Eine verzauberte Stadt

»Armjon, du nimmst die Karte«, sagte Kamo. »Wir werden auf der Hinfahrt außerdem Kennzeichen im Schilf anbringen, damit wir uns nicht trotz der Karte auf der Rückfahrt verirren.«

Kamo und Grikor ruderten. Armjon breitete die Karte vor sich aus, studierte sie eifrig und bediente das Steuer.

Der See, auf dem sie sich befanden, umfaßte etwa einen Kilometer im Umkreis. Bald hatten die Kinder das gegenüberliegende Ufer erreicht. Sie hielten an.

»Wohin jetzt?« fragte Grikor. »Rudern wir zurück?«

»Schade«, sagte Asmik, »ich dachte, wir würden viel länger unterwegs sein. Jetzt sollen wir schon wieder zurück?« Armjon schlug vor:

»Wißt ihr was — wir wollen am Ufer entlang rudern! Nach Osten zu muß ein Kanal in einen anderen See führen.«

Kamo und Grikor griffen erneut zu den Rudern, und das Boot glitt langsam am gelblichgrün schimmernden Ufer entlang.

Eine fast undurchdringliche Schilfwand trennte sie vom Ufer. Plötzlich wich das Schilf zu beiden Seiten zurück, und eine Art Einfahrt tat sich auf. Kamo lenkte das Boot in den schmalen Kanal.

Der Wasserlauf verengte sich zusehends, und bald war es nicht mehr möglich, zu rudern. Kamo hatte sich in der Mitte des Bootes aufgestellt und stakte mit dem einen Ruder, das er bald links, bald rechts ins Wasser stieß.

Das Schilf war hier so hoch, daß die Spitzen über dem stehenden Kamo zusammenstießen und ein Dach über den Kindern bildeten, durch das die Sonnenstrahlen kaum hindurchzudringen vermochten. Das Wasser sah schwarz und düster aus. Plötzlich bog der Kanal links ab, und hinter der Biegung breitete sich vor den Blicken der Kinder ein neuer See aus.

Dieser See schien kleiner als der, aus dem sie gekommen waren. Er glänzte freundlich im Sonnenschein. Schwärme von Wasservögeln aller Art bevölkerten die Uferböschungen.

Als die Vögel, die bisher alleinige Herrscher an diesem See gewesen waren, das Boot erblickten, gerieten sie in helle Aufregung. Gänse, Enten, Steißvögel und viele andere kreischten wild durcheinander.

Tschambar war nicht mehr zu halten. Er sprang auf und begann laut und ungestüm zu bellen. Er konnte sich gar nicht beruhigen, winselte kläglich und leckte sich mit seiner roten Zunge die Schnauze.

Auch Asmik geriet ganz außer sich und rief entzückt:

»Was für ein herrlicher See! Seht doch nur, wie schön es hier ist!«

Grikor, dem beim Anblick des vielen Geflügels das Wasser im Munde zusammenlief, bekräftigte:

»Und was für leckere Braten es hier gibt!«

In der Mitte des Sees entdeckten sie eine kleine, von Schilf überwucherte Insel.

Als sich das Boot dem kleinen Eiland näherte, glitt ein Otter, der sich gesonnt hatte, vom Ufer und verschwand im Wasser.

»Ach«, seufzte Kamo, »hätt' ich doch jetzt das Gewehr des Großvaters bei mir!«

»Wohin rudert ihr? Wir müssen doch rüber - dort muß es weitergehen«, rief Armjon nach einem Blick auf die Karte.

Sie kamen jetzt an einen Kanal, der noch dunkler und enger war als der erste. An Rudern war hier überhaupt nicht mehr zu denken.

»Wir wollen zurück«, rief Asmik, die furchtsam in das düstere Wasser blickte, »ich habe Angst.«

»Nicht doch, wir müssen weiter«, widersprach Armjon und fügte hinzu: »Hier werden wir schneller vorwärts kommen als mit dem Rudern. Packt nur das Schilf und zieht es zu euch heran! «

Kamo und Grikor taten es. Sie griffen nach dem Schilf und stellten befriedigt fest, daß das Boot so rasch weiterglitt.

Ein wenig Bange hatten die Kinder doch bekommen. Wohin mochte dieser enge, düstere Wasserlauf führen?

