Unter den schwarzen Felsenklippen

Die Kinder krochen unter dem Felsvorsprung hervor, unter dem sie während des Gewitters Schutz gesucht hatten.

Alles ringsum war wieder friedlich und still; der Himmel hatte sich aufgeklärt, und die Sonne strahlte.

In Richtung der Schlucht bildeten die Felsen eine Art vorspringendes Gesims, das sich längs der Felswand hinzog und aus der Ferne an die Stirnfalten eines Greises erinnerte.

Kamo zeigte auf einen dieser Felsvorsprünge und fragte den Großvater:

»Großväterchen, siehst du den Steinpfad da oben? Wohin mag der führen?«

»Dieser Pfad endet in der Mitte der Felsen. Darüber ist noch ein anderer, von dem aus kann man die Höhle des bösen Geistes sehen.«

»Dahin wollen wir, los, Freunde«, rief Kamo energisch und begann, leichtfüßig wie eine Gemse, den vom Großvater be-zeichneten Pfad hinaufzuklettern.

Grikor und Asmik folgten ihm auf den Fersen. Armjon bildete den Schluß des kleinen Zuges.

Der Großvater aber rief ihnen entsetzt nach:

»Laßt das bleiben, Kinderchen. Ihr lauft ja dem Teufel direkt in die Arme. Was soll ich euren Eltern sagen?« Ganz außer sich griff er nach seinem Dolch, um sie irgendwie zurückzuhalten.

»Großväterchen, du hast ja die Grenze schon überschritten«, rief Grikor und schlug mit geheucheltem Schrecken die Hände über dem Kopf zusammen.

Alle mußten lachen.

Großvater Assatur aber kehrte schnurstracks zu dem Eichbaum zurück. Sein Gesicht war kreidebleich geworden. Er brachte gerade noch die Kraft auf, den Kindern mit vor Aufregung zitternden Lippen nachzurufen:

»Seht bloß nicht nach unten, damit ihr nicht schwindlig werdet! Seht nicht nach unten, Kinder!«

Die Kinder sahen ohnehin nicht nach unten. Sie drängten sich im Vorwärtsgehen dicht an die Felswand zur Linken. Dabei entdeckten sie allerlei Einbuchtungen und Einschnitte, die den wilden Ziegen und Gemsen wohl als Unterschlupf dienen mochten.


Kamo ging sicher, mit festen Schritten voran und ermutigte die Kameraden durch sein tapferes Verhalten. Armjon, der immer etwas ängstlich war und daher nur ungern an diesem Unternehmen teilgenommen hatte, folgte als letzter. Grikor und Asmik gingen dicht vor ihm her. Grikor hätte wahrscheinlich wie immer Späße gemacht, aber auch ihm war ein wenig bange zumute: wie leicht konnte ihm sein lahmes Bein zum Verhängnis werden! Einmal stolperte er und wäre beinahe in den Abgrund gestürzt. Nur mit Mühe konnte er sich noch rechtzeitig an einem Felsvorsprung festklammern.

Asmik war erschrocken zusammengefahren:

»Mir ist beinahe das Herz stehengeblieben!«

»Mein dummes Bein ist schuld«, rechtfertigte sich Grikor ärgerlich.

»Geh vorsichtiger!« flehte ihn Asmik an, »sonst muß ich dich wie ein kleines Kind an der Hand führen.«

Je weiter sie kamen, desto enger wurde die Schlucht zwischen den beiden Bergwänden. Die Schwarzen Felsen und die Felsenklippen des Tschantschakar kamen einander immer näher, um schließlich fast zu einem Massiv miteinander zu verschmelzen. Beide Felswände - die eine schwarz, die andere rot - fielen nahezu senkrecht ab. Ein tiefer Abgrund gähnte zwischen ihnen. - Plötzlich war der Pfad zu Ende, und ein Felsen versperrte den Weg.

Die Kinder blieben stehen und lauschten.

Aus der Tiefe, von den Schwarzen Felsen her, drangen merkwürdige Töne zu ihnen herauf, die in der Tat einem dumpfen Stöhnen glichen. Das Gestein unter ihnen schien zuweilen zu beben; es klang so, als arbeite sehr tief im Innern des Felsens eine gewaltige Maschine.

Die Höhle, die seit alten Zeiten als ,Höllenpforte' galt, befand sich auf der anderen Seite des Felsens und war von hier aus nicht zu sehen.

Dicht an das Gestein gedrängt, blickten die Kinder neugierig zu den Abhängen des Tschantschakar hinüber.

Dort schien es mehrere Höhlen zu geben, große und kleine. Die Schlucht, die die beiden Bergmassive voneinander trennte, war so schmal, daß die Höhlen auf der anderen Seite gut zu erkennen waren: die Kinder sahen wie durch die weitgeöffneten Fenster vom obersten Stockwerk eines hohen Hauses auf ein ebenso hohes Haus jenseits einer schmalen Straße.

