Und wieder geht's zu den Schwarzen Felsen

Es dämmerte. Als Asmik an diesem Morgen erwachte, war die gestrige Last, die Sorge um Kamo und den Großvater, von ihr gewichen.

Leicht und froh warf sie die Decke zurück, sprang auf und kleidete sich rasch an. Sie mußte zu Kamo. Aber zu so früher Stunde wollte sie doch nicht allein hingehen. Und deshalb holte sie zuerst Grikor ab.

»Kommst du mit zu Kamo?«

Grikor war sofort bereit...

Kamos Mutter öffnete, legte aber warnend den Finger an die Lippen und flüsterte:

»Pscht! Er schläft.«

»Laß ihn schlafen, Mütterchen, er hat es nötig«, antwortete Grikor. »Asmik, du kommst mit mir nach Hause.«

Auch Armjon und Seto fanden sich bald darauf bei Grikor ein.

»Wir wollen Kamo abholen«, schlug Armjon vor.

»Nein, er schläft und darf nicht gestört werden.«

»Gut, soll er sich ausruhen. Wir müssen aber Artusch noch abholen, er wollte unbedingt mitkommen.«

Sie verließen das Haus.

»Wohin, Grikor?« rief ihm die Mutter nach.

»Zu den Schwarzen Felsen!« Er wußte, daß seine Mutter diesmal nichts einwenden würde.

Nachdem sie dann Artusch abgeholt hatten, schritten sie munter voran. Vor ihnen breitete sich das bekannte Bild aus: von der Sonne versengte, nach Wasser lechzende Felder und Wiesen!

Die Kolchosarbeiter waren mit der Verbreiterung und Vertiefung des alten Kanals gut vorwärtsgekommen. Wie ein breites, dunkles Band zog er sich die Abhänge des Dali-Dagh bis zu den Feldern hinunter. Die Arbeiter hatten während der Nacht wahre Wunder vollbracht — der Kanal war fast fertig!

Das war zum Teil das Verdienst des Vorsitzenden Bagrat, der die Arbeiter immer wieder anfeuerte:

»Schafft, schafft, Leute. Jeder muß sich vornehmen, vier Kubikmeter Erde auszuheben. .. Koste es, was es wolle — heute noch wird das Wasser in den Kanal geleitet.«

Während Bagrat dies sagte, ertönten von den Schwarzen Felsen her kurz nacheinander mehrere Detonationen. Der Ein-gang zur Höhle war in dichte Staub- und Rauchwolken gehüllt.

»Wir haben uns verspätet«, sagte Armjon bekümmert. »Sie sind uns zuvorgekommen. Kommt schneller!«

Fast im Laufschritt eilten die Jungen weiter. Asmik konnte kaum mit ihnen Schritt halten.

Endlich hatten sie die Schwarzen Felsen erreicht. Die alte Eiche war von oben bis unten gespalten und verkohlt. Zersplittert hingen die Äste herab. Der Kupferkrug lag verrußt und plattgedrückt auf der Erde.

Auf dem Gipfel der Schwarzen Felsen tauchten Leute auf. Jemand rief herunter:

»Grikor, seid ihr es? Kommt Ablösung?«

»Ja, wir kommen schon. Laßt die Spitzhacken oben und kommt runter.«

Die Kinder kletterten hinauf.

Mit ausgebreiteten Schwingen kreisten drei Adler über den Köpfen der Jungen. Sie mochten irgendwo in den Höhlen ihre Horste haben und waren von dem Lärm aufgescheucht.

Doch heute hatte niemand Zeit, sich um die Adler zu kümmern. Armjon und Grikor krochen in die Höhle. Sie war dunkel und feucht. Der Eingang war ziemlich schmal, doch dahinter wurde die Höhle allmählich breiter. Der feuchte Boden und die Wände waren mit Schimmel und Schlamm bedeckt. Von unten her drang ein dumpfes Getöse herauf. Je weiter die jungen in die Höhle eindrangen, desto lauter und unheimlicher wurde es.

Sie kamen zu einem schmalen Spalt in einer Seitenwand.

