Der ,Faulpelz’ Seto

Während er seine Ränke gegen die Geflügelfarm schmiedete, wurde Seto von geheimen Gewissensbissen gequält. Asmik, die bis jetzt alle Streiche Setos geduldig ertragen hatte, beschloß eines Tages, sich beim Kolchosvorsitzenden über ihn zu beklagen.

»Onkel Bagrat, bringe du Seto zur Vernunft! Immerzu treibt er sich auf dem Geflügelhof herum; er verspottet und beschimpft mich...«

Bagrat ließ Seto zu sich rufen.

»Weißt du was?« sagte er und zog seine buschigen Augenbrauen böse zusammen. »Ich bin kein Lehrer und kenne mich in den Erziehungsmethoden nicht aus. Ich kenne nur eines — Disziplin! «

Der Kolchosvorsitzende schlug dröhnend mit der Faust auf den Tisch. »Ich werde dir das Fell gerben, Freundchen. .. Was denkst du dir eigentlich? Das ist ja die reine Anarchie. Schreibe an den Staatsanwalt«, sagte Bagrat zu seinem Bürogehilfen, »daß Seto Martirosjan dem Kolchos Schaden zufügt. Ich werde diesem Burschen das Fell versohlen, daß ihm Hören und Sehen vergehen wird...«

Als Asmik am Abend davon erfuhr, lief sie zum Vorsitzenden und bat ihn, die Sache nicht an den Staatsanwalt weiterzuleiten.

»Wir haben uns was ausgedacht«, sagte sie. »Wir wollen es erst mal damit versuchen. Wenn das allerdings nichts nützt, dann... «

»Gut, warten wir noch ab«, willigte Bagrat ein und strich Asmik über das Haar.

Bereits am nächsten Tage beschloß der unverbesserliche Seto, Asmik einen neuen Streich zu spielen. Nun erst recht! dachte er bei sich.

Sein jüngerer Bruder folgte ihm nur ungern; denn er war im Grunde genommen nicht so schlecht wie Seto.

»Mir ist alles gleich«, stachelte Seto den kleineren auf, »wenn. ich doch ins Gefängnis soll, dann wollen wir uns wenigstens vorher noch mal gründlich austoben.«

Aber Arto wollte nicht:

»Nein, nein, wenn wir Großvater Assatur in den Weg laufen, geht es uns schlecht.«

»Du bist ein richtiger Angsthase«, spottete Seto.

In diesem Augenblick tauchten Kamo und Asmik am Ende der Straße auf.

Seto wollte sich wegschleichen, wurde aber von Kamo angerufen:

»Warte, Seto, wir wollen mit dir reden!«

Seto blieb unschlüssig stehen. Er war sich so vieler Untaten bewußt, daß er eine Abrechnung mit Kamo und seinen Freun-n fürchtete und ihnen immer gern aus dem Wege ging. »Was willst du von mir?« fragte er daher mißtrauisch. »Hab keine Angst und komm her, ich will dir nur was sagen.« »Du kannst es mir auch von weitem sagen«, widersetzte sich Seto und blickte sich um, wohin er entschlüpfen könnte.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, wiederholte Kamo. Er wandte sich zu Asmik und flüsterte:

»Komm, wir wollen ihm gut zureden.«

Seto rührte sich nicht vom Fleck. Er kam nicht näher, lief aber auch nicht davon.

Kamo trat auf ihn zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte freundlich:

»Paß auf, Seto, der Streit muß aufhören.«

Seto, der auf die üblichen Vorwürfe gerechnet hatte, blickte finster und verstockt zu Boden. Er war von Kamos freundlichem Ton überrascht, konnte sein Mißtrauen aber noch nicht überwinden.

»Weshalb willst du dich mit Mutwillen ins Verderben stürzen?« fuhr Kamo fort.

»Das nützt doch jetzt alles nichts mehr«, erwiderte Seto mürrisch. »Onkel Bagrat hat an den Staatsanwalt geschrieben, und ich muß euretwegen vors Gericht.«

Nun mischte sich Asmik ein:

»Wenn Onkel Bagrat auch geschimpft hat, er hat doch ein gutes Herz. Und wenn du deine Streiche bereust, wird er dir sicher verzeihen.«

»Ich kann doch nur Schlechtes tun«, erklärte Seto verstockt. »Ihr sagt ja selbst, daß ich heimtückisch und schlecht bin.« Kamo fragte:

»Warum machst du denn solche dummen Streiche?« »Euch zum Trotz«, anwortete Seto verbissen.

