Wer stiehlt die Eier?

Am Abend fand sich Grikor im Stall ein. Er hatte sich eine alte Matratze zum Schlafen mitgebracht.

»So«, erklärte er, »ich werde nachts hierbleiben, solange der Großvater fort ist.« In einer Ecke schüttete er Stroh auf, um sich ein Lager zurechtzumachen.

»Vielleicht ist es gar nicht mehr nötig? Es ist ja nur noch kurze Zeit...« , meinte Asmik.

»Doch!« erklärte Grikor bestimmt. »Du hast selber gejammert, weil Eier verschwunden sind. Wer stiehlt sie? Wir müssen das rauskriegen... Schau her, was ich mir für ein schönes Plätzchen zurechtgemacht habe«, fügte er mit zufriedenem Blick auf sein Lager hinzu.

Asmik versuchte zu lächeln. Den ganzen Tag über war sie niedergeschlagen gewesen und hatte auch in der Schule nicht richtig aufgepaßt. Als die sonst so tapfere Mutter geweint hatte, war sie ganz erschrocken, es tat ihr weh.

Grikor trat dicht an sie heran und griff nach ihrer Hand. Er sagte tröstend:

»Asmik-dshan, liebes Schwesterlein, gräm dich nicht, mußt nicht traurig sein... Ich war gestern häßlich zu deiner Mutter... es tut mir leid... will's nicht wieder tun.. .«

Asmik sah den Freund erstaunt und zärtlich an: Dabei haben wir ihn immer für so oberflächlich gehalten! dachte sie.

»Ist ja schon gut, Grikor. . . « , begütigte sie. »Weißt du, ein Mensch kann die Eier nicht gestohlen haben«, fuhr sie nachdenklich fort. »Ein Dieb hätte sicher mehr genommen; es fehlten immer nur ein paar — mal eins, mal zwei. Ich hab's zuerst nicht mal gemerkt. Der Kasten mit den Eiern steht ja ruhig an der Wand und ist zugedeckt. Als ich zufällig mal den Deckel hochhob, kam es mir vor, als wären es weniger Eier geworden. Wer kann denn mit den Eiern etwas anfangen? hab' ich mir gedacht.«

»Hast du nicht auch gedacht, außer Grikor gibt's im ganzen Dorf keinen, der solche Eier essen würde?«

»Ja, wahrhaftig. Du hast recht. Du ekelst dich wirklich vor nichts; du hast ja auch am See welche gegessen, aber daß du sie stiehlst, glaube ich nicht... Als ich dann wieder nachsah, fehlten viele Eier. Du mußt sie alle durchzählen, dachte ich. Na und dann hab' ich sie gezählt. Weißt du noch, wie viele Eier wir als Futter für die Küken zurückgelassen hatten?«

»Ja, einhundertunddreiundsechzig.«

»So, einhundertunddreiundsechzig.«. . . Ich habe nachgezählt, jetzt sind es aber nur noch einhunderteinundvierzig. Am meisten fehlen Möweneier. Wer stiehlt sie, was meinst du?«

»Ich werde es schon noch rauskriegen, Asmik. Verlaß dich drauf. Ich schlafe ja wie ein Hase, mit offenen Augen.«

In den nächsten Tagen erzählte Grikor den Kameraden so komische Geschichten, daß sie nicht wußten, ob sie wahr oder erfunden waren, denn Grikor dachte sich gern Märchen aus. Armjon und Asmik waren eines Tages noch vor Schulbeginn für einen Augenblick in den Stall gekommen, um nach ihren Schützlingen zu sehen.

»Na, Grikor, wie hast du geschlafen?« fragte Kamo den Freund.

»Mein Lager ist herrlich weich«, antwortete Grikor fröhlich, »aber in dieser Nacht habe ich nicht geschlafen. Eine der ,eisernen' Glucken hat die ganze Nacht über so gelärmt, daß mir ganz bange wurde. Wenn sie nur nicht krank ist ...« , und Grikor lächelte verschmitzt. »Sieh mal nach, Armjon, ob sie nicht erhöhte Temperatur hat... Dann belauschte ich das Gegacker der Glucken - und was höre ich da? ,Wir wollen', sagten sie, ,diese eisernen Hennen erwürgen! Wenn sie hundert Küken auf einmal ausbrüten, was bleibt uns Armen dann noch zu tun übrig? Wir werden zugrunde gehen... Man wird uns nicht mehr auf die Eier setzen, wird uns unser Mutterrecht rauben.' Ganz verzweifelt sind sie gewesen, die Ärmsten.«

Die Kinder lachten.

