Die schönsten Bewohner des Dali-Dagh

Sie mußten lange warten.

Unerträglich heiß brannte die Sonne auf die jungen Naturfreunde herab. Doch der Wunsch, die wilden Ziegen und die Gemsen zu sehen, ließ sie geduldig ausharren.

Ringsum war alles still. Über ihren Köpfen brummten die Hummeln, und nur von Zeit zu Zeit erscholl, vom Wind herübergetragen, die Stimme des ruhelosen ,Wassermanns '.

Endlich war ein leises Rascheln zu hören. Der Großvater legte den Finger auf die Lippen und horchte. Dann wies er mit einer kaum wahrnehmbaren Kopfbewegung zum Kamm des gegenüberliegenden Berges und lächelte geheimnisvoll.

Asmik riß vor Verwunderung die Augen weit auf und hätte wohl abermals einen Schrei des Entzückens ausgestoßen, wenn Kamo ihr nicht den Mund zugehalten hätte.

Drüben, auf dem Kamm des Berges, hoben sich vom blauen Himmel die Umrisse eines Tieres ab. Es war ein großer Bock. Er stand, den Kopf majestätisch erhoben, auf einem Felsvorsprung; still und fest wie in Stein gehauen.

Geraume Zeit blieb er stehen und sicherte. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß keine Gefahr drohte, stieg er langsam von seinem Postament herunter und war plötzlich ihren Blicken entschwunden.

»Habt ihr ihn gesehen?« fragte der Großvater mit vor Aufregung belegter Stimme. »Das war ein Kundschafter. Jetzt ist er zum Rudel zurückgekehrt und wird berichten, daß nichts zu fürchten ist.«

»Weshalb hast du ihn nicht erlegt?« wollte Grikor wissen. »Wie kannst du dir solch einen Braten entgehen lassen?«

Der Großvater blickte Grikor zornig an.

»Wie ruchlos müßte die Hand sein, die auf ein solches Tier schießt!« sagte er empört in seiner pathetischen Art. »Weshalb denn? Ist dieser Bock etwas Besonderes?«

»Etwas Besonderes?... Läge hier an der Quelle ein Wolf oder ein Panther im Hinterhalt — wer würde als erstes Opfer fallen? Natürlich er! Und dennoch geht er, um auszukundschaften, ob für das Rudel keine Gefahr besteht, ob der Weg frei ist! ... Wie ruchlos müßte der sein, der auf ein solches Tier anlegt!« wiederholte der Alte ganz entrüstet.

Wieder war das Rascheln im dürren Gras und das Klappern abbröckelnden Gesteins zu hören. Der alte Jäger verstummte und legte wieder warnend den Finger auf die Lippen.

Auf dem Gebirgskamm, hinter dem der ,Kundschafter' verschwunden war, tauchte jetzt nach und nach das ganze Rudel auf.

Die Tiere sprangen von einem Stein zum anderen und näherten sich in großen Sprüngen der Quelle.

Es waren so viele, daß die Kinder meinten, der Zug nehme kein Ende. Immer neue tauchten über dem Gebirgskamm auf.

Bald umringte das Wild die Quelle, und ein heißer Kampf entbrannte um den besten Platz am Wasser und um das Salz. Krachend stießen die Hörner der Böcke gegeneinander. In ihrer Gier nach Salz und in ihrem grausamen Durst versuchte ein jeder, den anderen beiseite zu drängen.

Die Tiere hatten ein graues Fell mit einem etwas dunkleren Streifen, der vom Kopfe über den Rücken lief. Bei einigen Böcken führte außerdem ein dunkler Streifen quer über den Rücken und zog sich zur Brust hin. Beim Anblick der Tiere dachte Armjon: Eine Kreuzung dieser wilden Böcke mit unseren Haustieren müßte herrliche Exemplare ergeben.

Gierig stillten die Tiere ihren Durst und leckten das Salz. Dazwischen hoben sie sichernd die Köpfe und blickten sich argwöhnisch nach allen Seiten um.

Die in der Wildnis lebenden Tiere halten sich niemals lange am Wasser auf. Aus Instinkt und Erfahrung wissen sie, daß die Gefahr für sie nirgends größer ist als an einer Quelle. Hier liegen ihre Feinde, weil sie damit rechnen, daß die vom Durst gequälten Tiere früher oder später doch zur Tränke kommen werden.