»Warum hast du nur solch einen Groll auf uns? Die Geschichte mit dem Buch damals hast du dir doch selber eingebrockt. «

Kamo spielte auf einen Vorfall an, der zu dem Bruch zwischen den Kameraden geführt hatte. Er lag schon einige Zeit zurück, als die Kinder noch in der siebenten Schulklasse waren. Seto hatte damals neben Armjon gesessen, und beide galten als ausgezeichnete Schüler. Es war auch allgemein bekannt, daß beide fleißig von der Schulbibliothek Gebrauch machten. Seto hatte ihr eines Tages Fersmans ,Verständliche Mineralogie' entnommen, ein neues, dickes Werk in einem roten Einband. Nach einiger Zeit forderte Georg Akopowitsch, der die Bibliothek verwaltete, Seto auf, das Buch zurückzubringen, was er jedoch nicht tat. Erst nach wiederholter dringender Aufforderung brachte es Seto endlich mit.

Als Seto in die Bibliothek kam, war Georg Akopowitsch gerade damit beschäftigt, den Schülern der ersten Klasse Bücher umzutauschen. Die Kinder drängten sich um den Tisch und machten einen gewaltigen Lärm.

Georg Akopowitsch sagte zu Seto, er möge das Buch dalassen und ein andermal ein neues holen. Seto legte das Buch auf den Tisch, nahm es dann aber unbemerkt wieder an sich und verbarg es unter seiner Bluse.

Am nächsten Tage wurde das Buch in der ganzen Schule gesucht. Alle Schüler wurden befragt, ausgenommen Seto, der an diesem Tage nicht zur Schule gekommen war.

Hierauf schrieb Georg Akopowitsch einen Zettel an Seto und bat Asmik, ihn dem Jungen zu geben.

Setos Mutter empfing das Mädchen unfreundlich.

»Was willst du von Seto? Seto ist noch in der Schule. Ein Buch verlangt der Lehrer? Nimm sie alle mit! — Nur Ärger habe ich mit dem Bengel, er hilft mir nicht mehr im Hause, immer liest er, und er ist doch schon ein großer Junge.«

Als Asmik zwischen den anderen Büchern die ,Verständliche Mineralogie' erblickte, nahm sie das Buch an sich und sagte:

»Tante Sona, dies ist das Buch, das ich holen soll.«

Auf diese Weise also war Seto in der Schule zu seinem schlechten Ruf gekommen.

Seto blieb eine ganze Woche der Schule fern, so daß sich Georg Akopowitsch schließlich einschalten mußte. Er klärte Seto darüber auf, daß seine Handlungsweise zwar sehr verwerflich sei, daß er aber trotzdem in die Schule kommen müsse.

Seto bekam einen Verweis — einmal als Schüler und zum anderen als Pionier, und zwar sowohl wegen des Buches als auch wegen seines Fernbleibens von der Schule.

Von Stunde an war Seto wie verwandelt. Er hörte nicht mehr auf das, was der Lehrer sagte, sondern hatte während des Unterrichts andere Dinge im Kopf und rutschte dadurch langsam auf die letzte Bank. Erst zum Schluß des Unterrichts wurde er meist lebhaft und verschwand aus der Schule, sobald die Glocke ertönte.

Nachdenklich stand Seto jetzt vor seinen Schulkameraden, die er so lange als seine ,Gegner' betrachtet hatte. Ihr freundliches Wesen hatte ihn nun doch entwaffnet.

»Mach doch mit uns mit, Seto«, sagte Kamo in warmherzigem Ton. »Wir haben so viele Dinge vor, über die alle Welt noch einmal staunen wird! Wir wollen ja gut Freund mit dir sein, auch Asmik, der du so manchen Schabernack gespielt und die du so oft zum Weinen gebracht hast.«

Asmik lächelte gutmütig und zeigte dabei ihre kleinen weißen Zähne.

