Ein Land verändert sein Gesicht

Kamo war nach dem Kriege die Strecke noch nicht wieder gefahren. Vieles hatte sich in diesen Jahren verändert!

Von den Ufern des Sewan-Sees bis unmittelbar nach Jerewan verlief die Chaussee parallel zur Sanga; bald näherte sie sich dem Fluß, bald machte sie eine Biegung und schlängelte sich am Fuße der Berge entlang, die bis zum Flußufer hinabreichten.

Aus einer Schlucht klang das Rattern von Maschinen. Von Zeit zu Zeit wurden Felsen gesprengt. Der ganze Berg schien zu beben.

»Es wird ein Kanal für den Sangafluß gebaut«, erzählte einer der Reisegefährten. »Bald wird man von hier nach Jerewan auch zu Wasser fahren können.«

Der Autobus, in dem sie fuhren, blieb stehen: ein Zug kam vorüber. Auf einem Gleis, das eigens zu diesem Zweck gelegt worden war, wurden Bagger und andere Geräte für die im Bau befindlichen Kraftwerke herangeschafft.

Als der Zug vorüber war und der Autobus den letzten Ge-birgskamm erreichte, breitete sich vor Kamos Blicken in ihrer ganzen Schönheit die Ebene des Ararat aus. An der einen Seite der fruchtbaren grünen Ebene zog sich die Kette der Ausläufer des Kaukasus hin, und ihnen gegenüber stiegen die armenischen Berge empor.

In weiter Ferne, tief unten im Tal, glitzerte wie ein silbernes Band, das sich im Zickzack hinschlängelte, der Fluß Aras.

In Dunst eingehüllt, gleichsam mit einem weißen Turban gekrönt, verlor sich der Gipfel des Großen Ararat in den Wolken. Von seinem Haupte leuchteten die ewigen Schneefelder. Ähnlich einem Zuckerhut ragte neben dem Großen der Kleine Ararat empor.

Kamo, der seinen Platz neben dem Fahrer eingenommen und sich mit ihm angefreundet hatte, bat plötzlich:

»Ach bitte, warten Sie ein wenig ', ich möchte mich so gerne umschauen. «

Er wandte seinen Blick von den schneeigen Berggipfeln hinab in die Ebene. In zarten violetten Dunst gebettet, lagen, zwischen dem Grün der Felder verstreut, zahlreiche Siedlungen. Schlank reckten sich die Schornsteine der neu errichteten Fabriken gen Himmel.

»Wie heiß ist es um diese Jahreszeit in der AraratEbene?« wollte einer der Mitreisenden wissen.

»Sehr heiß«, meinte ein anderer. »Darum haben auch die Früchte sonst nirgends ein solches Aroma und solch süßen Saft wie die der Ararat-Ebene.«

In diesem Augenblick erregte eine neues, Kamo noch völlig unbekanntes Bild seine Aufmerksamkeit.

Zwischen den steinigen Abhängen längs der Chaussee schoß ein breiter Fluß herab und ergoß sich ungestüm in sein neues, frisch auszementiertes Bett. Sprudelnd und schäumend strömte das Wasser darin der Ararat-Ebene zu.

»Nanu, hier war doch sonst kein Fluß. . .«, staunte Kamo.

»Das ist die Sanga. Man hat sie durch unterirdische Kanäle hierhergeleitet«, antwortete der Fahrer so stolz, als sei er selbst am Bau dieser Kanäle beteiligt gewesen.

Der Autobus fuhr jetzt bergab, der breiten Ebene zu. Jerewan war zwar noch nicht zu sehen, doch man spürte bereits den Atem der Stadt. Allmählich tauchten in der Ferne die Schornsteine neuer Fabriken auf. Über ihnen kräuselten sich weiße Rauchwölkchen und verloren sich in den Bergen.

Auf einer Anhöhe, nicht weit von Kanakir, wurde mit Hilfe gewaltiger Maschinen Wasser geschöpft, das sich dann als weißer Gischt in die Tiefe stürzte.

