mikroskops fällt, wirkt die Ansammlung vergrößerter Fasern wie verdrehte weiße Fadenstückchen.

»Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich Wattestäbchen hasse!«, ruft er durch das mehr oder weniger leere Labor. »Wisst ihr, wie furchtbar Wattestäbchen nerven können?«, fragt er in den großen eckigen Raum voller schwarzer Arbeitsflächen, Absaughauben, Arbeitsplätze, Mikroskope und anderer Gegenstände aus Glas und Metall und Chemikalien hinein, die in seinem Beruf von Nöten sind.

Die meisten Mitarbeiter befinden sich nicht an ihrem Platz, sondern in anderen Labors auf dieser Etage, wo sie sich mit Atomabsorption, Gaschromatographie, Massenspektroskopie, der Untersuchung von Kristallstrukturen durch gebrochene Röntgenstrahlung, dem Fourier-Transform-Infrarot-Spektrophometer, dem Elektronenmikroskop oder SEM/Energiestreuungs-Röntgenspektrometer und anderen Gerätschaften beschäftigen. In einer Welt, die von einem endlosen Rückstau unerledigter Arbeiten sowie knappen Budgets bestimmt wird, nehmen Wissenschaftler, was sie kriegen können, stürzen sich auf technische Apparaturen wie auf Pferde und reiten sie, bis sie den Geist aufgeben.

»Es ist allgemein bekannt, wie sehr Sie Wattestäbchen hassen«, meint Kit Thompson, Eises momentane Laborkollegin.

»Aus all den Baumwollfasern, die ich im Laufe meines kurzen Lebens gesammelt habe, könnte ich inzwischen eine riesige Decke weben«, erwidert er.

»Warum tun Sie das nicht? Das würde ich schon lange gern mal sehen.«

Eise greift nach der nächsten Faser. Sie sind nicht leicht zu erwischen. Immer wenn er die Pinzette oder die Wolframnadel bewegt, lässt ein leichter Lufthauch die Faser verrutschen. Er stellt die Schärfe ein und verringert die Vergrößerung auf das Vierzigfache, damit er besser sieht. Mit angehaltenem Atem starrt er in den hellen Lichtkreis und versucht herauszufinden, was ihm der zu sagen hat. Welches physikalische Gesetz zwingt eine von einem Luftzug aufgescheuchte Faser, sich von einem wegzubewegen, als wäre sie lebendig und auf der Flucht? Warum wird die Faser nicht stattdessen herangeweht, sodass man sie besser einfangen kann?

Als er die Linse des Objektivs noch ein paar Millimeter zurückdreht, ragen die Enden der Pinzette riesengroß in sein Gesichtsfeld. Der Lichtkreis lässt ihn an eine hell erleuchtete Zirkusmanege denken. Kurz sieht er dressierte Elefanten und Clowns in einem Licht, das so hell ist, dass es ihm in den Augen schmerzt. Er erinnert sich, dass er in hölzernen Bankreihen gesessen und zugesehen hat, wie rosafarbene Zuckerwattewolken vorbeischwebten. Vorsichtig nimmt er die nächste Baumwollfaser, hebt sie vom Objektträger und lässt sie in eine kleine durchsichtige Plastiktüte fallen. Diese ist bereits mit weiteren fasrigen Abfällen gefüllt, bei denen es sich eindeutig um Verunreinigungen der Marke Q-Tips handelt, die als Beweismittel nicht viel hergeben.

Dr. Marcus ist der schlimmste Chaot von allen. Welches Problem hat dieser Mensch nur, zum Teufel? Eise hat ihm schon unzählige Aktennotizen geschickt, in denen er ihn angefleht hat, seine Mitarbeiter Spuren mit Klebebändern abnehmen zu lassen und – bitte, bitte – keine Wattestäbchen zu verwenden, da diese aus Milliarden von Fasern bestehen, die leichter sind als die Küsse von Engeln und sich mit den Beweisen vermischen.

Wie die Haare einer weißen Angorakatze auf einer schwarzen Samthose, hat er vor ein paar Monaten an Dr. Marcus geschrieben. So als wollte man den Pfeffer aus einer Portion Kartoffelpüree pflücken oder den Kaffeeweißer wieder aus dem Kaffee entfernen. Und noch ein paar der bemühten Sprachbilder und Übertreibungen mehr.