Sobald ihr Durst gelöscht war, kehrten sie unverzüglich auf dem Wege, auf dem sie gekommen waren, zurück. In großen Sätzen erklommen sie den gegenüberliegenden Bergrücken und verschwanden hinter dem Kamm.

Noch lange Zeit, nachdem sich das Rudel entfernt hatte, war der Kopf des sichernden Kundschafters auf der Höhe des Bergrückens zu sehen. Er mußte auf seinem Platz ausharren, bis das ganze Rudel in Sicherheit war.

Erst dann sprang der Bock vom Felsen herab und folgte den anderen nach.

Die Kinder atmeten erleichtert auf.

»Siehst du — und du wolltest, ich sollte schießen!« tadelte der Großvater Grikor nochmals.

»Du brauchtest ja nicht gerade diesen Bock zu erlegen, konntest du nicht einen anderen aufs Korn nehmen? Es waren doch genug«, meinte Kamo.

»Wenn Tiere an der Tränke sind, darf man sie nicht töten. Ein Sprichwort sagt, daß sogar die Schlange den nicht beißen wird, der gerade trinkt. So ist es, Kinder! Der Jäger vergießt zwar Blut, aber auch er hat ein Herz und ein Gewissen.«

»Sag mal, Großväterchen, weshalb waren das lauter Böcke und kein einziges weibliches Tier und auch keine Jungen?« fragte Armjon dazwischen. Diese Frage hatte ihn schon die ganze Zeit beschäftigt.

»Ja, ich habe mich auch gewundert, lauter Böcke!« mischte sich nun auch Asmik ein. »Warum ist das so, Großväterchen? «

Der Alte lächelte und strich sich den langen weißen Bart.

»Woher soll ich es wissen?« erwiderte er, indem er Grikor verschmitzt zuzwinkerte.

Die Kinder standen vor einem Rätsel. Sie versanken für eine Weile in Nachdenken. Als erster brach Armjon das Schweigen:

»Bilden die Böcke denn immer besondere Herden?«

»Nein, nur vom Juni bis Anfang Dezember, nicht länger.«

»Und dann?«

»Dann sind die Böcke mit den weiblichen Tieren zusammen in einer Herde — ein Rudel nennt man das. Sie bleiben zusammen, bis die Jungen geboren werden. Aber sobald die Jungtiere etwas herangewachsen sind, nehmen die Mütter sie, und fliehen von den Vätern möglichst weit fort. Getrennt von den Böcken, leben die Ziegen dann mit ihren Jungen in den Bergen.«

»Sie fliehen von den Vätern fort?« fragte Kamo erstaunt. »Nun ja, sie fliehen in großer Angst vor den Vätern, wie vor einem Wolf oder einem Jäger... «

Die Kinder hörten erstaunt, was der Großvater ihnen berichtete, und die Verwunderung stand deutlich auf ihren Gesichtern. Wie war dieses Rätsel zu lösen? Weshalb fand diese Trennung der Tiere statt?

»Pscht!« flüsterte plötzlich der Großvater und hob den Finger.

Über dem Gebirgskamm, hinter dem die Böcke verschwunden waren, tauchte abermals ein Kopf auf. Die Hörner dieses Tieres kamen den Kindern besonders mächtig vor — fast doppelt so groß wie die des ersten Kundschafters. Diesmal jedoch war es ein weißer Bock, er war außergewöhnlich groß. Wuchtig stand er da, wie ein junger Stier. Er spähte herüber und verschwand wieder.

Vom Jagdeifer gepackt, wurde der Großvater ganz unruhig. Seine Augen bekamen einen fieberhaften Glanz.

»Habt ihr ihn gesehen? — Habt ihr ihn gesehen?« wiederholte er immer wieder. »Er ist ungefähr zwölf Jahre alt, und seine Hörner sind nahezu zwei Arschin[9] lang ...«, flüsterte er auf-geregt. »Ein altes Tier! So alte Böcke kommen selten vor. Wenn sie acht Jahre alt sind, geht es gewöhnlich sehr schnell mit ihnen. Sie werden klapprig und unsicher und sind dann meist ein Opfer der Wölfe.«

»Woran erkennst du, daß er zwölf Jahre alt ist?« fragte Kamo.