Artusch zündete seine Laterne an. Ein starker, eisiger Luftzug schlug ihnen aus dem Spalt entgegen und blies das Licht wieder aus. Es blieb den jungen Forschern nichts anderes übrig, als sich im Dunkeln weiterzutasten — auf allen vieren krochen sie aufwärts. Der Weg war ihnen bereits bekannt. Aus diesem Gang kam man in eine zweite Höhle, in der die ersten Sprengungen stattgefunden hatten. Hier war mit der Spitzhacke nachgeholfen worden. Die Arbeiter hatten das Werkzeug und den Sprengstoff zurückgelassen.

In der Höhle war es stockfinster. Das geheimnisvolle unterirdische Rauschen war hier besonders deutlich zu hören und wurde von einem vielfachen Echo verstärkt.

»Wenn wir dem Wasser einen Ausweg schaffen, wird es sich zuerst in den Gang ergießen, durch den wir eben gekommen sind«, überlegte Armjon. »Es wird uns also den Weg ab-schneiden, und wir werden hier gefangen sein. Wir müssen den Ausgang erweitern. «

Die Kinder zündeten die Laternen wieder an, fanden das Werkzeug und untersuchten den Gang. Das Gestein im Innern der Höhlen war weich, und es würde also nicht zu schwer sein, den Zugang zu der Breite einer normalen Tür auszuhauen. Die Kinder wandten sich dem Teil der Höhle zu, in dem die Kolchosarbeiter bereits eine Mulde ausgehauen hatten. Hier war das Rauschen noch deutlicher zu hören.

Grikor machte wieder seine Späße:

»Na, die armen Sünder müssen gehörig schmoren. Am Ende werden wir noch die Seele vom Gevatter Mukel rausfischen und sie dem Großvater als Geschenk mitnehmen!«

Asmik, die den Freunden gefolgt war, schüttelte sich. Sie hatte stets ein bißchen Angst und schmiegte sich Schutz suchend an Armjon.

Am mutigsten benahmen sich Seto und Grikor.

»Keine Angst!« beruhigte Grikor die Freunde. »Was ihr da hört, ist Wasser, eingekerkertes Wasser. Bald werden wir ihm die Freiheit schenken.. . Leuchte mal, Seto!«

»Nein, leuchten kann Asmik, wir werden die Spitzhacken nehmen«, sagte Seto und gab dem Mädchen die Laterne.

Sie kletterten über die von der Sprengung umherliegenden Steine und stiegen in die Mulde hinab, unter der das Wasser brauste. Der schwache Lichtkreis der Laterne beleuchtete matt und gespensterhaft den zerklüfteten Boden.

Armjon zog seine Jacke aus und legte sie Asmik um die Schultern. Sie zitterte noch immer, vielleicht vor Angst, vielleicht auch vor Kälte.

»Laß doch«, wehrte sie ab. »Du wirst dich erkälten.«

»Wo denkst du hin! Bei der Arbeit wird man schnell warm.«

Grikor, Seto und Artusch gingen mit wahrem Feuereifer dem felsigen Gestein zu Leibe.

Asmik stand mit der Laterne in der Hand am Rande der Mulde. Sie zitterte immer stärker, Armjons Jacke wärmte nicht, und die Laterne schwankte so sehr, daß der Lichtschein hin und her huschte.

»Nein, das geht ja nicht«, sagte Armjon schließlich. »Du wirst hier erfrieren, Asmik. Geh lieber nach Hause, mit der Laterne werden wir auch ohne dich zurechtkommen.«

»Nein, nein«, rief Asmik. »Um keinen Preis gehe ich.«

»Geh, geh, du kannst zu Hause mehr nützen. Geh und kümmere dich um Kamo, heitere ihn auf. Erzähle ihm, was wir hier tun.«

»Nein!« sagte Asmik nochmals und errötete bis über die Ohren.

»Aber wirklich«, mischte sich jetzt Seto ein, »es hat gar keinen Sinn, daß du hierbleibst. Geh nach Hause, die Laterne werden wir zwischen den Steinen festklemmen. Das Licht wird dann nicht so über den Boden tanzen wie jetzt.«

Asmik gab endlich nach. Seto begleitete sie bis zum Ausgang der Höhle und half ihr auf den Gipfel hinauf.

Am Rande des Dorfes blieb Asmik unschlüssig stehen. Sollte sie nach Hause gehen?. . . Nein, lieber gleich zu Kamo!

Anaid öffnete ihr. Sie sah blaß aus, und ihre Wangen waren eingefallen, aber die Augen leuchteten froh und glücklich.

