Professor Sewjan kommt nach Litschk

In der Mittelschule des Dorfes Litschk ging es heute außergewöhnlich lebhaft zu. Die Tür zum Physikzimmer stand weit offen. Die Schüler schafften die Unterrichtsmittel in aller Eile in das danebenliegende chemische Laboratorium. Das große Zimmer mußte ausgeräumt werden, um die reiche Sammlung der von den jungen Naturforschern entdeckten Altertümer auf-zunehmen. Aram Michailowitsch war diesmal nicht nur Lehrer für Naturkunde, sondern mußte auch als Archäologe seinen Mann stehen.

Kamo, Armjon, Asmik und Grikor halfen ihm. Behutsam wurden die in den Höhlen des Tschantschakar aufgefundenen Gegenstände in den freien Raum getragen und an die von Aram Michailowitsch bezeichneten Plätze gelegt.

Asmik bewunderte den Halsschmuck der Frau des Feldherrn Artak mehr als alles andere, während Kamo über das Schwert des Feldherrn immer wieder in Begeisterung geriet. Als der Lehrer einmal hinausging, konnte Kamo der Versuchung, sich den Helm des Feldherrn auf den Kopf zu setzen, nicht widerstehen. Er nahm den Schild in die linke Hand, und mit der rechten hob er das Schwert in die Höhe. Es war so schwer, daß er sich dabei gewaltig anstrengen mußte und ganz rot im Gesicht wurde. Feierlich deklamierte er die Worte des armenischen Feldherrn Georg Marspetuni, der im zehnten Jahrhundert gelebt hatte:

»Ich schwöre euch, bei der Liebe zu meiner Heimat, daß ich nicht eher in den Schoß meiner Familie und unter das Dach meines Hauses zurückkehren werde, bis ich auch den letzten Feind von unserem Heimatboden vertrieben habe. . .«

Die Schulkinder drängten sich an der Tür zusammen und klatschten laut Beifall.

»Das glaube ich dir«, rief Asmik. »Du würdest sicher auch in den Krieg gehen und unsere Feinde vertreiben.«

Da tauchte der Lehrer in der Tür auf. Schnell setzte Kamo den Helm ab, legte das Schwert beiseite und tat ganz harmlos. Verlegen rückte er an einem Krug; aber Aram Michailowitsch schüttelte nur nachsichtig lächelnd den Kopf.

»Wir wollen unser Schulmuseum als eröffnet betrachten«, rief er. »Kommt herein, Kinder! «

Drei Tage darauf traf eine Gruppe Gelehrter aus Jerewan im Dorfe Litschk ein. Professor Sewjan war mit ihnen gekommen. Als er die Funde erblickte, geriet er in wahre Begeisterung und rief freudig: »Was ihr da gefunden habt, ist so wertvoll, daß es sich gar nicht abschätzen läßt.«

Später, in der allgemeinen Kolchosversammlung, sprach Professor Sewjan von der außerordentlichen Bedeutung, die die aufgefundenen Gegenstände für die Geschichtsforschung hätten. Er sagte aber auch, daß die kühnen jungen Naturforscher des Dorfes Litschk eine Anerkennung verdient hätten, und dankte ihnen im Namen der Armenischen Akademie der Wissenschaften.

»In einiger Zeit«, fügte der Professor dann noch hinzu, »werden Kamo, Armjon, Asmik, Grikor und Großvater Assatur von der Regierung wertvolle Geschenke erhalten.«

Nicht alle Zuhörer waren mit den Worten des Professors einverstanden. Artusch zum Beispiel konnte seinen Neid und seinen Haß kaum verbergen. Aber Grikor, der neben seiner Mutter saß, freute sich um so mehr; seine großen, klaren Kinderaugen glänzten vor Freude und Begeisterung.

Die Kinder waren so sehr an Erfolge gewöhnt, daß der erste Mißerfolg sie ganz aus der Fassung brachte. Mehrere kostbare Wildvögel waren aus der Geflügelfarm verschwunden. Ein Geier konnte sie nicht geholt haben, denn das Gewehr des alten Jägers hielt diese Räuber vom Dorfe fern. Tschambar aber sorgte dafür, daß die Füchse nicht zu nahe herankamen. Asmiks Mutter beaufsichtigte tagsüber die Küken, des Nachts bewachte sie der Großvater. Aber trotzdem verschwanden die jungen Vögel. Es kam vor, daß zehn Stück am Tage fehlten, merkwürdigerweise holte der Dieb sie immer am Tage. Asmik lief sogar zum Kolchosvorsitzenden Bagrat; sie weinte und bat ihn, er sollte doch helfen, die Diebe zu fangen.

