Auf geheimnisvollen Wegen

Kamo beeilte sich, zu Asmik zu kommen. Bei der Farm traf er Seto, der gerade am Zaun stand und Asmik zuschrie:

»Mit einer Kükenmutter aus Eisen müssen eure Küken ja krepieren! Da habt ihr was Rechtes gemacht. Beim Bart des Großvaters Assatur sage ich euch...«

Als er aber Kamo kommen sah, brach er mitten im Satz ab und ergriff die Flucht.

»Kümmere dich nicht um ihn«, sagte Kamo. »Lauf lieber schnell zu Grikor und sag ihm, daß wir auf den Dali-Dagh wollen.«

»Auf den Dali-Dagh?« jubelte Asmik. Sie war sofort bereit und lief zu Grikor.

Doch dessen Mutter wollte nichts davon hören.

»Wegen jeder Kleinigkeit holt ihr ihn — zu Hause kommt er zu gar nichts mehr«, meinte sie ärgerlich.

»Mütterchen, wenn das ein anderer sagen würde als du — du weißt doch, daß ich bei jeder Expedition dabeisein muß«, versicherte Grikor ernsthaft.

»Nun, geh schon«, lachte die Mutter. »Aus dir wird ja doch nichts Gescheites.« Zärtlich strich sie ihm über den Kopf.

»Wart's nur ab, Mütterchen, dazu gehört Zeit — fünfzig Jahre vielleicht«, rief Grikor im Davonlaufen.

»Streitest du dich manchmal mit deiner Mutter?« wollte Asmik wissen.

»Streiten? Natürlich — sehr oft sogar, so wie eben. Wenn wir aber genug gestritten haben, müssen wir immer lachen.«

»Bei Seto zu Hause ist das anders. Da gibt es jeden Tag Zank und Streit. Man hört bis zu uns, wie seine Mutter mit ihm schimpft.«

Asmik und Grikor mußten sich sputen, um Aram Michailowitsch, Kamo, Armjon und Großväterchen Assatur, die voran-gegangen waren, einzuholen. Kamo trug eine Spitzhacke, der Großvater sein unvermeidliches Gewehr, und Armjon hatte seinen Fotoapparat mitgenommen.

Der Großvater schritt allen voran. Unterwegs war er aufgelebt und heiterer geworden. Tschambar, der wieder mit seinem Herrn zufrieden war, trottete einmütig neben ihm her und dachte sicher: Der Großvater hat das Gewehr mit, also geht es auf die Jagd. Grikor aber zottelte, wie ein hinter der Herde zurückgebliebenes Lämmchen, hinterdrein.

Je höher sie stiegen, desto schöner und weiter wurde der Ausblick auf den blauen Sewan. Nur die Abhänge des Dali-Dagh boten einen traurigen Anblick, denn die Dürre hatte hier jegliche Vegetation vernichtet.

Die Büsche, die hier und dort im Geröll wuchsen, waren gelb geworden. Das junge Gras war verdorrt. Ein freudloses Grau überzog die Abhänge, an denen stellenweise zwischen dürrem Gestrüpp roter Sandboden hervorsah. Die Landschaft wirkte hier schon ganz herbstlich. Ringsum war alles kahl und öde. Man sah auch keine Tiere. Entweder waren sie verdurstet oder in andere Gegenden geflüchtet.

Die Hitze wurde immer drückender, und der Weg war steinig und staubig.

Unsere Freunde gelangten bald zu einem etwas breiteren, abschüssigen Pfad, der von den Schwarzen Felsen, am Abhang des Dali-Dagh entlang, zu den Kolchosfeldern des Dorfes Litschk hinabführte.

Plötzlich blieb Aram Michailowitsch stehen. Nachdenklich blickte er sich um.

»Was bedeutet das? Sollte es wirklich hier sein?« murmelte er. »Was gibt es denn?«

»Wer von euch ist schon einmal jenseits des Gebirges gewesen? Sind die Abhänge des Dali-Dagh drüben ebenso steinig und kahl wie hier?«

»Nein, wo denken Sie hin. Wenn Sie wüßten, wie viele wilde Pflaumen, gelbe und rote, ich dort schon gefuttert habe«, rief Grikor. »Und Apfelbäume gibt's da und Birnbäume und ganze Wälder, es ist kaum durchzukommen. Auf den Bergwiesen ist das Gras ganz hoch, und die Wiesen sind grün und saftig. Ich habe schon oft mit Onkel Wano die Kälber dort hingetrieben - die haben sich richtig vollgefressen.«

Asmik mußte lachen. Grikor kam ihr spaßig vor, selbst wenn er etwas Ernsthaftes sagte.

