Auf den Spuren der einstigen Bewohner der Tschantschakar-Höhlen

Einen Tag nach Kamos Abreise nach Jerewan kamen Armjon und Grikor morgens in die Farm. Asmik war nicht dabei - sie hatte die Küken zum Teich getrieben, allerdings war nur noch ein Rest trüben Wassers darin. Die Hitze nahm ständig zu. Seit einem Monat hatte es nicht mehr geregnet, und das am Dorfe vorbeifließende Flüßchen war gänzlich ausgetrocknet. Auch der Teich war beinahe trocken.

Die Küken der Wasservögel waren herangewachsen - bald mußten ihnen die Flügel beschnitten werden. Die jüngsten Gänschen, die noch vor kurzem ein gelber Flaum bedeckt hatte, stolzierten jetzt im weißgrauen Gewande einher. Sie waren beweglicher, flinker, aber auch ängstlicher als die Jungen der Hausgänse. Obwohl sie von Anaid und Asmik beaufsichtigt wurden und Großvater Assatur immer aufpaßte, schraken sie bei jedem verdächtigen Geräusch zusammen und waren ständig auf der Hut. Sie waren vorsichtig und mißtrauisch; der an-geborene Instinkt wilder Vögel war ihnen deutlich anzumerken. Im Teich benahmen sie sich ebenso wie die Hausgänse - sie schnatterten miteinander und besprachen sich in ihrer Gänse-sprache, zuweilen zischten sie auch wütend. Der Flaum der jungen Wasserhühnchen war, als sie ausschlüpften, hellbraun, und die winzigen Flügelchen waren an den Rändern mit weißen Pünktchen bedeckt. Jetzt begann sich ihre Farbe merklich zu verändern. Ihr Federkleid wurde dunkler, und sie nahmen nach und nach das Aussehen ihrer Mütter an. Ihr Gefieder hatte meist einen schiefergrauen Farbton, der auf dem Kopfe etwas dunkler, auf der Brust und dem Bäuchlein heller aussah. In dem dunklen Gefieder leuchteten ihre hellroten Augen. Auch Asmiks übrige Pflegebefohlenen nahmen allmählich die Farbe ihrer Eltern an.

In dem Tümpel, zu dem der Teich infolge der Dürre geworden war, fanden nicht mehr alle Küken Platz. Oft gab es ein großes Gedränge, und die kleinen Vögel machten einander geräuschvoll die besten Plätze streitig.

Armjon und Grikor gingen zu Asmik.

»Was meinst du«, fragte Armjon, »sollen wir gar nichts unternehmen, solange Kamo weg ist?«

Anstatt einer Antwort hob Asmik ein verendetes Entenküken an den Beinchen hoch.

»Der Lagerverwalter gibt keine Gerste mehr heraus«, klagte sie, und ihre Lippen zuckten verräterisch.

»Weshalb? Wie kommt er dazu?« brauste der sonst so ruhige Armjon auf.

»Er sagt, sie krepieren doch alle, es ist schade um die Gerste.«

»Und was sagt der Vorsitzende?«

»Wir sollen die Vögel auf den Markt schicken und sie verkaufen. Ohne Wasser sei doch nichts zu machen, sagt er«, erzählte Asmik und fügte hinzu: »Der Lagerverwalter murrt jedesmal, wenn er Gerste rausgeben soll. Er ist schuld daran, daß Onkel Bagrat die Lust an der Sache verloren hat.«

»Weißt du was, Asmik, wir werden zu Aram Michailowitsch gehen«, schlug Armjon vor.

»Ach bitte, tut das, ich werde ins Lager laufen, vielleicht gelingt es mir doch, den Verwalter zu erweichen«, antwortete Asmik. Sie wischte sich rasch die Tränen aus den Augenwinkeln und legte das inzwischen verendete Küken behutsam auf die Erde.

»Laß den Kopf nicht hängen, Asmik, bald ist unsere eigene Gerste reif!« tröstete Armjon.

»Leicht gesagt — laß den Kopf nicht hängen! Werden unsere Vögel es so lange aushalten?« antwortete Asmik und zeigte auf die Küken. »Und du hast aus dem Teich noch so viel Wasser für das Gerstenfeld genommen! Wo soll ich die Küken jetzt schwimmen lassen? Sie sind doch so süß, und sie tun mir so leid . . .«

»Aber die Gerste vertrocknet ja sonst«, rechtfertigte sich Armjon. »Und sie ist doch auch für die Küken... Ich habe nicht geglaubt, daß das Flüßchen so schnell versiegen würde... Aber wenn wir jammern, wird's nicht besser!«

»Geh mal an den See, dann wirst du sehen, wie gut es dort die wilde Sippschaft unserer Entlein und Gänslein hat, wie sie vor Freude piepsen, wenn sie im Wasser herumschwimmen und plantschen und lärmen. Sieh dir nur an, wie ihre Federn glänzen! Unsere sehen ganz räudig aus ...«, klagte Asmik. Anaid war zu den Kindern getreten.

