Der Weg war schwer, und die Hitze wurde fast unerträglich. Aber dennoch hatten die Kinder bald die steilen Abhänge des Dali-Dagh hinter sich gebracht und näherten sich 130 bereits dem Fuße der Schwarzen Felsen.
In Terrassen stiegen die düsteren Felsen empor. Sie ragten in den Himmel hinein, und ihre Gipfel verschwanden in den Wolken.
Die Bergadler, durch den seltenen Anblick der Menschen aufgescheucht, beobachteten von ihren unzugänglichen Horsten aus jede Bewegung der ungebetenen Gäste in ihrem Reich.
»Das ist sie — die ,Höllenpforte'«, sagte der Großvater und wies auf einen schmalen Höhleneingang, der sich dunkel an der Felswand abzeichnete.
Nicht weit von diesem Felsen entfernt stand eine uralte Eiche. Die Wurzeln hatten sich im Kampf gegen die wütenden Stürme, die den Dali-Dagh ständig umtobten, immer noch behauptet.
Bei diesem Baume angelangt, blieb der Großvater stehen und sagte feierlich:
»Jetzt sind wir an der Grenze angekommen, die unsere Vorväter niemals überschritten haben.«
»Außer dem Jäger Karo?« sagte Armjon lächelnd.
»Außer Karo«, wiederholte der Großvater. »Er hat es gewagt, doch es ist ihm schlecht bekommen, er ist vom Felsen gestürzt und im Abgrund zerschmettert.«
»Der arme Karo!« rief Asmik voller Mitgefühl.
»Ja, die Geister lassen nicht mit sich spaßen. Man soll sich nicht mit ihnen einlassen«, warnte der Großvater.
»Was hat denn Karos Tod mit Geistern zu tun?« entrüstete sich Kamo.
Der Großvater schien gekränkt. »Wer hat denn Karo in den Abgrund gestürzt? Mein Gevatter Mukel vielleicht?« Die Kinder lachten.
»Ja, ihr lacht. Nun, dann seht mal dort hinauf — wessen Werk ist das?«
Die Kinder blickten nach oben. An einem der obersten Äste der Eiche hing ein großer kupferner Krug... sein Henkel war tief in den Ast eingewachsen. Der gewölbte Bauch des Gefäßes war deutlich zu sehen.
»Was ist das für ein Krug, Großväterchen?« wollte Kamo wissen, »und wie ist er da hingekommen?«
Der Großvater hatte noch nicht Zeit zu einer Antwort gefunden, als Kamo kurz entschlossen in die Hände spuckte und sich daranmachte, auf den Baum zu klettern.
»Wohin, Söhnchen? Halt ein, klettere nicht hinauf! dem Baum und dem Krug darf man nicht nahe kommen - sie sind verhext! « rief der Großvater aufgeregt.
Kamo hörte nicht auf ihn. Er kletterte weiter bis in Reichweite des Kruges und betrachtete ihn genau.
Es war ein alter Krug. Das Kupfer, ständig Regen und Sonnenschein ausgesetzt, war ganz grün geworden. Er war eingebeult und an mehreren Stellen vom Hagel durchlöchert. Man sah es ihm an, daß er seit vielen, vielen Jahren an diesem Aste hing.
»Ich werde ihn abnehmen und zu euch runterwerfen«, rief Kamo von oben.
Doch das Abnehmen des Kruges erwies sich als unmöglich. Im Laufe der langen Zeit war der Ast, an dem er hing, gewachsen, er war stärker geworden und hielt den Henkel fest.
Enttäuscht kletterte Kamo wieder vom Baum herunter. »Großväterchen, wie ist der Krug nach oben auf den Baum gekommen?« fragte er.
»Ich habe es euch doch schon gesagt - Teufelswerk ist es. Hört, was der Gevatter Mukel - die Erde werde ihm leicht -darüber erzählt hat. Mukel war ein kluger Mann, der über alles Bescheid wußte. Vor langer, langer Zeit, sagte er, ist hier eine große Dürre gewesen. Alles ringsum ist vertrocknet. Der Hunger forderte seine Opfer. Viele Leute aus unserer Gegend flüchteten nach Kasach - auf die andere Seite des Dali-Dagh. Dort gab es Wälder, Flüsse, Quellen. Dort weiß man nicht, was Dürre ist. Die müden, vom Hunger erschöpften und kraft-los gewordenen Menschen schleppten sich mit Mühe über die steinigen, von der Sonne verbrannten Abhänge der Berge. Erwachsene und Kinder vergingen vor Durst und flehten ständig um ein Tröpfchen Wasser.
Zusammen mit den Frauen ging ein junges Mädchen, ein hübsches, gutes und mutiges Mädchen. Es hieß Schuschan. Diese Schuschan also nahm einen großen kupfernen Krug - den ihr die verstorbene Mutter vererbt hatte. Sie stieg mit ihrem Kruge hinunter zum Gilli-See und brachte von dort Wasser für die Kinder herauf, und mit freundlichen Worten sprach sie ihnen Mut zu.
