Jühselig kletterte der Trupp über die verschiedenen jGebirgskämme, die auf dem Weg zum Gipfel des Dali-Dagh lagen. Es ging bergauf, bergab. Oft mußten tiefe Fels -spalten überquert werden. Die Felsenpfade waren schmal und unwegsam. Nur langsam kamen sie vorwärts. Dazu brannte die Sonne unbarmherzig herab, und von den Felswänden schlug ihnen glutheiße Luft entgegen.
Asmik, die zuerst leichtfüßig wie ein Zicklein von einem Stein zum anderen gehüpft war, blieb jetzt häufig stehen, um Atem zu schöpfen. Auch Armjon war schon recht müde, versuchte aber, Asmik nichts davon zu zeigen. Auch wollte er nicht hinter Kamo zurückstehen, der unverdrossen weiterkletterte und offenbar gar nicht müde wurde. Grikor wäre von allen der beste Bergsteiger gewesen, hätte ihn nicht sein lahmes Bein gehindert. Aber auch so kam er mit den anderen gut mit und ermunterte die Freunde durch seine Späße.
Der Großvater ging mit ruhigen Schritten allen voraus; er hastete nicht, blieb aber auch nicht zurück. Sein gleichmäßiges Vorwärtsschreiten war den Kindern ein Ansporn, und sie hätten sich geschämt, hinter dem Alten zurückzubleiben.
Am frischesten zeigte sich Kamo. Manchmal nahm er, um die anderen mitzureißen, einen Anlauf und stürmte vorwärts wie ein junger Hirsch. Hatte er dann eine Höhe erreicht, so sah er sich stolz nach ihnen um. Sein Gesicht glühte, und seine Augen funkelten. Er war sehr aufgeregt, denn er hoffte, daß dieser Tag für alle von entscheidender Bedeutung sein werde.
Seto war ebenso ausdauernd und unternehmungslustig wie Kamo. Er war richtig in seinem Element. Seine ganze Aufmerksamkeit gehörte den Steinen, ihrer Zusammensetzung und den verschiedenen Gesteinsschichten. Alle Augenblicke bückte er sich nach irgendeinem Stein oder brach ein Stück von einem Felsblock ab, um es in seinen Beutel zu stecken. Er sprach fast gar nicht mit den Freunden, sondern hielt sich ständig in der Nähe der beiden Geologen auf und hörte zu, was sie miteinander redeten. Die Freunde nahmen ihm das nicht weiter übel - sie kannten ja seine Leidenschaft.
Aber schließlich blieb Seto zurück und trabte keuchend hinter den anderen her. Die Steine, mit denen er den Beutel und alle seine Taschen vollgestopft hatte, waren nun doch zu schwer geworden. Er schüttete seine ganzen Schätze kurzer-hand in einen verborgenen Winkel unter einem Felsen. Ich werd' sie auf dem Rückweg mitnehmen, dachte er und eilte in großen Sätzen den Freunden nach.
Endlich waren sie am Ziel.
Kamo war begeistert:
»Hier ist's ja herrlich, ein richtiges Paradies!«
Was sie hier sahen, war der krasseste Gegensatz zu den steinigen, von der Sonne ausgedörrten Abhängen auf der Südseite des Dali-Dagh.
Zwischen smaragdgrünen, mit Frühlingsblumen besäten Bergwiesen lag ein wunderschöner See. Das Wasser war so klar und durchsichtig, daß man vom Ufer aus jeden Kiesel auf dem Grund sehen konnte. Hoch oben, auf dem Gipfel des Dali-Dagh, lag noch Schnee. Doch er taute, und mit munterem Plätschern stürzten sich die Schmelzbächlein herab in den See. Asmik jubelte:
»Es ist wunderschön - guckt doch nur, da sind Ziegen.«
Und richtig, am anderen Seeufer sprangen schlanke, langbeinige Tiere in Richtung der schneebedeckten Bergkuppe davon, blieben einen Augenblick stehen, sicherten und sprangen weiter, bis sie hinter den Felsen verschwunden waren. Nur der Leitbock, ein schönes großes Tier mit riesigen, spiralförmigen Hörnern, war auf der Höhe des Kamms stehengeblieben. Mit vorgestrecktem Hals beobachtete er jede Bewegung der Eindringlinge.