»Ja«, fuhr Grikor - nun bereits in ernstem Tone - fort, »werdet ihr's mir glauben, wenn ich euch sage, daß ich diese Nacht die Eierdiebe ertappt habe?«

»Du hast die Diebe erwischt?« fragten die Kinder aufgeregt. »Wer ist es denn?«

»Mäuse sind es.«

»Unsinn!« rief Asmik. »Wie können Mäuse Eier stehlen? Ich würde dir ja schließlich noch glauben, daß eine Maus ein Ei angeknabbert und ausgetrunken hat. Wie soll aber eine Maus ein ganzes Ei wegschleppen?«

»Es ist aber so - ein ganzes Ei! So wie es da ist, schleppen sie es in ihr Loch und machen dort Rührei für ihre Jungen draus. Es sind ja Mütter, auch sie haben ein weiches Mutter-herz... Hört zu: Seht euch mal den Kasten an, sie haben an der Rückwand ein Loch durchgenagt. Durch dieses Loch holen sie sich die Eier. In der Nacht hörte ich etwas rascheln. Ich wurde hellwach und horchte. Vor dem Kasten mit den Eiern hüpften Mäuse umher. Ich konnte im Mondlicht, das durch die Ritzen dringt, alles sehr deutlich sehen. Die Mäuse führten um die Eierkiste wahre Tänze auf. Ich war ganz erschrocken. Nun hört weiter. Stellt euch vor, rollten doch die Mäuse ein Ei fort! Dann legte sich eine von ihnen auf den Rücken und streckte die Beinchen in die Luft, die andern stupsten das Ei mit dem Kopf und mit den Pfötchen weiter... Auf diese Weise haben sie es dem auf dem Rücken liegenden Mäuschen auf den Bauch gekullert. Das Mäuschen umklammerte es mit seinen Krällchen und drückte es mit seinem langen Schwänzchen noch fester an sich; es sah genauso aus, als hätte sich ein Mensch auf den Rücken gelegt und ein kleines Faß auf die Brust genommen. .. «

Die Kinder staunten:

»Das ist ein Märchen. Das hast du dir ausgedacht, Grikor! «

»Ihr seid komisch«, rief Grikor entrüstet. »Sagt man euch die Wahrheit, glaubt ihr es nicht, lügt man euch was vor, glaubt ihr es auch nicht!« Grikor schien beleidigt. »Ich kann es ja lassen«, sagte er, »ich werde euch nichts mehr erzählen, wenn ihr mir doch nicht traut... «

»Nein, nein, Grikor, erzähle weiter!« rief Asmik. »Aber komisch ist es, das mußt du doch zugeben.«

»Ich würde es auch nicht glauben«, gestand Grikor, »wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte.. . « »Und was geschah weiter?« Die Kinder sahen den Freund neugierig an.

»Weiter? Na, hört zu. Die übrigen Mäuse spannten sich vor die Lastmaus, die das Ei hielt, klammerten sich an ihren Ohren fest, umfaßten ihren Kopf und zogen sie wie einen Schlitten samt dem Ei hinter sich her... Gewiß, die Maus wird dabei nichts zu lachen gehabt haben. — Aber was sollen die Armen tun? Sie müssen doch an die Kinderchen denken! Und so wurde das Ei für die Mäusekinder auf dem Bäuchlein der Mutter ins Nest gebracht... Ich war schon drauf und dran, aufzuspringen und die frechen Eierdiebe zu verscheuchen, ließ es aber doch bleiben. Sollen sie, sagte ich mir, sollen es sich die Mäusekinder gut schmecken lassen! Und ich stellte mich schlafend, um sie nicht zu stören. . .«

Die Kinder lachten über Grikors Erzählung, wurden aber bis zuletzt nicht klug daraus: Hatte er dies alles erfunden, oder stehlen die Mäuse tatsächlich auf so geschickte Weise die kostbaren Eier?

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