Plötzlich stieß Kamo einen erstaunten Ruf aus.

Die andern folgten seinem Blick.

In einer der gegenüberliegenden Höhlen konnten sie im Dämmerlicht die Umrisse von irgendwelchen ovalen Gegenständen erkennen.

»Was kann das sein?« fragte Kamo ganz aufgeregt.

»Bienen sind das, Kamo, Bienen!« schrie Armjon. »Sieh nur, wie viele Bienen!«

»Wo denn?«

»Sieh doch hin! Sie fliegen in die runden Dinger hinein und wieder heraus, als wären das Bienenkörbe.«

Beim näheren Hinschauen erkannten die Kinder, daß tatsächlich unzählige wilde Bienen dort aus und ein schwirrten und die rötliche Felswand des Tschantschakar mit lautem Gesumm umschwärmten.

»Was für Unmassen von Honig müssen da drin sein«, rief Grikor, der gleich ans Schlecken dachte. »Jetzt müßt' ich eine lange Stange haben, ungefähr zwanzig Meter lang, dann würde ich einen Lappen um das Ende wickeln und damit rüberangeln, bis ich die Bienenkörbe erreicht hätte. Was meint ihr wohl, wieviel Honig wir uns da herüberholen könnten?... Guckt doch nur... da muß auch die Schaufel des Jägers Karo sein! Jede Felsspalte trieft von Honig. Wenn ich nicht Angst hätte, abzustürzen, würde ich jetzt vor Freude tanzen.«

»Freue dich nur nicht zu sehr«, meinte Asmik besorgt, »sonst stürzt du am Ende wirklich hinunter.«

Als die Kinder die Felsen noch weiter mit ihren Blicken absuchten, entdeckten sie eine andere Höhle, in deren Eingang sich ebenfalls irgendwelche Gegenstände abzeichneten. Aus der Höhle ragte ein Balken heraus, und ein wenig weiter drinnen schien so etwas wie ein großer Kessel zu stehen.

Ihre Erregung wuchs von Minute zu Minute.

»Da müssen Menschen gehaust haben!« rief Kamo. »Aber wie sind sie da hingekommen?«

»Das ist ein richtiges Satansnest. Wie sollten denn Menschen da hinkommen?« zweifelte Grikor. »Der Großvater hat sicher recht mit seinen Geistern. Und auch das Bienennest ist Teufels-werk«; dabei schmunzelte er und sah die Freunde erwartungsvoll an, ob sie auf seinen Spaß eingingen.

Armjon begann richtig zu phantasieren.

»Wie schön wär's, wenn wir jetzt eine Schiebeleiter von der Feuerwehr hier hätten und damit über die Schlucht kämen... Mit so 'ner Leiter würde das sicher gehen.«

»Ja«, seufzte Kamo, »das wäre wie eine richtige Brücke.« Grikor aber meinte recht kläglich

»Wie soll ich denn aber mit meinem lahmen Bein über so eine Brücke kommen?«

Als Asmik das hörte, wie von einer Brücke gesprochen wurde, beugte sie sich zum erstenmal vor und blickte in die Tiefe.

»Oh, wie tief«, schrie sie, »man kann gar nicht bis auf den Grund der Schlucht sehen. Wollen wir nicht lieber umkehren?«

»Wie kann ich umkehren?« Grikor tat so, als müsse er gleich losheulen, und schnitt eine komische Grimasse. »Ich bin ganz betäubt von den Honigmengen. Mein Herz würde schmelzen, sollte ich umkehren, ohne von dem Honig gekostet zu haben!«

Ganz erfüllt von den merkwürdigen Dingen, die sie gesehen hatten, kehrten die Kinder auf demselben Pfad, auf dem sie gekommen waren, wieder zurück.

Armjon fand auf dem Rückweg eine alte, verrostete Patronenhülse und steckte sie in die Tasche.

Der Großvater erwartete sie im Schatten der alten Eiche. Er hatte sich bereits Sorgen um die Kinder gemacht. Als er sie endlich kommen sah, war er außer sich vor Freude, daß ihnen nichts zugestoßen war.

»Alle wieder da — und alle heil und gesund?« rief er. »Ist euch nichts zugestoßen? Ein Wunder ist das, einfach ein Wunder!

Ihr wagt euch in die Höhle des Satans und kommt, ohne Schaden zu nehmen, zurück! «

Großvater Assatur strahlte vor Glück, und die Kinder bemerkten, daß ihr Ausflug in die Höhle des Satans seinen Glauben an diese dunklen Mächte doch stark ins Wanken gebracht hatte.

