Das Urteil des Volkes

Nachdem der Kolchosvorsitzende Bagrat lange geschwiegen hatte, trat er an den Großvater heran, hieß ihn auf stehen und sagte:

»Du hast recht, Alter, dein Vergehen ist schwer. Aber wer von uns kennt nicht den Großvater Assatur? Gibt es auch nur einen einzigen unter uns, dem der Großvater nicht in seinem Leben schon geholfen hätte?«

»Keinen einzigen gibt es«, rief Anaid.

»Wer von euch weiß nicht, daß das ganze Leben dieses Mannes sauber und klar gewesen ist wie Kristall?« fuhr Bagrat fort. »Daß er den Schatz an sich genommen hat und sich nicht entschließen konnte, ihn abzuliefern - das sind alles noch Überbleibsel der alten Zeit, die auf dem Charakter vieler Menschen dunkle Flecken hinterlassen hat. Großvater Assatur ist kein Kommunist, aber in den Tagen des Maiaufstandes 1920 hat er uns Partisanen in seinem Stall verborgen und hat uns von seiner Jagdbeute zu essen gegeben... So leicht werden wir Großvater Assatur nicht aufgeben... Er war der gute Geist unseres Dorfes. Die Sache mit dem Gold war nur eine Verirrung... Erinnert ihr euch noch, ihr Leute, wie wir im ersten Revolutionsjahr gehungert haben? Welches Elend wir während des Bürgerkrieges erlitten haben? Wißt ihr noch, wie die Menschen Gras gegessen haben, wie ihre Bäuche auf-schwollen vor Hunger und wie sie starben? Wer hat damals unser Leben gerettet? Wer hat Litschk gerettet? Die Partei und das russische Volk! Wißt ihr noch, wie damals die Züge an-kamen und Getreide für die Hungernden brachten? Wen haben wir gewählt und beauftragt, dieses Getreide in Empfang zu nehmen und gerecht zu verteilen?«

»Den Großvater Assatur! ... Natürlich den Großvater Assatur!« wurde von allen Seiten gerufen.

»Richtig. Wir haben ihn gewählt, weil er ehrlich war. Und ehrlich«, fuhr Bagrat mit erhobener Stimme fort, »ehrlich ist er auch heute noch. Als Mensch, der in der früheren Gesellschaft aufgewachsen ist, die auf Besitz aus war, konnte er sich nicht ganz von den Eigenschaften und Lastern jener Zeit der Habgier und der Selbstsucht befreien. Die jungen Menschen hier sind frei von diesen Lastern, weil sie in einer neuen Gesellschaft aufgewachsen sind, in einer Gesellschaft, in der die Menschen nur nach dem einen streben — alles Persönliche dem Allgemeinwohl unterzuordnen... Ich möchte also, daß die hier Versammelten über den Großvater Assatur das Urteil sprechen. Meine Meinung wißt ihr. Nun sollen auch andere ihre Ansicht sagen. Dann können wir gleich unseren Beschluß fassen.«

»Was kann dem Großväterchen geschehen?« flüsterte Asmik ängstlich.

Nachdem Bagrat geendet hatte, nahm Aram Michailowitsch das Wort:

»Dieses Gold hier«, sagte er, und zeigte auf die vom Großvater Assatur gefundenen Kostbarkeiten, »ruft in mir die Erinnerung an ein historisches Ereignis wach. Im Frühjahr 1921, als die armenischen Weißgardisten, die Daschnaki, gegen die neue, sowjetische Regierung vorgingen, wurde eine Einheit der elften Roten Armee, an deren Spitze Ordshonikidse, Kirow und Mikojan standen, vom Feinde abgeschnitten. Diese Einheit blieb im Süden Armeniens, bei Nachitschewani, in der äußersten Ecke der Ararat-Ebene, zurück und leistete den konterrevolutionären Truppen Widerstand, obgleich jede Hilfe ausgeschlossen schien. Die Kämpfenden hatten weder Brot, noch hatten sie die nötige Ausrüstung. Vor sich hatten sie die Feinde, hinter sich — den von Feudalen regierten Iran. Ihre Vernichtung schien unvermeidlich zu sein. Plötzlich hörten sie ein Motorengeräusch, und am Himmel tauchte ein Flugzeug auf. Zu der damaligen Zeit war das ein ungewöhnliches Ereignis. Das Flugzeug landete. Es brachte den Kämpfenden Waffen, Munition, Lebensmittel und ein von Lenin gesandtes Säckchen mit Gold. Für dieses Gold gelang es den Kämpfenden, sich im Iran Brot zu beschaffen. Sie kamen wieder zu Kräften, faßten Mut und warfen schließlich den Feind nieder. «

