Das Leben an der ,Oase’

Einige Tage, nachdem Kamo das Salz zur Quelle gebracht hatte, sagte der Großvater zu den Jungen:

»Kommt, wir wollen zum Brunnen gehen; ich werde euch etwas zeigen.«

»Was, Großväterchen? Sag es uns doch jetzt schon!« »Kommt nur, kommt, ihr werdet schon sehen.«

»Nehmen wir Asmik mit?« fragte Kamo.

»Wenn sie mitkommen will! Sie ist heute schlecht gestimmt, der Kater hat einen Vogel geholt«, berichtete Armjon.

»Der Kater?« empörte sich der Greis. »Weshalb habt ihr mir das nicht gesagt? Ich hätte ihm das Fell über die Ohren gezogen!« Unmutig schüttelte der Großvater den Kopf und umklammerte mit grimmigem Gesicht den Griff seines Dolches.

»Asmik muß mitkommen, dann vergißt sie ihren Kummer«, meinte Kamo. Armjon ging zur Geflügelfarm. Unterwegs blieb er an dem von den Pionieren angelegten Teich stehen. Er war ausgetrocknet. Der rötliche Lehmboden hatte von der Hitze tiefe Risse bekommen. Oft waren die Spalten so breit, daß Armjon dachte, die jungen Vögel könnten darin zu Schaden kommen.

Wann wird der sich wohl wieder mit Wasser füllen? Wann werden unsere Vögel wieder schwimmen können? fragte sich der Junge bekümmert.

Er fand Asmik in der ,Kinderstube'. Sie war damit beschäftigt, die jungen Vögel hintereinander durch ein seltsames rundes Gerät zu treiben. Sie kamen naß wieder zum Vorschein und wurden dann von Asmik in den Geflügelhof getrieben.

»Was machst du denn da?« fragte Armjon. »Badest du sie?«

»Nein«, rief Asmik lachend. »Sie werden mit einer Flüssigkeit gegen Ungeziefer behandelt. Weil sie jetzt nicht schwimmen können und das Gefieder immer trocken bleibt, wimmeln sie von Flöhen.« Asmik sah ihre Lieblinge traurig an.

»Du sollst mit uns ins Gebirge zu einer Quelle kommen, die wir gefunden haben.«

»Eine Quelle?« Asmik war außer sich. »Wird das Wasser bis hierher zu uns kommen?«

»Nein, dazu reicht es nicht, höchstens für das Wild in der Umgebung, meinen die Geologen.«

Zusammen mit Großvater Assatur erreichten die Freunde gegen Mittag den Gebirgskamm. Sie verbargen sich hinter den wenigen niedrigen Distelsträuchern, die aus den Felsspalten herauswuchsen. Von diesem Versteck aus beobachteten sie, was am Brunnen geschah.

Als Asmik sah, wie eine Rebhuhnmutter ihre Jungen zum Wasser führte, wollte sie vor Freude laut losjubeln und in die Hände klatschen; aber Kamo konnte es rechtzeitig verhindern.

Es war köstlich. Die Rebhuhnmutter hüpfte von einem Stein zum anderen auf die Quelle zu; hinter ihr her kugelten wie winzige graue Federbällchen ihre Küchlein. Nachdem sie ihren Durst gestillt hatten, verschwanden sie zwischen den Steinen und dem spärlichen Gras ebenso schnell, wie sie gekommen waren. »Wie kann man es nur übers Herz bringen, solche süßen kleinen Dinger zu töten«, flüsterte Armjon.