Es war indessen immer dunkler geworden. Das Laub des dicht wuchernden Ufergestrüpps bildete über ihren Köpfen ein fast undurchdringliches Dach. Im Wasser, zu dem kein Sonnen-strahl und kein Windstoß dringen konnte, wucherten üppige Wasserpflanzen. Ein dichter dunkelgrüner Moosteppich bedeckte den Grund. Wie Arme streckten die Schlingpflanzen ihre Ranken aus und klammerten sich an die Bootswände.

Je weiter sie kamen, desto schmaler wurde die Wasserstraße, um so üppiger aber wucherten die Schlingpflanzen. Schließlich ging es nicht mehr weiter, weder vorwärts noch zurück. Das Boot war in der grünen Finsternis festgefahren, und es schien, als könnten sie es nicht wieder freibekommen.

»Wo sind wir bloß? Was machen wir jetzt? Du bist schuld, Armjon! « jammerte Asmik.

Auch Grikor riet, umzukehren.

Die Jungen versuchten, das Boot rückwärts in Bewegung zu setzen, doch es rührte sich nicht von der Stelle. Es gelang nicht, mit dem stumpfen, breiten Heck das Gewirr der Schlingpflanzen zu zerreißen.

Die Kinder überlegten, wie sie sich aus der ungemütlichen Lage befreien könnten:

»Wollen wir nicht versuchen, ans Ufer zu kommen?« schlug Armjon vor.

Doch Kamo weigerte sich.

»Was stellt ihr euch vor? Es ist nichts als überall Sumpf und Wasser! Da versinken wir. Und wohin sollen wir dann? Hier gibt es doch nur Seen und Kanäle.«

»Wir werden hier verhungern! Das fehlte gerade noch!« unkte Grikor. »Wir müssen zurückrudern!«

Aber Kamo meinte:

»Nein, auf keinen Fall! Wir müssen weiter!«

Er packte eines der Ruder, schlug damit zwischen die Wasserpflanzen am Bug des Bootes und schleuderte die nassen Knäuel grünlich-schleimiger Fasern beiseite. Armjon kam ihm mit dem zweiten Ruder zu Hilfe. Grikor und Asmik halfen mit den Händen nach. Schnell waren die Bootswände von den Wasserpflanzen befreit, und das Boot glitt weiter und gelangte schließlich wieder in ein neues, größeres Wasserbecken.

Als es heller geworden war, atmeten die Kinder erleichtert auf. Es kam ihnen vor, als wären sie einem finsteren Kerker entronnen.

»Seht doch, die vielen Gänse!« schrie Asmik mit einem Male begeistert los.

Ein riesiger Schwarm Wildgänse war aufgeflogen und erfüllte die Luft mit aufgeregtem Geschnatter. Schneeweiß leuchtete ihr Gefieder im grellen Sonnenlicht.

»Wißt ihr, wie es hier aussieht? Wie in einer verzauberten Stadt mit lauter Wasserstraßen«, jubelte Asmik. »Schau, Kamo, ist es hier nicht wie in einer richtigen Stadt? Armjon, Grikor, seht doch nur — da drüben ist ein Platz, auf dem ein Denkmal steht!« Asmik wies auf einen Strauch, der sich in der Mitte des glatten Wasserspiegels aus dem See erhob. »Und da drüben: das kleine Inselchen aus Schilf — das sieht aus wie eine Festung, nein, wie ein Turm. . . Es ist wie im Märchen, nicht wahr, Kamo?« schrie Asmik aufgeregt.

»Wir sind in den entlegensten Teil des Sees geraten«, meinte Armjon. »Selbst die Vögel haben hier keine Angst vor uns. Legt die Ruder beiseite, ich will eine Aufnahme machen.«

»Mach auch eine Aufnahme von dem ,Denkmal' und von der ,Festung'«, bettelte Asmik.

Sie setzten ihre Fahrt auf den Straßen dieser wunderbaren Wasserstadt fort. Zuweilen hörte eine solche Straße jäh auf. Dann stieß das Boot gegen eine hohe Schilfwand, und die Kinder mußten zurückrudern, um aus der Sackgasse herauszukommen. Oftmals kreuzten die Kanäle einander oder sie liefen parallel nebeneinander her, bis alle diese Straßen, Nebenstraßen und Gassen sich endlich zu einer breiten, hellen Allee vereinigten.