Sie umarmte und küßte das Mädchen. Asmik schmiegte sich an ihre Brust, ein warmes, geborgenes Gefühl durchrieselte sie.

Kamos Mutter, der der Schrecken und die Freude des gestrigen Tages noch in den Gliedern saßen, weinte leise. »Wie geht es Kamo?« fragte Asmik leise.

Als Antwort kam aus dem Nebenzimmer eine muntere Stimme:

»Komm her, Asmik, sonst stehe ich auf und komme heraus... «

»Nur nicht«, schrie die Mutter entsetzt. »Am Ende springt er wirklich noch aus dem Bett! Geh zu ihm hinein, Asmik...«

Das Mädchen ging in das Zimmer, in dem Kamo neben dem breiten, hellen Fenster im Bett lag. Er strahlte sie mit seinen großen schwarzen Augen freudig an.

Asmik war so glücklich, daß sie sich Mühe geben mußte, nicht zu weinen.

Kamo redete ihr freundlich zu und strich zärtlich über Asmiks Haar.

»Und du, Mutter, weshalb weinst du denn?« rief er. »Ich bin doch am Leben geblieben. Warum weint jeder, der zu mir kommt, anstatt sich zu freuen. Ihr seid komische Menschen.

Stirbt jemand — wird geweint. Wird jemand gesund — wird auch geweint. . . «

Asmik mußte lachen und wischte sich schnell eine heimliche Träne aus den Augen.

» So ist's recht! « rief Kamo. »Lachen ist gesund! «

Asmik setzte sich auf den Bettrand und sah Kamo an.

Kamos Mutter hantierte in der Küche und ließ die Freunde allein.

Sie unterhielten sich leise.

»Wie war dir zumute, als die Explosion loskrachte?« fragte Asmik.

»Wie mir zumute war? Das läßt sich schwer sagen... Nach der Explosion schien es mir, als würde ich von unsichtbaren Händen hochgehoben und zugleich würde mir heißes Wasser über den Rücken gegossen. Wahrscheinlich wurde ich im gleichen Augenblick auf den Steinhaufen geschleudert. Was dann mit mir geschehen ist, weiß ich nicht mehr. Ich habe nichts mehr gefühlt, bis ich hier wieder zu mir gekommen bin.«

Asmik schauerte zusammen.

»Wenn du wüßtest, wie schrecklich es war, dich so zu sehen... Wie tot lagst du auf der Bahre.«

»Hast du das schon mal erlebt: Du träumst schwer, du weißt, daß es ein Traum ist, willst aufwachen — und kannst nicht? So war es, als ich langsam zu mir kam. . . «

»Hast du dich nicht gewundert, daß so viele Menschen um dich herumstanden?«

»Ich konnte noch gar nichts denken. Dann begriff ich allmählich, daß mir etwas zugestoßen sein mußte. Alle sahen mich so mitleidig und freundlich an. Ich dachte: Wie kommt es, daß dich alle plötzlich so liebhaben?«

Asmik mußte nun doch herzlich lachen.

»Wir haben dich auch wirklich alle sehr lieb, Kamo«, versicherte sie lebhaft. »Aber was hast du da? Zeig mal deine Hand. «

»Nichts weiter, eine Schramme«, sagte Kamo und versuchte, seine Hand zu verstecken.

»Das muß dir doch weh tun. Armer Kerl!«

»Ach, nicht der Rede wert... Wenn die Mutter kommt, sage ich es ihr«, sagte Kamo rasch.

Aber Asmik hatte schon ein sauberes Taschentuch genommen, feuchtete es an, legte es auf und umwickelte die Hand mit einem Handtuch.

Kamo ließ alles widerspruchslos über sich ergehen. Er verfolgte jede Bewegung des Mädchens mit zärtlichen Blicken. Nach einer Weile erneuerte Asmik den Umschlag. »Nun erzähle weiter, Kamo«, bat sie.

»Als ich begriffen hatte, was geschehen war, war mein erster Gedanke: Asmik wird geweint haben! Und weißt du — darüber freute ich mich.«

»Gefreut hast du dich, weil du mich zum Weinen gebracht hast?... «

»Ja... du tatest mir aber auch leid, und ich dachte: du mußt rasch gesund werden, damit Asmik wieder froh ist ...« Asmik sah den Freund zärtlich an.