Sie waren von dem Heimatdorf noch nicht weit entfernt, da erblickte Schuschan unter einem Baum wieder Frauen, die nicht wußten, wie sie ihren Durst stillen sollten. Das Herz des guten Mädchens krampfte sich vor Mitleid zusammen; doch es konnte nicht umkehren, um Wasser aus dem Gilli-See zu holen. Da beschloß es, in der Höhle des Schwarzen Felsens sein Glück zu versuchen. Seine Kräfte ließen bereits nach, es hatte Hunger, und der Weg, der vor ihnen lag, war noch lang.
Unsere Großväter haben erzählt, daß dort die Hölle sei. Dort steht ein großer Kupferkessel auf dem Feuer, und in diesem Kessel schmoren die Seelen der Sünder. Ihr hört ja, wie es in ihm brodelt und kocht.. . Schuschan aber schüttelte nur den Kopf: ,Was man sich alles für Märchen erzählt!' meinte sie. ,Wie soll dort die Hölle sein? Sicherlich sprudelt eine Quelle aus dem Felsen. Nun, ich werde hingehen und nachsehen, und wenn ich Wasser finde, werde ich es den Kindern bringen und sie vorm Verdursten retten.' Das mutige Mädchen nahm seinen Krug und stieg auf die Schwarzen Felsen.
,Geh nicht, geh nicht dorthin - dort ist die Hölle!' riefen ihr die Frauen nach. Aber Schuschan hörte nicht auf sie, sie hatte Mut, und die dürstenden Kinder gingen ihr nicht aus dem Sinn - sie hörte, wie sie nach Wasser jammerten.
In der Höhle aber lebte ein böser Geist. Als er Schuschan erblickte, knirschte er mit den Zähnen!
,Wie wagst du es, Menschenbrut, in meine Behausung zu kommen?'
,Ich bin gekommen, um ein wenig Wasser für unsere durstenden Kinder zu schöpfen... Erlaube es mir, was macht es dir aus?' sagte Schuschan.
Da lachte der böse Geist höhnisch. Denn wenn es den Menschen schlecht geht, freuen sich die bösen Geister.
,Gleich werde ich dir das Wasser zeigen! Du willst hinter mein Geheimnis kommen? Nun, warte, ich werde dich den Adlern zum Zerfleischen vorwerfen', brüllte der Geist. Und er packte Schuschan mitsamt ihrem Kruge und hängte sie an diesem Eichenast auf. Für einen Geist ist das eine Kleinigkeit. Seine Arme reichen bis in den Himmel hinein...
Die Frauen, die unter dem Baum saßen und das alles mit ansahen, nahmen ihre Kinder, rafften ihre letzten Kräfte zusammen und verließen fluchtartig diesen Ort. Und wie es der Geist vorausgesagt hatte, kamen die Adler geflogen und zerfleischten das arme Mädchen. Der Krug aber ist hängengeblieben als Warnung für die Menschen, die ihn sehen und erkennen, daß sie sich wohl hüten sollen, dieser Hölle zu nahe zu kommen.«
Die Knaben lächelten über die einfältige Geschichte des Großvaters, aber Asmik flüsterte ganz aufgeregt:
»Wie mutig und gut war Schuschan.«
»Nein, Großväterchen, eine Hölle gibt's nicht. Da hast du dir einen schönen Bären aufbinden lassen!« sagte Armjon und schüttelte den Kopf. »Ich denke mir, der Krug ist auf irgend-eine andere Weise auf den Baum geraten. Wie alt mag denn diese Eiche sein? Vielleicht zweihundertundfünfzig Jahre. Vor zweieinhalb Jahrhunderten zogen die Türken durch unser Land. Sie plünderten und brannten die Dörfer nieder, und die Bewohner flohen, von Angst und Schrecken getrieben, in die Berge. Damals war dieser Baum so alt, wie Asmik jetzt ist... Die Flüchtlinge wurden beim Besteigen der Berge müde und ließen nach und nach vieles von ihrer Habe zurück. So wird auch dieser Krug von irgendeinem alten Mütterchen zurückgelassen worden sein. Sie hängte ihn an einem jungen Baum auf und dachte vielleicht, daß sie bald zurückkommen und ihn dann wieder mitnehmen würde. Doch dann kam sehr lange Zeit kein Mensch mehr des Weges. Der Baum wuchs, und mit ihm wurde der Krug immer höher emporgehoben. Und als wieder Menschen vorüberkamen und ihn sahen, da war er schon uralt und grün und nicht mehr zu gebrauchen. Die Eiche war gewachsen und so hoch und so mächtig geworden, wie wir sie jetzt vor uns sehen.«
»Ja, so muß es gewesen sein«, rief Asmik und klatschte fröhlich in die Hände. Sie war erleichtert, daß der Krug nichts mit Geistern zu tun hatte. Grikor allerdings meinte schalkhaft:
»Wie kannst du die Geister beleidigen. Hörst du denn nicht, wie böse sie geworden sind?« Er wies zum Himmel. Hinter dem Felsen zuckte ein greller Blitz herab; gleichzeitig ließ ein heftiger Donnerschlag die Luft erzittern.
Wie so häufig im Gebirge, hatte sich der strahlende Himmel plötzlich verfinstert. Schwarze Wolken ballten sich zusammen. Das Echo des Donners hallte zehnfach aus den Schluchten wider.
Asmik zuckte ängstlich zusammen und schmiegte sich dicht an Kamo.
»Weshalb erschrickst du denn? Etwa über den Donner? Hast du vergessen, was du in der Schule gelernt hast?...«