»Was ist das? Diese Anlage habe ich früher nie gesehen.«

»Die gibt es auch noch nicht lange. Es ist ein Wasserhebe-werk«, erklärte einer der Mitreisenden. »Das Wasser wird mit elektrischen Pumpen aus der SangaSchlucht heraufgepumpt und dann durch Kanäle zur Bewässerung neuangelegter Wein-berge weitergeleitet.«

Kamo konnte sich vor Staunen gar nicht fassen. Vor kurzem war hier eine Wüste, dachte er. Sein Erstaunen wuchs aber noch, als sich der Autobus der Stadt näherte. Auf den ehemals ausgedörrten, steinigen Anhöhen, die Jerewan umgaben und auf denen es früher von Schlangen und Skorpionen gewimmelt hatte, erhoben sich jetzt die riesigen Bauten neuer Fabrikanlagen. Zur Linken breitete sich eine weiß schimmernde Siedlung aus. In den Gärten rings um die kleinen Häuser sprudelte überall das belebende Wasser des Sangaflusses.

Noch eine Biegung, und nun zeigte sich den Blicken der Reisenden die Stadt Jerewan. In das Grün der Gärten gebettet und an drei Seiten von Anhöhen umgeben, lag die Stadt in einer Bucht der weiten Ararat-Ebene vor ihnen.

Kamos Herz schlug laut und schnell vor Freude und Erregung. Er war in Jerewan geboren. Hier hatte er als kleiner Junge gespielt...

Der Autobus hielt. Kamo stieg aus, bedankte sich bei dem Fahrer und bog in einen Weg ein, der zwischen Gärten hindurchführte. Links und rechts leuchteten hinter den Zäunen im grünen Laub die reifenden Aprikosen. Sie hatten sich förmlich mit Sonnenwärme vollgesogen.

Eine ältere Frau, die hinter einem Zaun stand, fragte Kamo: »Woher kommst du denn, mein Junge? Wo bist du zu Hause?«

»Ich wohne jetzt am Ufer des Sewan-Sees«, antwortete Kamo.

»Am Sewan? Nun, komm, hier hast du ein paar Aprikosen. Die gibt es dort nicht.« Und ohne auf Kamos Widerspruch zu achten, füllte ihm die freundliche Frau seine Mütze mit den köstlichen reifen Früchten.

Sie hatte recht, daheim, in der wasserarmen, waldlosen Gegend, gab es kein solches Obst. Nicht umsonst werden die Aprikosen vielfach als ,armenische Früchte' und die AraratEbene als ihre Heimat bezeichnet. In der ganzen Welt lassen sich keine anderen Aprikosen, weder im Aroma noch im Aussehen, mit den Aprikosen Jerewans vergleichen ...

Ungeduldig, noch mehr zu sehen, ging Kamo weiter.

Wie groß war seine Heimatstadt geworden! Sie kam ihm auch viel schöner vor.

Da, wo sich früher ein altes Gäßchen mit Lehmbauten hingezogen hatte, erstreckte sich jetzt die schöne Stalinallee. Zu beiden Seiten standen große, prächtige Häuser aus schwarzem, rotem, rosa und hellgelbem Tuffstein.

Die Stadt Jerewan ist auf den Ablagerungen vulkanischer Lava gebaut. Die Bodenschätze sind fast unerschöpflich. Vor vielen Jahrtausenden hatte sich die Lava über diese Landschaft ergossen, sie war versteinert und hatte im Laufe der Zeit den wertvollen, in verschiedenen Farben aufeinandergeschichteten Tuffstein gebildet. Die Bewohner Jerewans brauchten das Material zum Bau ihrer Häuser nicht von weit her heranzuholen.

Kamo konnte sich erinnern, wie er als kleiner Junge oft vor der Werkstatt eines Steinmetzen stehengeblieben war, um ihm bei der Arbeit zuzusehen.