Nach einer Pause sagte sie:

»Was hast du dir eigentlich gedacht, als Großvater Assatur neben dir die Kostbarkeiten ausschüttete? Hast du gesehen, was es für prachtvolle Geschmeide waren? ... Gewiß hat sie früher die Fürstin Anaid getragen... Ich konnte mich nicht satt daran sehen.. . «

Den ganzen Tag blieb Asmik bei Kamo sitzen, wechselte die Umschläge und plauderte mit ihm.

Gegen Abend wurden im Flur Schritte laut, die Tür wurde geräuschvoll aufgerissen, Armjon, Grikor, Seto und Artusch stürzten ins Zimmer.

»Ihr seid mir ja die Richtigen. Wir werden in die Hölle geschickt, und ihr drückt euch und macht es euch hier gemütlich!« rief Grikor und fuhr, zu Asmik gewandt, lachend fort: »Du hast uns ein schönes Theater vorgespielt, hast gezittert und gebarmt — ,Ich friere so!'«

Kamo wurde von den Freunden umringt und fröhlich begrüßt.

Erst jetzt hatte er bemerkt, daß Artusch mit dabei war. Er stand verlegen in einer Ecke des Zimmers neben dem Schrank und drehte seine Mütze in den Händen. Wie die anderen, war er mit Staub und Erde bedeckt.

Über Kamos lebhaftes Gesicht huschte ein Schatten. Asmik merkte es, und sie kam Artusch zu Hilfe.

»Hier«, sagte sie, »siehst du ein neues Mitglied unserer ,Vereinigung junger Naturforscher'. Artusch arbeitet mit uns in der Höhle und vertritt dich. Seine ganzen dummen Streiche tun ihm schrecklich leid, und wir haben ihm alle verziehen. Du wirst ihm doch auch verzeihen, Kamo?« bettelte sie.

Kamo war viel zu gutherzig, als daß er nicht allen Menschen freundlich entgegengekommen wäre.

Als daher Artusch näher kam, um Kamo um Verzeihung zu bitten, legte dieser ihm schnell die Hand auf den Mund und sagte in herzlichem Ton:

»Laß gut sein, Artusch. Wir werden von jetzt ab gute Freunde sein. Ich hab's mir schon lange gewünscht.«

Und die Jungen umarmten sich.

Armjon fragte:

»Wie fühlst du dich denn, Kamo?«, und er griff nach der Hand des Freundes.

»Im Kopf ist noch ein dumpfes Gefühl, aber sonst geht's mir gut. «

»Kein Wunder!« lachte Grikor. »Wenn ich eine solche Pflegerin hätte!« - Er sah Asmik schmunzelnd an. »Mein Bein wäre in zwei Tagen gesund... Ehrenwort! «

»Hör auf, Grikor, hör schon auf!« zürnte Asmik und zupfte Grikor an seinen schwarzen Locken. »Ich gebe dir mein Wort, daß ich dich pflegen werde, wenn du dich endlich zu der Operation entschließt und dein Bein von den Ärzten geradebiegen läßt. «

»Wie ist es mit dem Wasser?« wollte Kamo nun wissen.

»Das Wasser wird kommen, wir arbeiten daran... Heute sind wir beim Graben bis zu einer riesigen Steinplatte vor-gestoßen«, sagte Grikor. »Direkt darunter ist das Wasser, das steht fest. Der Stein muß gesprengt werden — und das Wasser wird wie eine Fontäne herausschießen. «

Kamo richtete sich aufgeregt im Bett hoch:

»Warum haben sich andere in diese Sache eingemischt? Wir haben das Wasser gefunden, und wir müssen es auch sein, von denen das Dorf Wasser bekommt. Versteht ihr — von uns, den Jungpionieren. Es wäre eine Schande, wenn uns irgend jemand zuvorkäme. Für uns ist das eine Frage der Ehre.«

»Wir allein hätten es nicht so schnell geschafft, Kamo, und Eile tut not«, erklärte Armjon. »Es war schon recht von ihnen, uns zu Hilfe zu kommen. Wenn das Wasser noch zwei oder drei Tage ausbleibt, geht die Ernte gänzlich zugrunde.«

»Wo sind jetzt das Dynamit, die Kapseln und die Zündschnüre?« fragte Kamo.

»Alles, was zum Sprengen gebraucht wird, ist in der Höhle«, antwortete Grikor.

»Das ist gut, sehr gut«, sagte Kamo. »Ich weiß nun Bescheid.«


Загрузка...