Bagrat schrie wie gewöhnlich:

»Das ist reine Anarchie!« und schwenkte verzweifelt die Arme. »Ihr könnt euch begraben lassen«, rief er. »Nicht mal auf ein paar Jungvögel könnt ihr aufpassen.«

Die Jungen ließen jetzt die Umzäunung Tag und Nacht nicht aus den Augen. Sogar die alten Raben, die auf den Telegrafenstangen saßen, wurden mißtrauisch betrachtet.

Eines Tages, als Großvater Assatur die Wache übernommen hatte, sah er, wie eines der jungen Entlein die Flügel auf komische Weise spreizte und sich mit merkwürdig schlaffen Bewegungen dem Zaun näherte.

Was konnte das Entlein auf so komische Weise anziehen? Als der Großvater näher herangehen wollte, sah er, wie ein graues Gänslein auf ähnliche Weise geheimnisvoll mit schlaff en Flügeln über den Boden schleifte und plötzlich verschwand.

»Was bedeutet das?« murmelte der Alte völlig verdutzt. »Ich will gleich mal nachsehen.«

Er stand auf, ging zum Zaun und setzte sich auf eine der leeren Fischtonnen, von denen mehrere herumstanden. Der Verwalter der Konsumgenossenschaft hatte den Großvater gebeten, auf die Tonnen achtzugeben.

In der Farm blieb alles ruhig. Die kleinen Vöglein spazierten friedlich im Hofe hin und her, und nur Asmik, die sich im Hintergrund des Stalls zu schaffen machte, tauchte zuweilen für einen Augenblick auf.

Der Alte zog seine Pfeife aus der Tasche und klopfte sie an der Wand der Tonne aus.

Nun geschah etwas ganz Unerwartetes. Die Tonne schwankte hin und her und knarrte; aus ihrem Inneren aber glaubte der Großvater eine flüsternde Stimme zu hören:

»Ist die Luft rein? Kann man raus?«

Und aus der danebenstehenden Tonne wurde geantwortet: »Ja, ja, komm nur heraus.«

Großvater Assatur bückte sich, um den nur leicht angelehnten Deckel der auf der Seite liegenden Tonne beiseite zu schieben, als ihm unversehens eine Handvoll Erde ins Gesicht flog, so daß er nichts sehen konnte und sich erschrocken die Augen rieb.

Inzwischen waren die Insassen aus den Tonnen herausgekrochen und stoben davon.

Wenn Großvater Assatur, der völlig geblendet war, auch nichts sehen konnte, seine Stimme hatte doch keinen Schaden gelitten. Er brüllte aus Leibeskräften:

»Diebe! Diebe! Haltet sie fest.«

Von allen Seiten kamen Leute herbeigelaufen, und Großvater Assatur berichtete mit tränenden Augen, was er soeben erlebt hatte.

So gründlich die Tonnen auch untersucht wurden, es war nicht mehr festzustellen, wer sich darin versteckt hatte.

Als des Großvaters Augen nicht mehr tränten, rollte er die verdächtigen Tonnen fort zur Konsumgenossenschaft.

Sein ganzer Zorn entlud sich auf den unschuldigen Konsumverwalter.

»Lagere deine Tonnen, wo du willst«, schrie er, »aber nicht in der Geflügelfarm, wo sie Spitzbuben Unterschlupf bieten. Was nützt es uns, wenn wir Tag und Nacht die Farm bewachen!«

Bis zum Herbst ereignete sich nach diesem Zwischenfall nichts Unliebsames mehr. Als aber die Herbststürme einsetzten und der erste Schnee fiel, gab es für Fuchs und Marder bald keine Beute mehr auf den Feldern. Das hungernde Raubgesindel wurde von dem Honigduft, vor allem aber von den fetten Bissen in der Geflügelfarm angelockt.

Jetzt kam den Kindern Großvater Assaturs langjährige Erfahrung als Jäger zugute.

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