Die Kinder waren in bester Stimmung. Die überstandenen Ängste waren vergessen. An den ,Drachen' dachte niemand mehr. Nur Tschambar winselte und konnte nicht begreifen, weshalb nicht geschossen wurde, obgleich es doch ringsum von Vogelschwärmen wimmelte. Er mochte wehmütig an seinen Herrn, den alten Jäger, denken, denn er jaulte leise vor sich hin und kroch, ohne die Kinder zu beachten, im Boot unruhig hin und her.

»Hier wollen wir haltmachen und Eier sammeln«, schlug Armjon vor. Doch plötzlich errötete er. Wenn die Freunde nur nicht glaubten, er fürchte sich vor dem ,Drachen'.

»Und wie kriegen wir raus, was mit dem ,Drachen' los ist?« fragte Kamo und warf den Freunden einen fragenden Blick zu.

»Wir müssen erst herausbekommen, wo der ,Drache' brüllt«, sagte Armjon. »Vielleicht sind wir an der Stelle schon vorbeigefahren.«

»Wir können ja hier ein bißchen warten; er wird sich schon bald wieder melden.«

»Ich möchte lieber weiterfahren«, bat Asmik. »Ich möchte so gern wissen, wie es an den anderen Stellen aussieht.« Sie war begierig, weiterzukommen. Die großen schwarzen Augen des Mädchens blickten suchend umher und nahmen alles, was ringsum zu sehen war, voller Entzücken auf.

Der ,Drache' mußte die Wünsche der Kinder erraten haben, denn fast unmittelbar nach diesem Gespräch erscholl plötzlich ganz in der Nähe sein ohrenbetäubendes Brüllen.

Zuerst glaubten die Kinder, das Boot schwanke unter ihnen. Auch Tschambar sprang auf und begann wütend zu bellen. Asmiks Begeisterung und Unternehmungslust verwandelte sich in lähmendes Entsetzen.

Das Boot hielt an. Asmik sandte Kamo hilfesuchende Blicke zu, denn er war offenbar der einzige, der gar keine Angst hatte.

»Jetzt haben wir's! « rief er triumphierend. »Laßt uns schnell weiterrudern.«

Die Jungen gehorchten wortlos. Sie führten das Boot immer weiter in die geheimnisvollen Tiefen des Gilli-Sees hinein.

Bei jeder Biegung zeigten sich ihren erstaunten Blicken immer neue Schönheiten. Aber die Kinder achteten nicht mehr darauf. Sie waren mit Leib und Seele auf ihr Ziel versessen.

Nun glitt das Boot in einen neuen kleinen See hinein. Er war nicht so ruhig wie die anderen. Sein Wasser schien zu brodeln wie in einem Kessel, der auf kleinem Feuer steht. Auf der Oberfläche bildeten sich große Blasen, die jedoch gleich wieder zerplatzten und sich in Wellenkreisen verloren.

»Was soll das bedeuten?« fragte Asmik.

»Vielleicht sind es Quellen«, überlegte Armjon.

»Kann es denn an einer Stelle so viele Quellen geben?« meinte Grikor zweifelnd.

Armjon hatte schon den Mund geöffnet, um dem Freunde zu antworten, da erklang das markerschütternde Brüllen von neuem, und dieses Mal noch näher, noch grausiger und noch anhaltender als zuvor. Es schien, als fordere der ,Drache' unter Wasser einen Gegner zum Kampf heraus.

Kamo jedoch ruderte unbeirrt weiter und blieb — wenigstens äußerlich — ganz ruhig Er brannte vor Neugierde, Genaueres zu ergründen, und steuerte das Boot zielbewußt in die Richtung, aus der die geheimnis-vollen Laute gekommen waren.

»Ich habe Angst«, jammerte Asmik, »ich will nicht weiter. Rudere zurück, Kamo, oder setze uns am Ufer ab.«

Kamo zuckte die Achseln; als er aber sah, daß Asmik kreide-bleich geworden war, beschloß er, ihren Wunsch doch zu er-füllen. Sanft glitt das Boot weiter und legte an einem Inselchen an.

Kamo sprang als erster ans Ufer. Die Kinder beobachteten, daß die kleine Insel schwankte. Sie war mit Schilf bewachsen. Die Spitzen des Schilfrohrs gerieten bei jedem Schritt in Bewegung, als habe sie ein Windstoß aus ihrer Ruhe gerüttelt. Kamo blieb überrascht stehen.

»Was für eine komische Insel!« murmelte er erstaunt.