Der Tuffstein ist, wenn er ausgegraben wird, weich wie Holz; er wird zersägt und abgeschliffen. Manchmal hatte Kamo Steine, so groß wie er selber war, aufgehoben, so leicht ist dieses Gestein.

»Sag, Väterchen«, hatte er einmal gefragt, »wie kommt es, daß man aus so weichen Steinen Häuser bauen kann? Werden sie nicht einstürzen?«

Der Alte hatte gelächelt.

»Weich ist der Tuff stein nur, wenn er eben erst aus der Erde gekommen ist. Mit den Jahren wird er hart, und die daraus gebauten Mauern sind sehr fest.«

Kamo sah sich weiter in der Stadt um.

Erstaunt stellte er fest, daß in den letzten Jahren in der Ararat-Ebene, unterhalb Jerewans, eine neue Industriestadt, aus dem Boden gewachsen war, mit langen Reihen gewaltiger Bauten und gut angelegten Arbeitersiedlungen, die sich bis zum Ufer der Sanga erstreckten. Er sah Elektrizitätswerke, die sich in Reih und Glied am Flußufer entlangzogen. In Kupferkabeln wurde die von der Wasserkraft des Sangaflusses erzeugte Energie den in der Ararat-Ebene errichteten Baum-wollfabriken, Konservenfabriken und Pumpstationen zugeleitet.

Das Wasser wird hier mit elektrischer Kraft aus dem Aiger-gjol-See auf die Anhöhen gehoben, und von dort stürzt es herab und ergießt sich in Kanäle, die die Baumwollplantagen und Weinberge bewässern.

Alle Werkstätten, Fabriken und Industrieanlagen der Ararat-Ebene werden durch die Sanga in Betrieb gesetzt. Die Kraft der Sanga aber ist die Kraft des Wassers, das sich im Laufe der Jahrhunderte im Sewan-See angesammelt hat.

In jerewan suchte Kamo als erstes die Redaktion der Pionierzeitung auf, denn er hatte Berichte für die Zeitung geschrieben.

Das junge Mädchen, bei dem sich Kamo erkundigte, ob der Redakteur zu sprechen sei, wies freundlich auf eine zum Nachbarzimmer führende Tür.

Hinter einem großen Schreibtisch saß, über eine Zeitung gebeugt, ein noch junger Mann. Es war der Redakteur.

Gerade läutete das Telefon. Der Redakteur nahm den Höre ab und sprach mit jemand. Als er Kamo bemerkte, wies e einladend auf einen Sessel.

Während der, Redakteur telefonierte, musterte ihn Kamo insgeheim. Die hohe Stirn, die schwarzen Haare, die dunkel braunen Augen und die selbstsichere Stimme gefielen ihm gut Nachdem der Redakteur den Hörer wieder aufgelegt hatte wandte er sich an Kamo.

»Guten Tag, mein Freund, willst du zu mir?«

»Ja, ich bin Ihr Korrespondent Kamo, aus dem Dorfe Litschk am Sewan.«

»Ah, aus Litschk! Ich kann mich erinnern...«

Der Redakteur sah Kamo freundlich an. Der schlanke .Junge mit dem frischen, sonnenverbrannten Gesicht machte einen guten Eindruck auf ihn.

»Ihr scheint mir ja tüchtige Kerle zu sein«, sagt er. »Übrigens, deine Berichte sind immer recht ordentlich geschrieben. Nun, wie steht es — bekommt ihr jetzt genügend Gerste für eure Geflügelfarm?«

»Woher wissen Sie davon?« staunte Kamo.

»Woher wir das wissen? Nun, dazu sind wir doch da. Ist es nicht unsere Pflicht, den Pionieren zu helfen, wenn ihnen die nötige Unterstützung versagt wird? Wie ist es also, bekommt ihr jetzt Futter?«

»Ja, und außerdem haben wir Land bekommen und ernten bald selbst.«

Der Redakteur lächelte.