»Das macht ein richtiger Jäger auch nicht«, erklärte der Großvater mit Würde. »Seit sechzig Jahren jagt Assatur im Gebirge, er hat aber noch keine Mutter oder ihre Kinderchen getötet.«

»Vergißt denn ein Jäger, wenn er das Wild sieht, nicht alles andere vor Jagdeifer, Großväterchen?« fragte Kamo. »Hast du wirklich nie aus Versehen eine Mutter oder ihr Junges getötet?«

»Wenn ich die Wahrheit sagen soll - einmal ist das geschehen. Als ich noch sehr jung war, habe ich eine Mutter getötet, aber es hat mir dann sehr leid getan.. . Eine Gemse lief mir mit ihrem Jungtier über den Weg. Ich dachte, halt, die Gemse werde ich erlegen und das Böckchen mit nach Hause nehmen, um es großzuziehen. Das Tierchen mochte einen Tag alt gewesen sein. Ich hatte mich so wie wir hier versteckt gehalten, schoß und traf die arme Mutter. Sie stürzte mit einem Klagelaut. Das Böcklein sah die Mutter liegen. Es sprang zu ihr und saugte, trank unbekümmert bei der toten Mutter... Als ich das sah, krampfte sich mein Herz zusammen. Ich kehrte eilig heim, um nur dieses Böcklein und die sterbende Mutter nicht länger sehen zu müssen.«

Die Augen des Alten waren, während er sprach, feucht geworden, und seine Stimme zitterte leicht.

»Von dem Tage an habe ich nie wieder auf eine Mutter oder ihre Jungen geschossen«, schloß er seine Erzählung. »Aber jetzt wollen wir erst mal nachsehen, ob die Gemsen das Salz an der Quelle gefunden haben.«

Vorsichtig näherten sie sich dem Brunnenloch. Der Großvater sah sich das Salz an, und die Falten auf seiner Stirn glätteten sich. Er strahlte.

»Sie haben es gefunden!« meinte er vergnügt. »Seht nur, wie sie am Salz geleckt haben — richtig poliert haben sie es.«

Im Umkreis der Quelle zeichneten sich zahllose Hufspuren ab, und das große Stück Steinsalz war wirklich von allen Seiten so beleckt worden, daß es keine einzige scharfe Kante mehr aufwies.

»Wie viele Gemsen mögen hier geleckt haben?« fragte Asmik.

»Vielleicht ist die Schafherde vom Kolchos hier vorübergekommen. So viele Gemsen gibt es hier doch gar nicht«, zweifelte Kamo.

Der Großvater lachte.

»Hier, auf dem Dali-Dagh, habe ich schon einmal ein Rudel von zweihundert Stück gezählt. Die Gemsen und die wilden Ziegen kommen gewöhnlich bei Sonnenaufgang oder am Abend zur Tränke. Nur wenn keine Gefahr droht, getrauen sie sich auch am Tage heran. Wenn sie Wasser plätschern hören und Salz wittern, läßt es ihnen keine Ruhe.«

»Riecht denn das Salz?« wunderte sich Grikor.

»Das Wild spürt den Geruch. Tiere, die Gras fressen, werden krank und verlieren den Verstand, wenn sie kein Salz haben. Auch ist das Fleisch solcher Tiere, die kein Salz bekommen haben, ohne Geschmack. — Es klingt unwahrscheinlich, aber Gemsen und wilde Ziegen wittern von weither, wo Salz liegt.«

»Die Wölfe aber werden eher Fleisch wittern als das Salz«, warf Grikor ein, als wüßte er über all die Dinge ganz genau Bescheid.

»Bravo, Junge, du hast recht, jedes Tier wittert das, was es braucht«, bestätigte der Großvater, indem sie zu den Distelsträuchern zurückkehrten.

Sie verbargen sich hinter dem niedrigen Gebüsch und warteten.

»Es paßt gut!« sagte der Großvater. »Der Wind kommt von der Quelle her, das Wild wird uns nicht wittern. Und auch unsere Stimmen werden die Tiere nicht hören — der Wind trägt sie fort. Dennoch müssen wir sehr leise sprechen. Ja; Kinder, ihr seid Prachtkerle, habt einen feinen Brunnen angelegt! Möge auch euer Leben so lang sein wie ein Strom«, schloß der Alte, der gern in solchen Vergleichen sprach. Tief befriedigt blickte er auf den Wasserspiegel des im Sonnenschein glänzenden Brunnens.

Ja, wirklich, hier inmitten der von der Dürre abgestorbenen Pflanzenwelt wirkte die lustig plätschernde Quelle wie das Leben selbst.

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