Er ließ sich von Grikor ein Ruder reichen und wühlte damit an der Stelle, an der er stand, zwischen dem üppig wuchernden Teppich aus Wasserpflanzen. Er stieß aber nicht auf Erde, sondern ein Wasserstrahl spritzte plötzlich hoch.

»Eine schöne Geschichte«, murmelte Kamo, um die andern nicht zu erschrecken. »Das ist eine Insel ohne Boden. Gleich darunter ist Wasser.« Es stellte sich heraus, daß die vermeintliche Insel ein dichtes Gestrüpp von Schlingpflanzen war.

»Bleibt noch im Boot!« schrie Kamo. »Ich will mir erst mal diese komische Insel ansehen. Komm mit, Tschambar! «

Vorsichtig bog er das hohe Schilfgras zur Seite und arbeitete sich Schritt für Schritt vorwärts. Da hörte er, wie Grikor erschrocken aufschrie. Er hatte gesehen, daß die ganze Insel unter Kamos Schritten ins Schwanken geraten war.

»Bleib stehen!« schrie er, und nun merkte auch Kamo, daß seine Füße im dichten Teppich der Wasserpflanzen zu versinken drohten.

Armjon blickte Asmik und Grikor unschlüssig an. Dann nahm er allen Mut zusammen und sprang gleichfalls auf die vermeintliche Insel. »Warte, Kamo! Ich komme mit.«

Unter Armjons Gewicht fing das Pflanzeneiland wieder bedrohlich zu schwanken an.

Nachdem die beiden Jungen die Insel ohne weiteren Zwischenfall durchquert hatten, kehrten sie zum Boot zurück.

»Ich glaube«, sagte Armjon, »die Wurzeln der Wasserpflanzen sind so ineinander verschlungen und haben sich auf dem Grund im Schlamm so fest verankert, daß die Insel uns schon tragen wird.«

Kamo meinte:

»Seht nur, der Boden ist wie ein dicker Filzteppich. Sicher sind die Wurzeln der Wasserpflanzen im verrotteten und verdorrten Schilf festgewachsen, und so hat sich dieser Teppich gebildet.«

Asmik blieb jedoch mißtrauisch.

»Was passiert aber«, wollte sie wissen, »wenn die Wurzeln von der Strömung abgerissen werden?«

Kamo lachte. »Dann würde unsere Insel mit uns allen aus dem Gilli- in den Sewan-See treiben.«

Grikor und Asmik waren jetzt auch aus dem Boot geklettert und standen auf der schwankenden Pflanzeninsel.

Grikor hatte am Rande im Gestrüpp ein Nest entdeckt, in dem eine brütende Gans saß.

»Seht nur!« schrie er. Und nun erblickte er nicht weit davon entfernt den Gänserich, der das Nest bewachte. Der große Vogel zischte ihn wütend an, so daß der Junge erschrocken zurückwich. Doch der Schrecken des Gänserichs über das plötzliche Auftauchen eines Menschen war noch größer. Er flog auf, und gleich darauf verließ auch die Gattin das Nest und folgte ihm.

Nun kamen auch die anderen angelaufen, so schnell es auf dem schwankenden Untergrund ging.

»Seht nur diese Eier: vier Stück und groß wie Kinderköpfe«, übertrieb Grikor wie gewöhnlich und nahm zwei farblostrübe Eier aus dem Nest.

»Zeig her«, bat Kamo und prüfte die Eier mit seinen Zähnen. »Sind die aber hart!«

Dann betrachteten die Kinder das Nest genauer. Es war riesengroß und bestand aus kunstvoll ineinander verflochtenen dürren Schilfblättern und Gräsern. Innen war es sorgfältig mit Federn gepolstert.

»Die Eier werden wir mitnehmen«, sagte Asmik, »sie sind ganz frisch.«

»Woran merkst du das?« fragte Kamo.

»Daran, daß wenig Eier im Nest liegen«, erwiderte Asmik. »Faß mal an, eins ist noch ganz warm, das ist eben erst gelegt worden. Eine Wildgans legt aber, glaube ich, zwölf Eier und fängt erst dann an zu brüten. Wenn also weniger Eier, im Nest sind, dann müssen sie eben frisch sein... Die Ente legt noch mehr Eier, manchmal sechzehn Stück.«

Nachdem die Kinder die Eier betrachtet hatten, streiften sie weiter auf der Insel umher.