»Es ist wirklich schade um dich, Seto, du bist doch so ein guter Junge. . .«, rief Kamo.

»Ja«, fiel Asmik ein, »und Seto ist mutig. Er klettert auf die steilsten Felsen und hat überhaupt keine Angst.«

Offenbar hatte Asmik bei Seto eine empfindliche Stelle berührt; sie schmeichelte ihm.

»Was habt ihr denn auf den Felsen zu suchen?« fragt er, diesmal schon in ganz friedfertigem Ton.

»Du weißt doch, daß wir das Bett eines alten Kanals gefunden haben, und jetzt wollen wir rauskriegen, wo der her-stammt und wohin das Wasser verschwunden ist«, erklärte Armjon, der inzwischen hinzugekommen war. »Dabei müssen wir doch auf die Schwarzen Felsen steigen, so wie wir erst vor kurzem auf den Tschantschakar geklettert sind und dort die wilden Bienen entdeckt haben. Und dann müssen wir das Geheimnis des Gilli-Sees klären, auch das Geheimnis der ,Höllenpforte' müssen wir rausbekommen. Wir wollen wissen, wer im Innern des Berges so unheimlich stöhnt.«

»Und du fehlst uns dabei, Seto«, fügte Kamo hinzu. »Laß uns doch endlich mit der Feindschaft Schluß machen.« Er streckte Seto die Hand hin.

Das Fünkchen, das in Setos Herzen glomm, wurde plötzlich zur hellen Flamme. Es ging eine Wandlung mit ihm vor. Er fühlte, daß er ein anderer geworden war. Er drückte die Hand, die Kamo ihm entgegenhielt, und reichte dem Kameraden Pfeil und Bogen.

»Nimm das«, sagte er, »der Krieg zwischen uns ist aus.«

Arto, der sich abseits gehalten und den ganzen Vorgang beobachtet hatte, verzog das Gesicht zu einem breiten, gutmütigen Grinsen.

Kräftig schüttelten sich die Jungen die Hände, und alle waren zufrieden, daß das Kriegsbeil endlich begraben war.

»Wenn wir zusammenhalten, können wir noch mehr fertig-bringen«, sagte Kamo erleichtert.

In diesem Augenblick kam Grikor aus der Vogelfarm herbeigelaufen. Er hatte die Brutöfen beaufsichtigt.

»Die letzten Schalen sind geplatzt«, schrie er. »Küken in allen Farben marschieren auf — ganze Regimenter, kleine und große, gelbe und bunte, alles durcheinander... Das haben sie fein gemacht, unsere eisernen Glucken — sie überschwemmen alles mit Küken!« Und Grikor hüpfte vergnügt auf seinem gesunden Bein zur Farm zurück.

Asmik, Armjon und Kamo liefen, von Seto und Arto gefolgt, zum Stall.

Es war das erste Mal, daß Seto ohne schlechte Absichten die Geflügelfarm betrat. Aus dem Feind war ein Freund geworden.

Diese zweite Brut in der Versuchsfarm versetzte die Kinder durch das gute Ergebnis in wahre Begeisterung.

»Das sind unsere Küken«, riefen sie aus. »das ist unsere Farm.. .«

Als Seto am nächsten Morgen erwachte, war er so fröhlich und unbeschwert wie lange nicht. Sonst war er beim Aufwachen oft so bedrückt und mißmutig gewesen. Nun war alles ganz anders.

Was bedeutet das, was ist mit mir geschehen? Weshalb bin ich so froh gestimmt? dachte Seto. Da fiel ihm plötzlich der gestrige Tag ein. Ungestüm sprang er aus dem Bett.

»Ich habe es verschlafen, Mütterchen, mach schnell!« trieb er die Mutter an.

»Was hast du, willst du gar zum Mähen gehen?« wunderte sich die Mutter.

»Warum nicht? Kann ich es nicht ebensogut wie Grikor mit seinem lahmen Bein? Schnell, Mütterchen, gib mir ein Stück Brot!«

Er steckte das Brot in die Tasche, ergriff die Sense und eilte davon.