»Letzte Woche habe ich ihm zwei Rollen Klebeband mit geringer Haftkraft geschickt«, sagt Eise. »Und wieder ein Paket Post-Its, auf denen ich ihn daran erinnert habe, dass diese Klebebänder sich ausgezeichnet dazu eignen, Haare und Fasern von Gegenständen abzunehmen, da sie die Beweisstücke weder zerbrechen noch verdrehen und sie vor allem nicht mit Baumwollfasern zudecken. Ganz zu schweigen davon, dass sie bei der Untersuchung mit gebrochenen Röntgenstrahlen nicht stören und die übrigen Ergebnisse nicht verzerren. Schließlich sitzen wir nicht aus Jux und Dollerei tagelang hier herum, um die Fasern wieder aus den Proben herauszuklauben.«

Stirnrunzelnd schraubt Kit eine Flasche Permount-Fixierflüssigkeit auf. »Den Pfeffer aus dem Kartoffelpüree pflücken? Sie haben Dr. Marcus Post-Its geschickt?«

Wenn die Pferde mit Eise durchgehen, sagt er genau das, was er denkt. Er bemerkt nicht immer – und vermutlich ist es ihm auch egal –, dass ihm das, was ihm gerade eingefallen ist, für alle gut hörbar über die Lippen kommt. »Ich will nur darauf hinaus«, sagt er, »dass Dr. Marcus, oder wer auch immer die Mundhöhle des kleinen Mädchens untersucht hat, diese gründlich mit Wattestäbchen ausgewischt hat. Aber bei der Zunge war das wirklich überflüssig. Die Zunge hat er doch rausgeschnitten, richtig? Sie lag direkt vor ihm auf dem Schneidebrett, und er konnte deutlich sehen, dass sich Spuren darauf befinden. Also hätte er Klebeband benützen können. Aber nein, es mussten natürlich wieder Q-Tips sein, und jetzt kann ich meinen Tag damit zubringen, Baumwollfasern auszusortieren.«

Wenn ein Mensch – insbesondere ein Kind – auf eine Zunge auf einem Schneidebrett reduziert wurde, wird er namenlos. So ist es nun einmal. Man sagt eben nicht, man habe die Hand in Gilly Paulssons Hals gesteckt, mit einem Skalpell das Gewebe zurückgeschlagen, die Organe aus ihrer Kehle entfernt und ihr die Zunge aus dem Mund gerissen. Man würde ja auch niemals sagen, man habe eine Nadel in das linke Auge des kleinen Timmy gestochen, um Glaskörperflüssigkeit für toxikologische Tests zu entnehmen. Oder man habe Mrs. Jones die Schädeldecke aufgesägt, ihr Gehirn entnommen und ein aufgeplatztes Aneurysma entdeckt. Oder es seien zwei Ärzte nötig gewesen, um Mr. Fords Kiefermuskeln zu durchtrennen, da die Leichenstarre bereits eingetreten und der Tote sehr muskulös gewesen sei, sodass man seinen Mund einfach nicht aufkriegte.

Dieser Augenblick der Erkenntnis zieht rasch über Eises Gedanken hinweg wie der Schatten des Totenvogels. So nennt er es zumindest. Wenn er dann aufblickt, ist nichts zu sehen, da ist nur dieses Gefühl. Weiter will er sich auf derartige Gedanken nicht einlassen, denn wenn das Leben eines Menschen erst einmal zerstückelt worden ist und in Form von Proben unter seinem Mikroskop landet, ist es nicht ratsam, zu gründlich Ausschau nach dem Totenvogel zu halten. Sein Schatten allein ist schon mehr, als ein Mensch ertragen kann.