Grikor rief:

»Hier ist noch ein Nest mit ganz bunten Eiern. Was für welche können das sein?«

Er stand vor einem großen Nest, in dem neun Eier lagen. Das aus dürrem Schilf gefertigte Nest war von außen grob und hart, innen jedoch mit zartem, weichem Flaum ausgelegt.

Asmik kam angelaufen und nahm ein Ei heraus, das wie mit Sommersprossen bedeckt aussah.

»Das sind die Eier vom schwarzen Wasserhuhn«, erklärte sie gewichtig.

Armjon brachte eine ganze Mütze voll grauweißer Eier, sie hatten eine längliche Form und glatte Schale.

»Was sind das für welche?« wollte er wissen.

»Das sind natürlich Enteneier«, sagte Asmik, »daß du das nicht weißt, Armjon! Sie stammen von Wildenten, die fast genauso aussehen wie unsere Hausenten.«

Armjon sah Asmik an und lächelte:

»Woher weißt du das eigentlich alles?«

»Ich hab' euch doch schon erzählt, daß ich im vorigen Jahr mit meiner Mutter oft Eier gesammelt habe.«

Vom Jagdeifer gepackt, schnüffelte Tschambar eifrig im Schilfdickicht und entdeckte Gänge, die von einem Otter stammten. Doch all sein Bemühen war zu seiner Verwunderung vergeblich. Kein Jäger folgte ihm, und kein Schuß ertönte.

Kamo freute sich über die Vogelnester, die Tschambar aufstöberte; er sammelte die Eier ein und lobte den Hund immer wieder. Jetzt hatte das kluge Geschöpf nämlich begriffen, was von ihm verlangt wurde, und half Kamo eifrig beim Eiersuchen. Freudiges Gebell kündete jedes neu aufgefundene Nest an. Während Kamo dann die Eier herausnahm, stand Tschambar schwanzwedelnd neben ihm.

An einer Stelle aber, zu der ihn der Hund geführt hatte, fand Kamo nichts weiter als ein Häufchen zerbröckelten Schilfs.

»Warum hast du mich denn angeführt, Tschambar?« sagte Kamo und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. Er war gerade im Begriff umzukehren, aber der Hund stellte sich ihm in den Weg und bellte herausfordernd. »Du hast wohl den Verstand verloren?« fragte der Junge und wollte erneut weitergehen, doch Tschambar rührte sich nicht von der Stelle.

Kamo sah nun genauer hin und entdeckte in der Mitte des Schilfhäufchens ein sorglich mit Federflaum bedecktes Nest. Er schob die Federn beiseite und strahlte. Der Hund hatte ihn nicht angeführt. In dem Nest lagen acht große graue Eier.


Das müssen Gänseeier sein, dachte Kamo, aber wo mag die Gans stecken? Hat die Eier einfach mit ihren Federn bedeckt und ist auf und davon, vielleicht, um zu fressen...

»Was ist denn das — eine Schlange?« schrie plötzlich Armjon auf und wich erschrocken zurück. Aus dem Dickicht sahen ihn zwei böse funkelnde Augen an, die weit auseinanderstehend auf einem flachen grauen Köpfchen saßen.

Asmik lief herbei, blickte sich ängstlich um und brach dann in ein schallendes Gelächter aus.

»Du bist mir ja ein Held! Das ist doch eine Ente! Sie brütet. Sie sitzt auf den Eiern und will nicht aufstehen. Ich hab' mich auch mal so erschreckt«, fügte sie hinzu. »Wenn eine Wildente so auf ihren Eiern sitzt und nur Kopf und Hals zu sehen sind, sieht das wirklich aus wie ein Schlange... Komm weg. Wir dürfen sie nicht stören.«

»Warte, ich werde erst eine Aufnahme machen!« rief Armjon und stellte seinen Apparat ein.

Doch die Ente war durch das Auftauchen so vieler Menschen scheu geworden. Sie flog auf, und nun konnten die Kinder das aus trockenem Laub und Moos gefertigte Nest genauer betrachten. Asmik zählte die Eier.

»Rührt das Nest nicht an«, sagte sie, »die Ente wird zurück-kommen«, und sie zog die Gefährten mit sich fort.

Kaum hatten sie sich ein wenig entfernt, als sie hinter sich Flügelschlagen hörten. Die Ente kehrte zu ihrem Nest zurück.