»Warum lachst du?« fragte Grikor beleidigt. »Stimmt es nicht, was ich sage, Großväterchen?«

»Es stimmt. Auf der anderen Seite der Berge sind Wälder. Nur bei uns sind die Abhänge so kahl«, bestätigte der Alte.

»Und so ist es mit fast allen Bergen Armeniens«, erklärte der Lehrer, »auf der Südseite sind sie kahl und steinig, auf der Nordseite mit Wäldern und Wiesen bedeckt. Dagegen haben in den nördlichen Gebieten unserer Union, zum Beispiel in Sibirien, alle Berghänge — die südlichen ebenso wie die nördlichen — kräftigen, fruchtbaren Boden. Bei uns hingegen sind die Abhänge nur an der Nordseite mit Erdreich bedeckt... Weshalb, meint ihr, ist das so? Nun, deswegen«, fuhr der Lehrer als Antwort auf seine eigene Frage fort, »weil bei uns, namentlich an den Südhängen, die Stoffe, aus denen sich das Erdreich zusammensetzt, von der Sonnenglut ausgebrannt und ausgelaugt werden. Seht mal da hinauf — da ist nichts zu sehen als Steine und rötlicher Sand, dem die Sonne nichts anhaben kann. «

»Wie ist denn der Sand da hingekommen?« wollte Kamo wissen.


»Das rötliche Gestein besteht aus Sand und Lehm. Es sind Ablagerungen, die sich einstmals auf dem Meeresgrund gebildet haben. Im Laufe der Jahrtausende zerfällt das Gestein und verwandelt sich wieder in Sand und Lehm, die vom Regen in den See gespült werden. Unter dem Wasserdruck bilden sich dann in langen Jahren wieder Steine daraus... Da die Vegetation an den südlichen Hängen sehr spärlich ist, kann sich das Erdreich nicht darauf halten; es wird restlos vom Regen weg-gespült. Auf den nördlichen Hängen hingegen, die eine reiche und üppige Vegetation haben, verdichtet sich die Erdschicht mit jedem Jahr.«

Großvater Assatur verstand nicht viel von diesen Erklärungen. Zwar hatte er das alles von Kindheit an beobachtet, doch er hätte es niemals für möglich gehalten, daß die Berge sozusagen an der einen Seite abgetragen wurden, während sie an der anderen Seite anwuchsen.

»Daher kommt es wohl«, meinte er, »daß unsere Berge solche klobigen Rücken haben wie Bucklige?«

»Das Bild ist ganz richtig, Großvater. Ihr Rücken erscheint gewölbt, während ihre Brust flach und eingefallen ist.«

»Aber«, mischte sich Armjon in das Gespräch, »weshalb sind denn die Abhänge unterhalb dieses Pfades nicht so steinig und ausgedörrt?«

»Ist dir das auch aufgefallen?« fragte Aram Michailowitsch und blickte seinen Schüler überrascht an. »Diese Frage beschäftigt mich auch. Seht doch nur, wie scharf dieser Pfad den Berg-rücken in zwei Teile zerschneidet.«

Kamo sah sich die Abhänge zu beiden Seiten des Weges neugierig an — der Unterschied war deutlich zu erkennen. Während über ihnen die Hänge steinig und ohne jeden Pflanzenwuchs waren, wurden die darunterliegenden von Gras über-wuchert — freilich war es dürr und von der Sonne versengt.

»Das muß doch einen Grund haben«, sagte der Lehrer nachdenklich. »Kamo, nimm die Spitzhacke und mache unterhalb des Pfades ein recht tiefes Loch.«

Kamo tat es.

Es zeigte sich, daß das Erdreich hier eine vier bis fünf Finger dicke Schicht bildete, ehe der felsige Grund bloßgelegt war.

»Hier ist die Erdschicht im Laufe der Zeit stärker geworden«, meinte der Lehrer. »Was mag das bedeuten?«

»Kann man daraus vielleicht schließen, daß hier früher mehr Pflanzen und Sträucher gewachsen sind?« überlegte Armjon.