»Das stimmt. Ich bin dabeigewesen«, rief der Molkereiverwalter Artjom.

»Nun soll es mir Großvater Assatur nicht übelnehmen, wenn ich einen Vergleich ziehe«, fuhr Aram Michailowitsch fort. »Dort war Gold, und auch hier ist Gold. Es scheint kein Unter-schied zu bestehen. Aber wozu hat das Gold damals gedient, und wozu diente dieses Gold, als es beim Großvater Assatur im Stall lag?«

Der alte Jäger, der mit gesenktem Kopf zugehört hatte, war von dieser Geschichte offenbar tief beeindruckt.

»Ich möchte aber noch auf einen anderen wichtigen Umstand hinweisen«, fuhr der Lehrer fort. »Bei dieser ganzen Sache beunruhigt mich als Sowjetmenschen der Gedanke, wie schlimm es gewesen wäre, wenn im Großvater Assatur das Alte die Oberhand behalten hätte! Was für ein schwerer Verlust wäre es für die sowjetische Wissenschaft gewesen, wenn diese stummen Zeugen aus der Vergangenheit unseres Volkes, seiner Sitten und seiner Kultur wieder verlorengegangen wären, wenn man sie vielleicht heimlich als wertvolles Metall verkauft hätte.« Aram Michailowitsch griff aus dem Haufen der auf dem Fußboden liegenden Wertsachen eine Münze heraus und betrachtete sie: »Auf dieser Münze ist Tigran der Große dar-gestellt. Zu der Zeit, als sie geprägt wurde, war unser Land noch heidnisch. Dies allein ist ein sehr wichtiger und sehr wert-voller Fund für die Wissenschaft. Solche Funde zu verbergen oder zu vernichten, indem man sie einschmilzt — wäre ein Verbrechen... Nun, ich glaube, Großvater Assatur sieht seine Schuld ein. Er hat oft von der ehrlichen Gesinnung seiner Vorfahren gesprochen, er selbst hat viel von dieser Ehrlichkeit. Großvater Assatur muß sich selber die Frage stellen: Wie kann man beim Anblick dieser Kostbarkeiten die Ehre und die Pflicht den anderen gegenüber vergessen?«

Nun nahm wieder Bagrat das Wort.

»Es ist alles gesagt, was zu sagen ist. Wir glauben, daß die Reue des Großvaters tief und aufrichtig ist. Es ist schön, daß sich diese Dinge gefunden haben. Am meisten aber müssen wir uns darüber freuen, daß sich ein Mensch wiedergefunden hat, daß der Großvater Assatur unter dem Einfluß dieser jungen Leute seine Ehrlichkeit wiedergefunden hat!« -Bagrat drückte dem alten Manne die Hand.

Großvater Assatur atmete erleichtert auf. Sein bleiches Gesicht nahm nach und nach wieder seine natürliche Färbung an.

Alle lächelten ihm freundlich zu. Der Alte richtete sich aus seiner gebückten Haltung schwerfällig auf, und seine Augen leuchteten.

Am meisten freuten sich die Kinder über den glücklichen Ausgang dieser schlimmen Geschichte. Sie hingen sehr an ihrem alten guten Großvater, und es hatte ihnen weh getan, ihn so leiden zu sehen.