»Habt ihr eigentlich gar keinen Hunger?« wollte plötzlich Grikor wissen. »Was denkt ihr euch? Wir müssen doch was essen!«

»Ich bin auch hungrig«, gab Kamo zu. »Aber was sollen wir essen?«

»Was wir essen sollen? Unseren Enterich vom Großvater wollen wir braten, und dazu machen wir uns ein ,wildes' Rühr-ei... «

»Ein wildes?« Asmik mußte lachen. »Das ist ein prima Einfall. Woher nehmen wir aber eine Pfanne und Fett? Wie wärs mit gekochten Eiern? Dazu könnten wir den Eimer nehmen, mit dem wir das Wasser aus dem Boot geschöpft haben.«

Grikor lief zum Ufer zurück und brachte den kleinen Eimer und den vom Großvater erlegten Enterich.

»Und Salz, Brot, Zündhölzer - woher wollen wir das alles nehmen?« fragte Kamo.

»Ein richtiger Hirt muß so was bei sich haben«, erwiderte Grikor und nahm den Brotbeutel von der Schulter. Darin war tatsächlich alles, was die Kinder zu ihrer Mahlzeit brauchten.

Sie trugen trockenes Schilf zusammen und häuften es auf, zu beiden Seiten wurden die Ruder in den Boden gerammt und mit Weidengerten verbunden. Daran wurde das Eimer-chen aufgehängt.

Grikor schlug vor, Möweneier zu kochen.

»Die Gänse- und Enteneier sind zu schade dafür.«

Armjon rümpfte die Nase:

»Pfui, Möweneier - kann man die denn essen?«

»Weshalb denn nicht?« erwiderte Grikor. »Ich habe sogar' schon gekochte Rabeneier gegessen.«

Er legte einige Möweneier für sich beiseite und zündete das Feuer an. Das dürre Schilf flammte im Nu auf.

Bis das Wasser heiß war und die Eier gekocht werden konnten, machte sich Grikor rasch und geschickt an das Rupfen der Ente. Sachgemäß wurde der Vogel über dem Feuer ab-gesengt. Dann nahm er ihn aus, wusch ihn und rieb ihn mit Salz ein. Nachdem er die Ente auf einen Stock gespießt hatte, briet er sie unter ständigem Drehen über dem Feuer goldbraun. Bald verbreitete sich ein appetitlicher Bratenduft. Als der Vogel gar schien, riß Grikor ihm ein Bein aus und machte sich heißhungrig darüber her.

»Warte doch«, tadelte Kamo, »wir wollen alle zusammen essen. Armjon, gieß kaltes Wasser auf die Eier! Inzwischen will ich den Tisch decken. «

Mit viel Geschick baute Kamo aus Schilfrohr eine Art Hocker, bedeckte ihn mit dürrem Laub, legte das in Stücke geschnittene Brot darauf und stellte die Salzbüchse daneben.

»So, nun ist der Tisch gedeckt. Armjon, bring jetzt die Eier - Grikor, wie weit ist dein Entenbraten?«

Kein Lüftchen regte sich. Es war ein milder Frühlingstag, und die Sonne schien warm. Lustig und vergnügt speisten die Kinder in ihrem zauberhaften Winkel im Schilf, zwischen Seen und Kanälen.

Sie aßen die gebratene Ente und die Eier mit gutem Appetit. Am herzhaftesten griff natürlich Grikor zu. Sein unergründlicher Magen war den jungen Freunden nur allzugut bekannt, und Scherzworte ermunterten ihn noch, sich gehörig vollzustopfen.

Nachdem sie sich gestärkt hatten, wurde die Eiersuche fort-gesetzt, und das Auffinden eines neuen Nestes wurde jedesmal durch laute Rufe verkündet.

Die Freude dauerte indessen nicht lange.

Jählings, und wie es schien, aus allernächster Nähe, ertönte hinter dem Schilf wiederum das schon bekannte furchtbare Gebrüll.

Asmik ließ die eben eingesammelten Eier vor Schreck fallen, und Grikor lief, so schnell es ging, zum Boot zurück.

Kamo, der auf die Entschleierung dieses Geheimnisses versessen war, versuchte mit finsteren Blicken das Schilf zu durchdringen.

»Wir wollen hier weg«, schlug Grikor nicht allzu mutig vor.

Aber Kamo war dagegen:

»Nein, im Gegenteil, wir wollen dahin rudern, wo das Brüllen herkommt.«

Armjon wollte widersprechen, doch das mutige Verhalten seines Freundes verschloß ihm den Mund.

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