Die mit Sensen und Sicheln ausgerüsteten Kolchosarbeiter verließen in Gruppen und Grüppchen fröhlich plaudernd und lachend das Dorf und stiegen ins Tal hinab zu den Luzerne- und Kleefeldern, die am Ufer des Gilli-Sees lagen. Ein leichter Morgenwind wiegte die Halme und Gräser, und ihr Rauschen erfüllte die Herzen der Schnitter mit dankbarer Freude. Diese Felder waren leichter zu bewässern als die oben an den Hängen gelegenen.

Der Kolchosvorsitzende Bagrat holte mit seinem Schimmel die fröhliche Schar ein.

Als Seto den Vorsitzenden sah, senkte er den Kopf und hätte sich am liebsten versteckt. Er traute sich nicht, ihm in die Augen zu sehen.

Doch Bagrat zügelte sein Pferd und beugte sich zu dem Jungen herab.

»Willst du mähen helfen, Seto?« fragte er freundlich. Ohne den Kopf zu heben, antwortete Seto:

»Ja, Genosse Vorsitzender!«

Bagrat nickte ihm lächelnd zu:

»Was gewesen ist, soll vergessen sein. . . Asmik hat mir alles erzählt«, sagte er.

Als er aber merkte, wie verlegen der Junge war, ritt er mit einem kurzen Gruß weiter. Er rief den Gruppenführer zu sich und sagte zu ihm:

»Owsep, es sieht so aus, als wollte Seto seine Missetaten wiedergutmachen. Behandle ihn freundlich. Und sage es auch den Leuten in deiner Gruppe. Hast du mich verstanden? Tut so, als sei nichts gewesen. Damit helfen wir ihm am besten.«

»Wenn wir seinen Ehrgeiz wecken, wird er gut arbeiten«, erwiderte Owsep mit gutmütigem Lächeln. »Ein kräftiger Bursche ist er ja!«

Als drei Tage später in der Kolchosverwaltung die Auszeichnungen für die fleißigsten Mäher besprochen wurden, konnte Bagrat auch Seto für eine Prämie vorschlagen.

Die Mitglieder der Verwaltung waren überrascht.

»Er hat ja im ganzen nur wenige Tage mitgearbeitet, wofür soll er denn eine Prämie bekommen?« fragte einer von ihnen.

Doch auch der Gruppenführer Owsep, der an der Sitzung teilnahm, setzte sich für Seto ein.

»Man kann nur staunen, wie sich dieser Junge zu seinem Vorteil verändert hat«, sagte er. »Keiner aus meiner Gruppe hat so viel geschafft wie er; er kam morgens als erster aufs Feld und ging als letzter nach Hause. Während der Arbeit hat er keinen Unfug gemacht und war nur darauf aus, recht viel zu schaffen und dabei alles gut zu machen.«

»Wenn er sich so bewährt hat, soll er auch ein Paar Schuhe bekommen«, entschied Bagrat.

Am nächsten Tage wurden die Prämien an Owseps Gruppe verteilt. Seto traute seinen Ohren nicht, als er seinen Namen hörte.

»Das muß ein Irrtum sein, Genosse Gruppenführer«, stammelte er verlegen. »Ich habe keine Prämie verdient.«

»Es ist kein Irrtum, mein Junge! Die Verwaltung hat darüber beraten, und es ist beschlossen worden. Nimm deine Prämie und arbeite weiter so gut, wie du es in den ersten Tagen getan hast.«

Seto getraute sich immer noch nicht, vorzutreten.

»Geh, nimm die Schuhe«, flüsterte ihm seine Mutter zu. »Geh doch. Die andern, die eine Prämie bekommen haben, haben auch nicht besser gearbeitet als du.«

Nun gab sich Seto einen Ruck und trat einen Schritt vor. Der Gruppenführer reichte ihm die Schuhe, und Seto wollte sich bedanken, aber seine Stimme versagte, ihn würgten die Tränen im Halse.

Am Abend kamen Kamo und seine Freunde zu Seto, um ihm zu gratulieren. Seto war so aufgeregt, daß er kein Wort herausbringen konnte. Das Herz schlug ihm bis in den Hals. Die Freundlichkeit und das Wohlwollen, das ihm von allen Seiten entgegengebracht wurde, beschämte ihn.

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