»Infolge der Hitze haben die bösen Geister ihren Höllenbetrieb während der Sommermonate geschlossen«, erklärte Grikor verschmitzt. »Sie sind in ihr Sommerhaus auf der Spitze des Dali-Dagh gezogen. Du hast ja gesehen, die Erde hat nicht gebebt, und kein Sturm hat gewütet.«

Der Großvater blickte ungläubig drein.

»Nun erzählt mir nur, was ihr dort alles gesehen habt! Habt ihr euch denn zurechtgefunden in dem Teufelskram?« fragte er, nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte.

»Was wir alles gesehen haben, Großväterchen! Was wir alles gesehen haben!« jubelte Asmik. »Solche Wunder, wie sie noch niemand gesehen hat... Es ist einfach wie im Märchen! «

Aufgeregt durcheinanderschwatzend, berichteten die Kinder dem Großvater von allem, was sie in den Höhlen entdeckt hatten.

»Alles, was in den Höhlen ist, haben Menschen dort zurückgelassen, das ist sicher«, sagte Armjon bestimmt. »Wir müssen nur noch rauskriegen, wie die Menschen da raufgekommen sind. Das ist das einzige ,Wunder' an der ganzen Sache, und dem werden wir auch noch auf die Spur kommen.«

»Sag mal, Großväterchen, hast du dies vielleicht mal verloren, als du in deiner Jugend auf die Jagd gegangen bist?«

Der alte Jäger nahm die Patronenhülse in die Hand und betrachtete sie aufmerksam.

»Ich habe euch ja erzählt, daß der Jäger Karo hier in die Berge hinaufgestiegen ist - Friede seiner Asche«, sagte der Großvater ganz feierlich, wie er das so gerne tat. »Das war ein verwegener Jäger! In unserer Gegend hat auch nur er ein solches Gewehr gehabt - die Hülse stammt sicher von ihm. Zu seiner Zeit gingen die Menschen noch mit Steinschloßflinten auf die Bärenjagd. Da kam es wohl vor, daß der Stein herausfiel oder kein Feuer schlug — dann war das Unglück groß! Der gereizte Bär richtete sich hoch und ging auf den Jäger los.

Man mußte mutig sein, um in einem solchen Augenblick nicht den Kopf zu verlieren. Damals gab es noch viele Bären in diesen Bergen.«

»Hier kommen doch Gemsen und Ziegen kaum durch«, staunte Kamo, »wie konnten denn Bären diese schmalen Pfade hochklettern? «

»Dafür sind es eben Bären — der Honig lockt und benebelt sie. Blindlings gehen sie dem Honigduft nach.«

»Es geht ihnen wie mir«, sagte Grikor und lachte.

Doch der Großvater konnte sich nicht über den ungewöhnlichen Fund beruhigen. Immer wieder untersuchte er die Patronenhülse und murmelte vor sich hin:

»Ach, Karo, Karo, was hast du doch für ein gutes Herz gehabt. Was warst du für ein treuer Freund! « Er hatte die Kinder offenbar ganz vergessen und schien sich im Geiste mit seinem Freunde Karo zu unterhalten. Dicke Tränen kullerten über seine runzligen Wangen.

Die Kinder unterhielten sich so lebhaft über alles, was sie gesehen und erlebt hatten, daß sie im Dorf anlangten, ehe sie sich's versahen.

Armjon und Kamo gingen gleich zu Aram Michailowitsch, um ihm zu erzählen, was sie alles gesehen hatten. Er hörte seinen Schülern erst gelassen zu, aber schließlich wurde auch er von ihrer Aufregung angesteckt.

»Ausgezeichnet, ausgezeichnet«, rief er. Und als sie ihren Bericht beendet hatten, stand der Lehrer auf und ging ein paarmal im Zimmer auf und ab. Dann blieb er vor ihnen stehen und fragte:

»Was wollt ihr nun machen? Auf welche Weise wollt ihr zu den Höhlen gelangen?«

Armjon und Kamo blickten sich an, und Armjon sagte unsicher:

»Wir haben gedacht, es ginge vielleicht mit einer Feuerwehrleiter... als Brücke über die Schlucht...«

Der Lehrer lächelte.

»An einer Leiter kann man hinaufsteigen, aber als Brücke läßt sie sich nicht verwenden. Wieviel Meter mögen es von der Felsenspitze bis zum Höhleneingang sein?«

»Ungefähr sechzig Meter«, meinte Kamo.

»Man müßte eine Strickleiter von dieser Länge auftreiben oder anfertigen und sich an ihr von oben herunterlassen. Kamo, du mußt nach jerewan fahren — du bist dort bekannt und wirst am ehesten finden, was gebraucht wird. — Wir wollen Kamo schicken«, entschied der Lehrer.

Am Tage darauf fuhr Kamo nach Jerewan.

Загрузка...