»Armjon, ich habe wohl nicht genug Arbeit gehabt, daß ihr mir noch eine neue Plage aufhalst«, sagte sie mit sanftem Vorwurf. »Seit dem Frühling kennt Asmik kaum noch Schlaf und Ruhe... Immer liegt sie mir in den Ohren: ,Ach, meine Küken sind ohne Wasser! Ach, ein Geier — er wird sich ein Küken holen!' Es braucht sich nur ein Rabe auf die Telegrafenstange zu setzen — schon heißt es: ,Ach, der Räuber! Ich weiß schon, weshalb er dort sitzt, ich weiß, woran er denkt, er will sich ein Küken schnappen! ' — Warum habt ihr nur die Sache mit der Geflügelfarm angefangen? Und nun ist auch noch der Teich ausgetrocknet!... Was soll nun werden?«

»Sei nicht traurig, Tante Anaid«, sagte Grikor. »Wenn es ganz schlimm wird, schlachten wir alle Vögel und essen sie auf. Ich verspreche, tüchtig dabei zu helfen«, scherzte er. »Aber darf Asmik nun mit uns auf den Tschantschakar kommen?«

»Ach, Junge, was hat ein kleines Mädchen auf dem Tschantschakar zu suchen? Vorgestern habt ihr sie auch mit in die Berge geschleppt. Sie hat sich ihre Schuhe ganz zerrissen. Was habt ihr dort zu suchen?«

»Was wir dort zu suchen haben? Kann man denn hier ruhig sitzen, wenn es in den Höhlen des Tschantschakar einfach von Honig trieft?... Komm, Asmik!«

»Es handelt sich nicht nur um den Honig«, fügte Armjon erklärend hinzu. »Wir wollen rauskriegen, auf welche Weise Menschen in die Höhlen kamen, und wir wollen versuchen, an die alten Gerätschaften heranzukommen, die in den Höhlen zurückgeblieben sind.«

»Davon verstehe ich nichts, Armjon; aber wenn du dabei bist, kann Asmik meinetwegen mitgehen. Auf dich kann ich mich verlassen. Auf diesen Schlingel da verlasse ich mich nicht«, lachte Anaid und deutete auf Grikor.

Die Kinder nahmen Schaufeln und Spitzhacken und machten sich auf den Weg.

Sie hatten sich kaum einige Schritte von der Farm entfernt, als Grikor bereits zu murren anfing.

»Was ist dir nur eingefallen, Armjon? Was du alles haben willst! Wenn es um Honig geht, komme ich mit; geht es aber um altes Gerümpel - dann bleibe ich lieber bei meinen Kälbern. «

»Wenn wir rausfinden könnten, wie die Menschen in diese Höhlen gekommen sind, werden wir auch den Honig rausholen«, tröstete Armjon.

Grikor war nun doch einverstanden und ging mit.

Als die Kinder den Fuß des Tschantschakar erreicht hatten, stiegen sie in der Schlucht bis zu der Stelle hoch, an der der Tschantschakar und die Schwarzen Felsen so nahe aneinander rücken, daß sie sich fast berühren. Die steilen Felswände bilden hier einen schmalen Korridor, der wirklich einer Großstadtstraße mit Wolkenkratzern zu beiden Seiten gleicht. Die Kinder standen nun sozusagen auf dem ,Fahrdamm' und schauten hinauf, wo sich hoch oben die dunklen Umrisse der Höhleneingänge abzeichneten.

Es war ein heißer Tag. In der Schlucht regte sich kein Lüftchen, und die Steine waren von der Sonne so durchglüht, daß man sich kaum darauf setzen konnte.

Immer wieder wischten sich die Kinder den Schweiß von der Stirn und mußten sich ausruhen.

»Selbst eine Katze kann auf diese Felsenspitzen nicht hinauf. Wie haben es nur die Menschen fertiggebracht?« überlegte Armjon.

»Vielleicht haben sie die Felsenwände durch eine Brücke verbunden, auf der sie dann von den Schwarzen Felsen auf den Tschantschakar hinübergegangen sind?« meinte Asmik. »Einen anderen Weg kann ich mir nicht denken.«

Die Kinder schwiegen eine Weile. Was ist zu tun? Womit soll man anfangen? dachte jedes für sich.

Ein verdorrter Baum, der sich durch eine Felsspalte zwängte, erregte Armjons Aufmerksamkeit.