»Ich dachte, Dr. Marcus wäre zu beschäftigt und ein viel zu wichtiger Mann, um selbst Autopsien durchzuführen«, meint Kit. »Ich kann die Male, die ich ihn hier zu Gesicht bekommen habe, an einer Hand abzählen.«

»Das spielt keine Rolle. Er ist der Vorgesetzte und bestimmt die Regeln. Außerdem ist er derjenige, der die Bestellformulare für Q-Tips oder die Billigversion dieser Dinger abzeichnet. Also ist er in meinen Augen der Alleinschuldige.«

»Tja, ich glaube nicht, dass er das Mädchen obduziert hat. Auch nicht den Traktorfahrer, der bei dem alten Gebäude umgekommen ist«, erwidert Kit. »Mit so was würde der sich nie die Hände schmutzig machen. Er spielt lieber den Boss und kommandiert alle herum.«

»Haben Sie noch genug Eise-Nadeln?«, fragt Eise, während seine schlanke Hand rasch und sicher mit der Wolframnadel hantiert.

Das Anfertigen seiner Wolframnadeln geschieht bei ihm in zwanghaften Schüben, worauf die Gerätschaften dann wie durch Zauberhand auf den Schreibtischen seiner Kollegen landen.

»Eine neue Eise-Nadel ist nie zu verachten«, antwortet Kit wenig begeistert, als ob sie eigentlich gar keine möchte. Doch in seiner Phantasie ziert sie sich nur, weil sie ihm keine Umstände machen möchte. »Wissen Sie was? Ich werde dieses Haar nicht dauerhaft konservieren.« Sie schraubt die Permount-Flasche wieder zu.

»Wie viele haben Sie von dem kranken Mädchen?«

»Drei«, erwidert Kit. »Bei meinem Glück wird das DNS-Labor nämlich beschließen, dass es die Haare doch braucht, obwohl letzte Woche kein großes Interesse daran bestand. Also lasse ich dieses Haar und die anderen erst mal in Ruhe. Zurzeit führen sich alle auf wie die Verrückten. Jessie war in einem Schaberaum, als ich ankam. Sie waren dort mit der Bettwäsche zugange. Offenbar sucht das DNS-Labor nach etwas, das man beim ersten Mal nicht gefunden hat, und Jessie hätte mir fast den Kopf abgerissen, als ich gewagt habe zu fragen, was da los ist. Jedenfalls ist etwas Merkwürdiges im Busch. Wie wir beide wissen, haben sie die Bettwäsche vor einer Woche schon einmal im Schaberaum untersucht. Woher, glauben Sie, habe ich denn diese Haare? Komisch. Ob es an der Vorweihnachtszeit liegt? Ich hatte noch gar keine Gelegenheit, mir Gedanken über Geschenke zu machen.«

Sie schiebt eine Pinzette mit nadelfeiner Spitze in einen kleinen Asservatenbeutel aus Plastik und holt ein weiteres Haar heraus. Aus Eises Perspektive ist es fünfzehn bis achtzehn Zentimeter lang, schwarz und lockig. Er sieht zu, wie Kit es auf einem Objektträger arrangiert, einen Tropfen Xylol und ein Abdeckplättchen darauf gibt und so ein schwereloses, kaum zu sehendes Beweisstück, sichergestellt in der Bettwäsche eines toten Mädchens, das Farbpartikel und einen seltsamen graubraunen Staub im Mund hatte, in eine Probe für das Mikroskop verwandelt.

»Tja, Dr. Marcus ist eben nicht Dr. Scarpetta«, sagt Kit.

»Sie haben nur fünf Jahre gebraucht, um dahinterzukommen? Zuerst dachten Sie bestimmt, Dr. Scarpetta hat sich komplett ummodeln lassen und sich in das kleine verhuschte Männlein verwandelt, das inzwischen hier den Chef spielt. Inzwischen hatten Sie ein Aha-Erlebnis und haben bemerkt, dass es sich um zwei völlig unterschiedliche Personen handelt. Und das ohne DNS-Test. Alle Achtung, Mädchen. Bei so viel Grips sollten Sie eigentlich Ihre eigene Show im Fernsehen haben.«

»Spinner«, sagt Kit und muss so heftig lachen, dass sie vom Mikroskop zurückweicht, weil sie befürchtet, durch zu heftiges Atmen die Beweisstücke wegzupusten.