»Das waren keine Ziegen«, sagte der Großvater, »das waren Wildschafe. Wir haben sie beim Trinken gestört.«
»Ach«, rief Armjon, »Wildschafe sind das — Mufflons? Ich habe darüber mal gelesen.«
»Wißt ihr auch, warum die Wildschafe ein weißes Hinterteil haben?« fragte der Alte. »Die meisten Tiere nehmen doch, damit man sie nicht sieht, die Farbe der Steine, der Erde oder überhaupt ihrer Umgebung an.«
Die Jungen sahen einander fragend an. Auch Armjon wußte es nicht; in den Büchern stand nichts davon.
»Dann will ich es euch sagen«, fuhr der Großvater selbstgefällig fort und strich über seinen langen weißen Bart. »Das hat die Natur so eingerichtet, damit das Lämmchen auch in der Dunkelheit seine Mutter finden kann und sich nicht verläuft«, sagte der Alte.
»Du hattest doch aber mal einen Schafbock geschossen, und der hatte auch ein weißes Hinterteil? Weshalb denn das?« fragte Kamo.
Wenn er geglaubt hatte, den Großvater durch diese Frage in Verlegenheit zu bringen, hatte er sich geirrt.
»Was meinst du wohl, warum?« antwortete der alte Jäger und schmunzelte.
Kamo wußte es nicht.
»Das war der Leitbock«, sagte der Großvater. »Er führt die Tiere über Pfade, die nur er genau kennt. Wenn sie zum Beispiel vor dem Wolf flüchten müssen. Die ganze Herde folgt ihm nach, auch wenn es dunkel ist. Warum ist denn an den Lastautos hinten manchmal ein weißer Kreis angebracht? Doch nur, damit die Wagen in der Nacht nicht einer auf den andern auffahren... So ist es auch bei den Wildschafen.« Der Großvater sah siegesbewußt von einem zum anderen und fuhr fort:
»Die Wildschafe haben die Gewohnheit, beim Laufen eine Kette zu bilden. Das weiße Hinterteil vom Leitbock ist dazu da, damit sie sich in der Nacht nicht verlieren. Wenn sie so in einer Kette hintereinander herlaufen, lassen sie den weißen Fleck nicht aus den Augen. Wenn er nicht da wäre, würde das Lämmchen die Mutter und die Herde den Leitbock verlieren, und der Wolf würde sich viel Schafe holen, und viele würden von den Felsen abstürzen. . .«
Grikor, der dem Großvater gut zugehört hatte, lachte verschmitzt, zwinkerte den Freunden zu und ahmte den Großvater nach:
»Was meint ihr denn? Los, raus mit der Sprache.«
Aber der Alte hatte es nicht gemerkt.
»Ja, so ist es, Kinder«, sagte er. »Man muß die Natur nur kennen. Sie hat alles klug eingerichtet.«
Doch Armjon widersprach:
»Das hat nicht die Natur eingerichtet, das haben sich die Tiere im Kampf ums Dasein erworben, im Laufe einer langen Zeit! «
Es ärgerte Armjon, daß er nicht imstande war, Dinge, die er in Darwins Büchern gelesen hatte, so zu erklären, daß alle ihn verstanden.
»Nicht die Natur?« brauste der Großvater auf. »Wer sagt das?«
»Darwin hat das gesagt.«
»Wie kann denn euer Darwin das wissen? Seit über sechzig Jahren laure ich wie ein Wolf den Wildschafen auf und weiß noch immer nicht alles über ihr Leben und ihre Gewohnheiten. Und nun soll dein Darwin mehr davon wissen als ich?« Der alte Jäger war nun wirklich aufgebracht.