»Das war doch eine Eiche«, sagte er, »wie ist die hierher gekommen?«

Nachdem Armjon mehrere Steine ausgegraben und beiseite geworfen hatte, lockerte er mit der Spitzhacke an zwei, drei Stellen das steinige Erdreich und legte die Wurzeln des morschen, aber einstmals großen und kräftigen Baumes frei. Ein paar schmächtige, grüne Sprosse ragten aus dem Boden hervor; es waren aus den Wurzeln geschossene wilde Triebe.

Armjon dachte lange nach. Plötzlich hellten sich seine Züge auf, und er rief seinen Gefährten in freudiger Erregung zu:

»Jetzt ist mir alles klar! Hier hat ganz früher eine mächtige Eiche gestanden. Ihre Wipfel müssen bis zur Mitte des Felsens gereicht haben, also bis zum Eingang zu der Bienenhöhle. Die Menschen sind an dieser Eiche hochgeklettert. Auf dem gleichen Wege haben sie ihre Geräte hinaufgeschafft.«

»Weshalb sind die Menschen denn in die Höhlen gezogen?« wollte Asmik wissen.

»Um sich vor irgendwelchen Feinden zu retten natürlich«, antwortete Grikor. »Es ist erwiesen, daß hier im Gebirge in früheren Zeiten Menschen in fast unzugänglichen Höhlen gelebt haben.«

»Und was ist aus der Eiche geworden?« fragte Asmik neugierig.

'»Die Eiche hat vielleicht der Blitz getroffen. Verstehst du es jetzt? Du kennst doch unseren Dali-Dagh? Die Sonne scheint, es ist ein klarer Tag, aber plötzlich — Wolken, Donner, Gewitter! Sieh nur — schon wieder ziehen Wolken herauf. . . «

Und in der Tat, das Gewölk, das sich über dem Dali-Dagh zusammenzog, wuchs schnell an und wurde dunkler und drohen-der. Bald hatte es sich über den ganzen Himmel ausgebreitet und stand wie eine dunkle Wand über dem Sewan. Grelle Blitze zerrissen diesen schwarzen Umhang mit ihren feurigen Strahlen und beleuchteten für Augenblicke den dunklen Wasserspiegel.

Ein Donnerschlag ließ die Luft erzittern.

Armjon und Asmik hatten sich rechtzeitig in den Schutz eines Felsens gerettet und sahen jetzt, wie der Regen in Strömen niederrauschte. Ihre Freude war groß.

»Das ist das Richtige für unsere Küken! « jubelte Asmik. »Oh, wie gut ihnen das tun wird! Der Teich wird voll werden, und die Gänschen und Entlein werden schwimmen und plantschen.«

Armjon und Asmik hockten sich auf einen Stein, denn sie merkten, daß sie ihren Unterschlupf nicht so bald würden verlassen können. — Es goß mit unverminderter Heftigkeit vom Himmel herab.

»Du darfst aber kein Wasser mehr für die Gerste aus dem Teich nehmen«, sagte Asmik bestimmt. »Ich erlaube es nicht.«

»Du erlaubst es nicht? Und der Plan? Zwanzig Zentner Gerste von jedem halben Hektar? Übrigens wird das Wasser jetzt nicht nötig sein. Nach einem solchen Regenguß werde ich bis zur Ernte keins mehr brauchen... Grikor, was machst du da?«

Grikor stand im strömenden Regen und ließ sich mit Wonne ganze Bäche über das Gesicht laufen.

»Ich will mich erfrischen! Seid ihr wasserscheu? Wasser ist eine Himmelsgabe für unsere versengte Erde. Ihr sollt mal sehen, wie jetzt alles grün wird nach diesem Regen! Ihr sollt mal sehen, wie unsere Kälber sich auf das frische Gras stürzen werden! Im Herbst kommen sie dann auf die Viehwaage. Man wird sie wiegen und zu mir sagen: ,Grikor Owsepowitsch, bitte, holen auch Sie sich eine Prämie ab!' Das hätte mir gerade noch gefehlt — mich mit dem lahmen Bein in das Kolchoslager zu schleppen, um die Prämie abzuholen! Und obendrein muß man für das Prämienkalb auch noch einen Platz im Stall zurecht-machen! « sagte Grikor und bemühte sich, seinen Spaß mit dem nötigen Ernst vorzubringen.

»Grikor, komm her zu uns, du wirst ja naß bis auf die Haut! Wirst dich erkälten«, warnte Asmik.

»Laßt mich, ich fühle mich hier sehr wohl!«

Armjon und Asmik mußten ihn mit Gewalt unter den Felsvorsprung ziehen. Dort saßen sie nun dicht beieinander, während in der Schlucht der Donner schauerlich widerhallte, in kurzen Abständen Blitze aufzuckten und der Regen sich in ausgiebigen Strömen über die von Hitze erschöpfte, ausgedörrte und durstige Erde ergoß.

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