»Ich habe zu viele Jahre lang Xylol eingeatmet, Schätzchen. Und jetzt habe ich Persönlichkeitskrebs.«

»O Gott«, keucht sie lachend und schnappt nach Luft. »Ich wollte damit nur sagen, dass Sie keine Baumwollfasern aus Ihren Proben klauben müssten, wenn Dr. Scarpetta diesen Fall oder die anderen bearbeitet hätte. Wissen Sie eigentlich, dass sie hier ist?

Sie wurde wegen des toten Mädchens gerufen, der kleinen Paulsson. So wird wenigstens gemunkelt.«

»Das soll wohl ein Witz sein.« Eise traut seinen Ohren nicht.

»Wenn Sie abends nicht immer als Erster nach Hause gehen würden und nicht so ein Eigenbrötler wären, würden Sie vielleicht auch mal ein paar Gerüchte mitkriegen«, erwidert sie.

Es stimmt zwar, dass Eise nicht zu den Menschen gehört, die sich nach fünf Uhr nachmittags noch im Labor herumdrücken, doch dafür ist er morgens auch der Erste, der dort erscheint, und kommt selten später als Viertel nach sechs. »Ich hätte gedacht, dass Dr. Großkotz die Letzte wäre, die man wegen irgendwas hinzuzieht.«

»Dr. Großkotz? Wo haben Sie denn das her?«

»Erdnussgalerie.«

»Offenbar kennen Sie sie nicht, sonst würden Sie sie nicht so nennen.« Kit legt die Probe unter das Mikroskop. »Ich würde sie sofort um Rat fragen, und zwar ohne erst zwei Wochen zu warten. Dieses Haar ist schwarz gefärbt, genau wie die beiden anderen. Mist. Damit kann ich sowieso nichts anfangen. Es sind keine Pigmente zu erkennen, und an der Oberfläche haftet offenbar irgendeine Kurspülung gegen krauses Haar. Ich wette, sie werden sich für einen Mitochondrien-Test entscheiden. Die von der DNS werden meine drei kostbaren Haare ins allmächtige Labor in Bode schicken. Warten Sie’s ab. Wirklich seltsam. Vielleicht hat Dr. Scarpetta ja herausgefunden, dass das arme kleine Mädchen ermordet worden ist. Das könnte dahinterstecken.«

»Dann fixieren Sie die Haare besser nicht«, meint Eise. Früher war die DNS-Untersuchung nichts weiter als ein Zweig der forensischen Wissenschaft. Inzwischen jedoch ist sie die Silberkugel, der Blockbuster, der Superstar und heimst alles Geld und allen Ruhm ein.

»Keine Sorge«, erwidert Kit und blickt in ihr Mikroskop. »Keine Demarkationslinie, das ist aber interessant. Und außerdem ungewöhnlich bei gefärbtem Haar. Das heißt nämlich, dass das Haar nach dem Färben noch keinen Bruchteil eines Millimeters nachgewachsen war.« Sie schiebt den Objektträger unter der Linse herum.

Eise beobachtet sie neugierig. »Keine Wurzel? Ausgefallen, ausgerissen, abgebrochen, eingeklemmt, mit dem Lockenstab beschädigt, versengt, abgeschnitten, gespaltene Spitzen? Oder abgezwickt, glatt oder spitz zulaufend? Los, Mädchen, raus mit der Sprache«, sagt er.

»Eindeutig sauber. Keine Wurzel. Spitz zulaufend abgeschnitten. Alle drei Haare sind schwarz gefärbt und haben keine Wurzel, und das ist komisch. Bei allen dreien, nicht nur bei einem, wurden beide Enden abgeschnitten. Nicht an der Wurzel ausgerissen oder abgebrochen. Diese Haare sind nicht einfach ausgefallen. Sie wurden abgeschnitten. Und jetzt verraten Sie mir mal, warum ein Haar an beiden Seiten abgeschnitten ist.«

»Vielleicht kam der Betreffende gerade vom Friseur. Die abgeschnittenen Haare könnten sich auch auf seiner Kleidung, zwischen den restlichen Haaren auf dem Kopf, auf dem Teppich oder sonst irgendwo befunden haben.«