»Na, und sonst? Womit hapert's in eurer Farm? Oder habt ihr euch noch was Neues ausgedacht?«

Kamo erzählte ausführlich von ihrem Ausflug auf den Tschantschakar, von den Höhlen und von dem, was sie dort gesehen hatten.

Als Kamo zu Ende war, sagte der Redakteur:

»Das ist sehr interessant. Schade, daß ich keine Zeit habe, sonst würde ich selber hinkommen, um zu sehen, was das für Höhlen sind. Wie kann sich der Tschantschakar erdreisten, solchen Burschen wie euch Widerstand zu leisten? Richtige Draufgänger seid ihr j a ! Schwierigkeiten müssen überwunden werden, und Aram Michailowitsch tut gut daran, daß er euch hilft. Ich habe aber gehört, daß ihr zuweilen den Mut sinken laßt. Das ist natürlich zu verstehen. Es ist keine Kleinigkeit, den Tschantschakar zu besteigen oder die Geheimnisse des Gilli-Sees und der Schwarzen Felsen zu lüften. Auch mit eurer Geflügelfarm habt ihr ja noch Sorgen. Die Schwierigkeiten sind sicher groß; doch das schadet nichts! Der Kampf mit der Natur soll der Lebensinhalt junger Menschen sein.«

Als der Redakteur hörte, weswegen Kamo nach Jerewan gekommen war, nahm er sogleich den Telefonhörer auf und wählte eine Nummer. Er sagte jemandem am anderen Ende der Leitung, daß eine Alpinistenausrüstung gebraucht würde.

Sein Gesprächspartner schien sich ablehnend zu verhalten, denn in den schwarzen Augen des Redakteurs blitzte es zornig auf.

»Woher sollen Pioniere Geld haben?« entrüstete er sich. »Die Ausrüstung werden Sie mir leihen und auch von mir zurückerhalten... Nun also, das ist etwas anderes... Gewiß, gewiß. . . « Der Redakteur nickte zustimmend.

Nachdem er den Hörer wieder aufgelegt hatte, sagte er befriedigt zu Kamo:

»So, das hätte geklappt. Du wirst alles bekommen, was d brauchst! «

Dann ließ er seinen Sekretär kommen und gab ihm folgend Anweisung: »Höre dir den Bericht dieses jungen Freundes an. Schreib dir aber alles auf. Dann halte bitte in der Zeitung eine Spalte für einen Artikel über die Geflügelfarm frei, die von den Pionieren des Dorfes Litschk gegründet wurde ... Und du, Kamo schreibe auch selbst einen Artikel, den wir an die ,Pionerskaja Prawda' einsenden werden. Das ganze Land soll von den Versuchen unserer Pioniere aus dem Dorfe Litschk erfahren.«

Kamos Bericht wurde angehört und alles aufgeschrieben. Anschließend wurde er fotografiert und dann in das Amt für Sportangelegenheiten geschickt. Dort bekam er die erbetene Ausrüstung.

Noch am gleichen Abend wurde Kamo in den ,Palast der Pioniere ' geführt, wo er über die Vogelfarm, auf der Wildvögel gezüchtet wurden, berichten mußte.

Zwei Tage später sauste er in einem Kolchos-Auto wieder heimwärts. Er hatte eine Strickleiter, Stöcke mit Haken und andere von Alpinisten benötigte Ausrüstungsgegenstände bei sich. Außerdem hatte er die neueste Nummer der Pionierzeitung mitgenommen; auf einer Seite unter der Überschrift ,Neue Wege junger Pioniere im Dorfe Litschk' war ein langer Artikel abgedruckt. In der Mitte des Artikels stand Kamos Bild.

Armjon wälzte sich die ganze Nacht schlaflos von einer Seite auf die andere — die Eindrücke des verflossenen Tages ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Auch die anderen Kinder hatten eine unruhige Nacht gehabt.

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