Die Kinder lachten gutmütig. Sie nahmen die Entrüstung des alten Mannes nicht sehr ernst.
»Solltest lieber einen Bock für uns schießen, Großväterchen«, meinte Grikor. »Wie gut würde uns jetzt ein Braten schmecken. . . «
»Das ist leicht gesagt, Junge! Siehst du denn nicht, daß sie einen Wächter aufgestellt haben? Versuch nur mal, an sie heranzukommen — wie der Wind wären sie auf und davon. Eh' du daran denkst, sind sie schon auf der andern Bergseite. Einen Wildbock abzuschießen ist nicht leicht, und nicht jeder Jäger kann es.«
Der Alte setzte sich und griff nach seinem Tabaksbeutel.
»Ja, wenn ich noch jung wäre«, fuhr er mit zitternder Stimme fort. »Doch das ist lange her. Wie viele Male hab' ich mich da drüben hinter den Felsen versteckt und hab' die Wildschafe beobachtet... Aber bildet euch nur nicht ein, daß ich auf sie geschossen habe, wenn sie an der Tränke waren...«
»Wie konntest du sie aber schießen?« wollte Grikor wissen.
»Ganz einfach! Ich habe mich bemerkbar gemacht. Wenn sie dann davonstoben, habe ich geschossen und meist auch getroffen, denn meiner Kugel zu entgehen ist nicht leicht«, brüstete sich der Alte.
Der Geologe Aschot Stepanowitsch, der sich inzwischen die Umgebung angesehen hatte, kam jetzt zurück und erklärte: »Dieser See ist sicher der Krater eines Vulkans. Seht ihn euch an. Sieht er nicht aus wie ein Trichter? Nachdem der Vulkan erloschen war, versteinerte die Lava in dem Krater und bildete eine Schale. Als dann im Frühling die Schneemassen in den Bergen schmolzen, füllte sich diese Schale mit Schmelzwasser. Und das geschah Jahr für Jahr wieder. So ist dieser See entstanden, dessen Schönheit wohl die wenigsten Maler und Dichter wiedergeben könnten. Deine Vermutung trifft übrigens zu, Armjon.«
»Woher wissen Sie, was ich vorhabe?«
»Schon als du das Petroleum anschlepptest, wußten wir, worauf du hinauswolltest. Dein Plan ist gut. Wir haben aus der Form und der Beschaffenheit dieses Bergsees schon unsere Schlüsse gezogen. Es wird wohl so sein, wie du annimmst.«
Asmik, die vor Neugierde bald platzte, rief schmollend:
»Was sind das für Geheimnisse?«
Die Jungen schwiegen und blickten ihren stillen, gelehrten Freund nur fragend an.
Kamo schlug vor:
»Kommt mal mit auf die Höhe — wir wollen sehen, was auf der anderen Bergseite los ist.«
Sie ließen ihre Säcke am Ufer zurück und erklommen eine der kegelförmigen Bergkuppen, die den See einschlossen.
Obwohl es schon Anfang Juli war, bedeckte junges, zartes Grün den Boden. Der Frühling, der aus dem Tal die Schluchten emporgestiegen war, hatte diese Höhen eben erst erreicht.
»Schneeglöckchen! Seht nur, Schneeglöckchen sind hier in Mengen«, jubelte Asmik, als sie die weißen Blümchen sah.
An manchen Stellen lag zwischen den Felsen, wo die Sonne nicht hinkam, noch hoher Schnee. Er begann erst jetzt zu schmelzen und floß in glitzernden Rinnsalen über das Gras in den See hinab.
Asmik hatte als erste den Gipfel erreicht. Begeistert rief sie den Freunden zu:
»Kommt! Es ist herrlich. Auf der anderen Seite sieht es ganz anders aus - es ist wie eine neue Welt! «
Bald hatten auch die anderen die Kuppe erreicht und blieben, von dem herrlichen Anblick überwältigt, stehen.