Kit runzelt die Stirn. »Wenn Dr. Scarpetta im Haus ist, würde ich sie gerne sehen. Nur um mal hallo zu sagen. Ich fand es sehr schade, dass sie gegangen ist. Dr. Marcus, dieser Blödmann … ›Ich fühle mich gar nicht wohl. Heute beim Aufwachen hatte ich Kopfschmerzen, und jetzt tun mir die Gelenke weh.‹«

»Möglicherweise will sie ja nach Richmond zurückkommen«, mutmaßt Eise. »Ob sie deshalb hier ist? Zumindest hat sie die Proben, die sie uns geschickt hat, nie falsch beschriftet, und wir wussten genau, wo sie hingehörten. Sie hatte nichts dagegen, die Fälle zu erörtern, und ist zu uns gekommen, anstatt uns wie Fertigungsroboter bei General Motors zu behandeln und so zu tun, als könnten wir ihr alle nicht das Wasser reichen. Außerdem hat sie nicht sämtliche Spuren mit Wattefusseln zugedeckt, wenn sie sie auch mit Klebeband, Post-Its oder wie wir es sonst empfohlen haben, abnehmen konnte. Vermutlich haben Sie Recht. Offenbar irrt die Erdnussgalerie.«

»Was zum Teufel ist eine Erdnussgalerie?«

»Keine Ahnung.«

»Es ist absolut keine Rindenstruktur zu sehen«, meint Kit, während sie das vergrößerte schwarz gefärbte Haar betrachtet, das im Lichtkreis so groß wie ein dunkler Baum im Winter wirkt. »Als hätte es jemand in schwarze Tinte getaucht. Keine Demarkationslinie zu erkennen. Also wurde es entweder erst vor kurzem gefärbt oder unterhalb der nachgewachsenen ungefärbten Wurzel abgeschnitten.«

Während sie den Objektträger herumschiebt und Schärfe und Vergrößerungsstufe einstellt, macht sie sich Notizen und versucht, dem gefärbten Haar Informationen zu entlocken. Doch es schweigt beharrlich. Die unverwechselbaren Eigenschaften der Pigmente in der obersten Schicht wurden durch die Farbe verdeckt wie bei einem mit Tinte übermalten Fingerabdruck, bei dem keine Wellen mehr sichtbar sind. Gefärbtes, gebleichtes, dauergewelltes oder graues Haar, mit dem die Hälfte der Bevölkerung herumläuft, ist unter dem Mikroskop wenig aufschlussreich. Allerdings erwarten Geschworene heutzutage, dass ihnen ein Haar die Frage nach dem Wer, Was, Wann, Wo, Warum und Wie beantwortet.

Was die Unterhaltungsindustrie aus seinem Beruf gemacht hat, ärgert Eise. Von Leuten, die er kennen lernt, hört er immer wieder, wie sehr sie ihn um seinen aufregenden Beruf beneiden, obwohl er alles andere als spannend ist. Eise sucht weder Tatorte auf, noch trägt er eine Waffe. Das hat er noch nie getan. Er bekommt auch keine geheimnisvollen Anrufe, worauf er in einen High-Tech-Schutzanzug springt und in einem Spurensicherungs-Geländefahrzeug losbraust, um nach Fasern, Fingerabdrücken, DNS oder Marsmännchen zu suchen. So etwas ist die Aufgabe von Polizisten und Spurensicherungsexperten, forensischen Pathologen und Ermittlern. In der guten alten Zeit, als das Leben noch einfach war und forensische Wissenschaftler von der Öffentlichkeit in Ruhe gelassen wurden, fuhren Detectives von der Mordkommission wie Pete Marino in ihren schrottreifen Klapperkisten zum Tatort, sammelten eigenhändig die Beweise ein und wussten, was sie mitnehmen mussten und was sie getrost liegen lassen konnten.