»Du magst recht haben«, erwiderte der Lehrer. »Der Humus ist mit lehmhaltiger Erde vermischt, daher kommt es auch, daß der Boden hier eine dunklere Färbung hat als weiter oben... Nimm deine Hacke, Kamo, wir wollen weiter oben den gleichen Versuch machen...«

»Seht ihr den Unterschied?« Er verglich die Proben. Weiter oben war das Erdreich rötlich, weiter unten rötlichgrau, mit einem Stich ins Schwarze. — Aram Michailowitsch schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Unterhalb des Pfades ist die Erde mit einem Gewirr von Wurzeln durchsetzt, das sie zusammenhält, es fragt sich nur, wie dieses Wurzelgewirr entstehen konnte.«

»Das war doch nur möglich, wenn es hier einmal Wasser gegeben hat.«

»Wasser! ... Großvater, wie weit ist es denn noch zu deinem Drachen?... Und wie kommt es eigentlich, daß der Weg hier so glatt ist?«

»Vielleicht hat das Vieh ihn ausgetreten, wenn es zur Weide getrieben wurde.«

»Das ist nicht gut möglich, es gibt doch hier gar keine Weideplätze. Nein, das muß einen anderen Grund haben«, sagte Grikor.

Sie waren etwa hundert Schritt weitergegangen, als Armjon stehenblieb und dem Lehrer zurief:

»Haben Sie bemerkt, daß das Gefälle des Weges überall das gleiche ist? Ich weiß woran Sie denken, Aram Michailowitsch. Alle Anzeichen sprechen dafür, daß Ihre Annahme richtig ist.«

Das geheimnisvolle Gespräch zwischen dem Lehrer und Armjon ließ die anderen aufhorchen. Besonders der Großvater war neugierig.

»Erkläre uns doch, was du meinst, Armjon, damit auch wir es verstehen«, drängte er.

»Nein, das ist noch zu früh«, erwiderte der Lehrer. »Erst wenn wir dort oben an dem Bergkamm sind, wird sich heraus-stellen, ob Armjon und ich recht haben.«

Schweigend gingen sie weiter.

Als sie nicht mehr weit von dem Kamm entfernt waren, blieb Aram Michailowitsch stehen; er sagte zu dem Großvater:

»Wenn wir da oben bestätigt finden, was Armjon und ich erwarten, kann dein Drache auch nicht mehr weit sein.«

»Woher wißt ihr das?« fragte der Alte ganz verdutzt. »Du hast recht. . .«

Der Lehrer schmunzelte.

»Wir wissen Bescheid... Nicht wahr, Armjon?«

Kamo fühlte sich durch diese geheimnisvollen Andeutungen zurückgesetzt. Es kränkte ihn, daß Asmik den klugen Armjon so unverhohlen bewunderte. Doch kaum hatte er dies zu Ende gedacht, fragte er sich: Ist es vielleicht Neid von mir? Und er schämte sich.

Endlich hatten sie den Kamm erreicht. Aram Michailowitsch und Armjon blickten sich an und lächelten. Der Felsenpfad war hier so glatt, als sei er poliert.

»Seht euch das mal genau an. Nur Wasser kann die Steine so abgeschliffen haben, Wasser, das über diesen vermeintlichen Weg zum Dorfe Litschk hinabgeflossen ist«, sagte der Lehrer, indem er auf die blanken Steine zeigte. »Hier wird ein Wasser-fall gewesen sein.. . Kamo, grabe dort nach, vielleicht findest du Steine, die so aussehen wie Kieselsteine in den Flüssen.«

Kamo nahm die Spitzhacke und lief zu der Stelle, an der sich der Wasserfall befunden haben mußte. Tschambar folgte ihm auf den Fersen. Der Hund war tief enttäuscht, weil der alte Jäger sein Gewehr auf der Schulter behielt und weil von einer Jagd nichts zu merken war.

Kamo kam bald wieder zurück. Er hatte die ganze Mütze voll kleinerer und größerer Kieselsteine, die Armjon und der Lehrer genau untersuchten.

»Seht ihr, diese Steine haben keine scharfen Kanten - sie sind vom fließenden Wasser glattgeschliffen.«

»Ja, das stimmt«, meinte der Großvater, »das sind Steine, die im Wasser gelegen haben.«

»Unsere Annahme trifft also zu, Armjon. Nicht Herden haben diesen Weg ausgetreten, und niemand hat ihn angelegt, es ist ein uraltes, ausgetrocknetes Flußbett.«

»Ein Flußbett?« rief Asmik erstaunt aus.

Auch Kamo sah ungläubig drein, und der Großvater rief: »Ein Fluß — woher denn? Man kann den ganzen Dali-Dagh umwühlen und wird keine einzige Quelle finden.«

»Das werden wir jetzt feststellen, Großvater. Wo ist nun dein Drache? Führe uns hin zu ihm. «

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