Der Lehrer sagte:

»Kamo und seine Freunde haben unseren Dank und unsere Anerkennung verdient. Sie waren es, die durch ihren Eifer und ihre Hartnäckigkeit den Schätzen in den Höhlen des Tsdiantschakar auf die Spur gekommen sind. Und sie haben durch ihr Beispiel den Großvater zur Einsicht gebracht.«

Der Alte strahlte. Seiner Gewohnheit gemäß bekreuzigte er sich und umklammerte den Griff seines Dolches. Er hatte sein Selbstbewußtsein wiedergefunden.

»Jetzt will ich auch gerne sterben«, sagte er. Dann schien ihm etwas einzufallen. Er trat an Kamos Lager und sagte: »Habt ihr denn herausgefunden, was in der Höhle so unheimlich zischt und brodelt? Ist es nicht der Teufel, der die Seelen in seinen Kessel steckt?«

»Nein, Großväterchen«, rief Kamo, der inzwischen wieder zu Kräften gekommen war. »Es ist Wasser, das tief in der Erde fließt.«

»Dann war es auch nicht Satael mit seinem Feuerknüppel, der dich niedergeschlagen hat?«

»Wie stellst du dir das vor, Großväterchen?« fragte Kamo erstaunt. »Der Großvater Oganes ist ja auch nicht vom Teufel niedergeschlagen worden; das hast du doch selber gesagt...«

»Wenn ihn der Teufel niedergeschlagen hätte, Großväterchen«, mischte sich Armjon ein, »dann wäre er doch nicht am Leben geblieben!«

»Das ist wahr, denn wer könnte dem Knüppel des Teufels standhalten?« murmelte der Alte. »Es gibt, wie es scheint, gar keine Hölle.«

»Ist das, was man hört, wirklich Wasser?« wollte Artjom wissen.

»Ja. Man hört es ganz deutlich, es plätschert und gluckst. . .«

»Warum hast du uns davon nichts gesagt?« fragte Artjom den Kolchosvorsitzenden.

»Wir wissen ja selber noch nichts Genaues. Aschot Stepanowitsch, erzähle du uns jetzt, was ihr heute erlebt habt. Und wohin ist dein Kollege Suren verschwunden?«

»Suren ist nicht verschwunden«, erwiderte Aschot Stepanowitsch. »Er hat eine sehr wichtige Aufgabe übernommen: es mußte eine Skizze des alten Flußbettes gemacht und auf ihr die Stellen eingezeichnet werden, die neu zementiert werden müssen, damit das Wasser nicht durch die poröse Lava absickert und die Felder nichts von dem Segen bekommen.« Nach diesem Gespräch sandte Bagrat sofort einen Last-wagen in die Bezirksverwaltung des Wasserbauamtes, um Zement holen zu lassen. Er und der Lehrer machten sich gemeinsam auf den Weg zur ,Höllenpforte'. Sie untersuchten die Höhle und stellten fest, daß tatsächlich im Inneren der Felsen ein Wasserlauf mit sehr starker Strömung fließen mußte.

Schon am nächsten Morgen schickte Bagrat eine Anzahl Kolchosarbeiter in die Berge, die mit dem Ausschachten des Kanalbettes anfangen sollten.

Bald gab es im ganzen Dorf nur noch ein Gesprächsthema:

»Das Wasser ist wieder da!«

Alle Dorfbewohner, ganz gleich ob alt oder jung, alle Männer und Frauen zogen mit Spaten und Spitzhacken zu den Abhängen des Dali-Dagh. Dorthin, wo sich einstmals das alte Flußbett der ,Großen Quelle' des Zaren Sardur befunden hatte.

Alle Hilfsmittel, um die Arbeit schnell zu vollenden, wurden angewendet. Sogar motorisierte Pflüge waren zur Stelle. Als die Sonne aufging, war die Arbeit schon im vollen Gange. Den Motorpflügen folgten die Arbeiter und vertieften und ebneten mit Spitzhacke, Spaten und Schaufel das alte Bett des Kanals.

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