»An den Ringen um die Hörner. Jedes Jahr kommt ein neuer Ring hinzu. «

»Und weshalb ist er so weiß?«

»Er ist alt geworden — wie ich«, sagte der Greis und zeigte auf seinen weißen Bart. »Seid still, Kinder! Es kommt ein anderes Rudel zur Tränke.«

Grikor, der sich einen Braten wünschte, bettelte:

»Großvater, jetzt wirst du aber doch eins schießen?«

Doch der Alte herrschte ihn an:

»Nein! Ich sagte dir doch, daß ich so etwas nicht tue!«

Lautes Getrappel drang zu den Kindern. Der weiße Leitbock kam zur Quelle, und ein großes Rudel folgte ihm. Ohne stehenzubleiben, ohne zu sichern näherten sich die Tiere der Wasserstelle. Ihr Fell war rötlichbraun; kaum daß es sich von den Felsen abhob.

Das Rudel hatte seinen Durst gestillt und war gerade wieder hinter dem Gebirgskamm verschwunden; da raschelte es erneut im Gestrüpp, und nun tauchte eine Reihe schlanker, dünnbeiniger Tiere mit auffallend kleinen Köpfen und geschmeidigen Hälsen auf. Sie hatten spitze, kurze Hörner. In eleganten Sprüngen galoppierten sie zur Quelle.

„Gazellen”, flüsterte Asmik aufgeregt. Ihr Herz klopfte so laut und so stürmisch, daß es ihre Freunde hören konnten.

»Pst, das sind wilde Ziegen«, erklärte der Großvater kaum hörbar. Doch so leise sie auch gesprochen hatten, das Tier an der Spitze war wie versteinert stehengeblieben, hob den Kopf und stieß ein paar Warnlaute aus. Die Zicklein, die zum Wasser drängten, horchten auf und eilten zu ihren Müttern. Die übrigen Tiere waren ebenfalls stehengeblieben. Die Farbe ihres Fells verschmolz mit der ihrer Umgebung. Sie waren kaum noch von dem felsigen Hintergrund zu unterscheiden.

Nachdem die Tiere sich überzeugt hatten, daß ihnen keine Gefahr drohte, wandten sie sich wieder der Quelle zu. Doch dann tauchte plötzlich über dem Bergkamm die Silhouette des weißen Leittieres auf. Die Ziege an der Quelle stieß wieder ihre Warnlaute aus, und in wilder Flucht raste das Rudel, von den Zicklein gefolgt, davon und war im Nu in der Schlucht verschwunden.

»Habt ihr das gesehen?« sagte der Großvater.

»Und wie sie davonstoben«, rief Armjon, dem das Dahinjagen des Rudels am besten gefallen hatte.

Der Großvater fuhr fort:

»Die Zicklein werden im Mai geboren, und im Juni, wenn sie etwas herangewachsen sind, trennen sich die Böcke von den Ziegen so plötzlich, als habe sie jemand mit einem Knüppel auseinandergetrieben... Die Böcke ziehen auf die oberen Hänge des Dali-Dagh, die Ziegen mit ihren Zicklein nach unten, zwischen die Felsen.«

»Weshalb zwischen die Felsen?« fragte Kamo erstaunt. »Warum ziehen die Böcke zu den besseren Weideplätzen und die Ziegen zu den schlechteren? Und obendrein noch mit ihren Jungen! «

»Die oberen Felsplateaus sind zu ungeschützt. Nirgends können sich die Tiere verbergen. Den Böcken macht das nicht viel aus. Sie können dem Wolf leichter entfliehen, ja, wenn es sein muß, können sie ihm auch entgegentreten und ihn bekämpfen. Aber wohin sollten die Zicklein fliehen? Darum verbergen sich die Ziegen mit ihren Jungen vor den Wölfen, den Füchsen und Adlern in den Felsenhöhlen.«

»Zwischen den Felsen ist es aber heiß, und viel Grünes finden sie da auch nicht zum Fressen«, meinte Asmik.

»Es bleibt ihnen aber nichts anderes übrig. Die Ziegen sind Mütter und, wie alle Mütter auf der Welt, bringen sie für ihre Kleinen Opfer und nehmen Entbehrungen auf sich«, schloß der Alte und erhob sich.

»Ach, wollen wir doch noch hierbleiben und auf die Ziegen warten, die werden sicher zurückkommen«, bettelte Asmik.