Es ist überflüssig, einen ganzen gottverdammten Parkplatz zu staubsaugen. Man braucht auch nicht das gesamte Schlafzimmer einer armen Frau in Zweihundert-Liter-Müllsäcken abzutransportieren und den ganzen Mist hierher zu schaffen. Das ist, als würde ein Goldsucher das Flussbett mit nach Hause nehmen, anstatt es zuerst sorgfältig zu durchsieben. Allerdings gibt es auch andere, tiefer liegende Probleme, weshalb Eise immer wieder mit dem Gedanken spielt, in Rente zu gehen. Er hat keine Zeit für die Forschung oder auch nur ein bisschen Spaß und wird ständig mit Papierkram drangsaliert, der ebenso fehlerfrei erledigt werden will wie seine Analysen. Er leidet an Augenschmerzen und Schlaflosigkeit. Nur selten erntet er Dank oder Lob, wenn ein Fall aufgeklärt worden ist und der Schuldige bekommt, was er verdient. In was für einer Welt leben wir nur? Und es ist eindeutig schlimmer geworden.

»Wenn Sie Dr. Scarpetta treffen«, meint Eise, »erkundigen Sie sich nach Marino. Wir beide haben uns oft nett unterhalten, wenn er herkam, und im Polizeiclub ein paar Bierchen getrunken.«

»Er ist auch dabei«, antwortet Kit. »Er begleitet sie … Ich fühle mich wirklich ein bisschen komisch. So ein Kitzeln im Hals, und ich habe Schmerzen. Hoffentlich kriege ich keine bescheuerte Grippe.«

»Er ist hier? Du heiliger Strohsack! Dann werde ich den alten Jungen gleich mal anrufen. Das ist ja große Klasse. Also arbeitet er auch an dem toten Mädchen.«

So wird Gilly Paulsson inzwischen genannt, wenn man überhaupt irgendeine Bezeichnung für sie verwendet. Es ist leichter, nicht den wirklichen Namen zu benutzen, vorausgesetzt, dass man sich an ihn erinnert. Opfer werden zu dem, wo man sie gefunden hat oder was ihnen angetan wurde. Die Kofferfrau. Die Kloakenfrau. Das Müllhaldenbaby. Der Rattenmann. Der Isolierbandmann. Was die Geburtsnamen dieser Menschen betrifft, hat Eise zumeist keine Ahnung. Und das ist ihm auch lieber so.

»Falls Scarpetta eine Theorie hat, warum im Mund des toten Mädchens roter, weißer und blauer Lack und dieser merkwürdige Staub gefunden wurde, würde ich die gerne hören«, sagt er. »Offenbar handelt es sich um rot, weiß und blau lackiertes Metall.

Aber es ist auch unlackiertes Metall dabei, kleine schimmernde Splitter. Und noch etwas, von dem ich nicht sagen kann, was es ist.« Wie unter Zwang schiebt er das Material auf dem Objektträger herum. »Als Nächstes führe ich eine Untersuchung mit dem Spektrometer durch, um festzustellen, mit was für einem Metall wir es zu tun haben. Gab es im Haus des toten Mädchens irgendwas Rot-Weiß-Blaues? Ich glaube, ich mache mich mal auf die Suche nach dem alten Marino und geb ihm ein paar kühle Bierchen aus. Junge, ich könnte selbst auch einen Schluck gebrauchen.«

»Reden Sie nicht von Bier«, meint Kit. »Mir ist wirklich nicht gut. Ich weiß, dass wir uns an den Abstrichen und den Klebestreifen nicht anstecken können, aber manchmal, wenn sie den Mist vom Leichenschauhaus hochschicken, kommen mir trotzdem Zweifel.«

»Quatsch. All die klitzekleinen Bakterien sind mausetot, wenn sie bei uns landen«, erwidert Eise und sieht sie an. »Wenn Sie genau hinschauen, werden Sie merken, dass sie winzige Zettelchen am großen Zeh haben … Sie sehen tatsächlich blass aus, Mädchen.« Er nimmt ihren plötzlichen Anfall von Unwohlsein nur ungern ernst, denn ohne Kit ist es einsam hier oben. Aber sie fühlt sich offenbar krank, und es wäre nicht richtig von ihm, das zu ignorieren. »Warum machen Sie keine Pause, Mädchen? Haben Sie sich eigentlich gegen Grippe impfen lassen? Als ich mich endlich dazu aufgerafft hatte, war ihnen der Impfstoff ausgegangen.«

»Bei mir war’s genauso. Ich habe nirgendwo mehr einen Termin gekriegt«, antwortet sie und steht auf. »Ich glaube, ich koche mir mal einen heißen Tee.«

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