»Wiederkommen werden sie, Kindchen, aber nicht so bald, sie sind jetzt ängstlich geworden. Und ihr habt so lange in der heißen Sonne gesessen - ihr werdet Kopfschmerzen bekommen. - Ja, ein richtiges Paradies habt ihr dem Wild hergezaubert«, fügte der Alte hinzu, indem er ganz verzückt zur Quelle hin-überblickte. »Wenn es nur mehr solcher Quellen gäbe! Habt ihr gesehen, wie sie sich gegenseitig wegdrängten?«

»Ich hab's«, rief Kamo, »wir werden gleich einen großen Brunnen graben.«

»Womit denn? Ihr habt doch keine Spaten.«

»Wir machen uns welche, wir nehmen deinen Dolch und schnitzen Schaufeln, damit können wir die Erde auswerfen. « Gesagt - getan. Aus den stärksten Ästen wurden Schaufeln angefertigt, und Kamo reichte sie den Kameraden:

»Grabe du hier«, sagte er zu Grikor, indem er etwa einen Schritt unterhalb der Quelle einen Kreis zog.

Etwas tiefer noch begann Armjon zu graben, und einen weiteren Schritt tiefer Kamo. Nachdem sie auf diese Weise drei neue Gruben ausgeworfen hatten, verbanden sie sie durch schmale Kanäle mit der Quelle. Nun sickerte das überflüssige Wasser nicht mehr ungenützt in den Boden, sondern füllte die neu ausgeworfenen Gruben.

Der Großvater hatte sich in der Nähe auf einem Stein niedergelassen und beobachtete den Eifer der Kinder.

»Zerbrecht das Steinsalz in kleinere Stücke«, riet er, »und verteilt es an den Wasserlöchern.«

»Es bröckelt«, rief Kamo, »was machen wir mit den kleinen Stücken?«

»Die wirfst du einfach ins Wasser«, rief der Großvater. »Dann sind die Ziegen gleich fertig gesalzen und können gebraten werden«, scherzte Grikor.

Anstatt einer Antwort zeigte der Alte auf den Rand eines tiefer liegenden Felsvorsprungs; dort war eine Ziege mit spitzen kleinen Hörnern aufgetaucht.

»Die Ärmste wartet darauf, daß wir endlich weggehen sollen. Der Durst quält sie... Kommt!« sagte der Großvater und schlug den Weg zum Dorf ein.

»Ach, was haben wir heute alles erlebt«, rief Asmik, als sie daheim angelangt waren. »Eine richtige Expedition war es!«

»Ja, wir haben heute wirklich viel gelernt«, bekräftigte Armjon und sah den Großvater dankbar an.

Der Alte blieb mitten auf dem Wege stehen. Von seinem kahlen Schädel floß der Schweiß in Strömen über das runzlige Gesicht. Er wischte ihn mit seiner Pelzmütze ab.

Armjon sagte, zu Kamo gewandt:

»Wenn wir den Großvater nicht hätten! Was der alles weiß! Er braucht es nur herauszuholen wie aus einer Schatzgrube.«

Großvater Assatur aber hatte nur das Wort Schatzgrube aufgefangen. Er erbleichte.

»Was für eine Schatzgrube?« stotterte er.

»Wir sprechen von dir, Großväterchen«, erwiderte Kamo.

» Von mir? Was habe ich denn mit einer Schatzgrube zu tun?« stotterte der Alte.

»Unerschöpflich ist sie, Großväterchen«, rief Kamo zärtlich. Der Alte wurde immer aufgeregter:

Wissen es die Kinder?... Bin ich verloren? ... ging es ihm durch den Sinn. Und er würde sich zweifellos verraten haben, hätte Kamo nicht hinzugefügt:

»Ist nicht das, was du alles über die Natur weißt, wie eine Schatzgrube?«

»Ach so... diesen Schatz meinst du!« Der Großvater atmete erleichtert auf. »Ja, das ist natürlich ein großer Schatz...«

Dann dachte er eine kleine Weile nach und fügte hinzu: »Mir aber kam, als ihr von einem ,Schatz' spracht, in den Sinn: Was würdet ihr wohl tun, wenn ihr einen ganzen Krug voller Gold fändet?«

»Ich würde ein elektrisches Hebewerk bauen und das Wasser aus dem Sewan auf den Berg heben und von dort durch Kanäle auf unsere Kolchosfelder leiten... Wie würden dann unsere Saaten aufleben!« schwärmte Armjon.

»Ich würde tausend Kälber und tausend Bienenstöcke kaufen und würde die Kolchosherde vergrößern und eine große Imkerei einrichten«, erklärte Grikor.

Zur Verwunderung der Kinder zeigte der Großvater keinerlei Freude über ihre Antworten.

Dennoch kamen sie in guter Stimmung zu Hause an. Nur eines bedrückte sie und dämpfte ihre Freude: sie hatten noch immer kein Wasser gefunden, und die Dürre hielt an...

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