Der Stein aus dem Ring des Feldherrn Artak

Großvater Assatur war jetzt Tag für Tag damit beschäftigt, die Bienenzucht in Gang zu bringen.

Als er eines Tages einen alten, schwarz gewordenen Krug reinigte und die Wabenreste, die sich innen in dem Krug festgesetzt hatten, mit seinem Messer abkratzte, stieß die Klinge plötzlich gegen einen harten, in Wachs gehüllten Gegenstand. Der Alte löste das Wachs ab, und ein grünlich schimmernder Stein in der Größe einer Haselnuß kam zum Vorschein.

Der Großvater freute sich über den hübschen glänzenden Stein und dachte: Ich will ihn Asmik schenken. Er wird ihr gefallen; und ein Mädchen schmückt sich gern. Er steckte den Fund in die Tasche seines Archaluk.

Schon am nächsten Tage kam Großvater Assatur auf den Geflügelhof und bewunderte die jungen Wildvögel, die tüchtig gewachsen waren.

Reichliche Regengüsse hatten in den letzten Tagen das Flüßchen zum Anschwellen gebracht. Auch der Wasserstand im Teich war befriedigend. Eine Menge junger weißer Gänslein schwamm vergnügt auf der glatten Wasserfläche, und die Luft war erfüllt von ihrem lauten Geschnatter. Dazwischen schwammen im bunten Durcheinander die verschiedensten Jungvögel.

Asmik ging dicht an den Teich heran, um ihre Schützlinge zu füttern. Die kleinen Gänschen und Entlein kannten sie gut. Sie schwammen herbei und kletterten Hals über Kopf ans Ufer. Dabei schlugen sie mit den Flügeln, drängten die Schwächeren beiseite und stürzten sich geräuschvoll auf das Futter, das Asmik mit vollen Händen ausstreute.

»Sieh nur, Großväterchen, wie munter sie sind«, rief Asmik dem Alten zu. »Sieh nur, wie sie sich herandrängen.« Der Großvater lächelte:

»Du hast deine Arbeit so gut gemacht, daß du eine Belohnung verdienst«, und er reichte ihr den schönen grünen Stein.

Asmik betrachtete ihn neugierig. Er gefiel ihr sehr gut, und sie stürzte gleich davon, um ihn Armjon zu zeigen.

»Ich bin sofort wieder da, Großväterchen«, rief sie. »Gib du solange auf meine Kinderchen acht.«

Und schon war sie verschwunden.

Als Armjon den Stein sah, runzelte er erstaunt die Brauen. »Meiner Ansicht nach ist das ein Smaragd«, sagte er, »und ich glaube, daß er sehr wertvoll sein muß.«

Asmik erschrak.

»Sehr wertvoll?« stotterte sie.

»Ja, und sieh nur«, fuhr Armjon eifrig fort, »da sind doch Buchstaben oder Zeichen eingeschnitten.«

»Laß mal sehen«, bat Asmik. »Du hast recht... Was kann das nur sein?«

»Laß mir den Stein mal hier«, meinte Armjon. »Ich werde ihn Aram Michailowitsch zeigen, der wird uns sicher sagen können, was das für Zeichen sind.«

Nur widerstrebend trennte sich Asmik von dem schönen Geschenk des Großvaters.

Zu Hause angelangt, betrachtete Armjon den Stein durch eine Lupe und machte einen Freudensprung. Das war ja eine großartige Entdeckung. In dem Stein war ein Adler eingeritzt und darunter einige Worte, von denen Armjon allerdings nur den Namen »Artak« entziffern konnte. Winzige Vertiefungen am Rande bewiesen, daß der Stein irgendwo eingelassen gewesen war.

Armjon, der ein gutes Gedächtnis hatte, entsann sich, im Geschichtsunterricht von dem Feldherrn Artak, der vor vielen Jahrhunderten gelebt hatte, gehört zu haben. Sicherlich stammte dieser Stein aus dem Siegelring des Feldherrn, mit dem er seine Erlasse gesiegelt hatte.

Armjon lief, den Stein in der Hand, zu Aram Michailowitsch; der untersuchte ihn sehr genau, und nach längerem Überlegen konnte er die Vermutung des Knaben bestätigen.

»Das kann ein wichtiger Fund für die Geschichtsforschung sein«, sagte der Lehrer. »Woher hast du ihn denn?« »Großvater Assatur hat ihn Asmik geschenkt.«

»Vielleicht hat er ihn auf der Jagd, irgendwo in den Bergen, gefunden. «

Armjon lief sogleich zu dem Alten.

»Großväterchen, woher hast du den Stein?« rief er aufgeregt.

»In einem der Krüge in alten, vertrockneten Honigwaben habe ich ihn gefunden.«

»War sonst nichts in dem Krug?«

»Gar nichts«, sagte der Großvater, »hätte ich gewußt, daß der Stein etwas Besonderes ist, so hätte ich ihn dem Lehrer gleich gebracht.«

Als Armjon dann mit Kamo zusammentraf, erzählte er ihm von dem schönen Stein, den der Großvater auf so komische Weise gefunden hatte.

Der Stein schien wirklich ein Beweis dafür zu sein, daß der Feldherr Artak in den Höhlen des Tschantschakar Zuflucht gesucht haben mußte. Wie hätte sonst der Stein in den Krug kommen sollen?

»Ich habe gehört, daß sich die Menschen von solchen Ringen bis zu ihrem Tode nie trennten«, meinte Armjon. »Sicher gibt es in den Höhlen noch viele solcher merkwürdigen Dinge.«

»Das, was wir bis jetzt gefunden haben, muß armen Leuten gehört haben. Nichts war so kostbar, daß man glauben konnte, es sei im Besitz eines großen Feldherrn gewesen«, meinte Kamo.

Armjon aber war anderer Meinung: »Das will alles nichts besagen. Daß sich Artaks Ring in der Höhle befunden hat, zeigt doch, daß der Feldherr dagewesen sein muß.«

»Gut, Armjon, dann müssen wir also noch einmal ins Gebirge und noch viel gründlicher in den Höhlen herumstöbern.«

Auf eigene Faust, ohne dem Lehrer etwas davon zu sagen, beschlossen die beiden Jungen, sich auf den Weg zum Tschantschakar zu machen, denn sie wünschten sich brennend, ohne jede Hilfe etwas ganz Großes zu entdecken, so daß alle Welt staunen würde.

Am nächsten Tage standen Armjon, Grikor und Kamo bereits in aller Frühe auf dem Gipfel des Tschantschakar. Immer noch schwirrte eine Unmenge von Bienen vor den ausgeräumten Höhlen. Die Jungen hatten die Strickleiter mitgenommen und kletterten, wie beim erstenmal, vorsichtig zur Felsenplattform herunter. Dieses Mal wollten sie alles noch viel gründlicher durchsuchen. Während sie zu der Höhle gingen, in der das Skelett sie erschreckt hatte, blieb Kamo plötzlich stehen und blickte auf ein Loch, das wie der Zugang zu einem Dachsbau aussah.

Sie leuchteten mit der Taschenlampe hinein und sahen, daß es ein enger Gang war.

Kamo schlüpfte als erster hinein.

»Folgt mir, Freunde«, rief er. »Seht euch aber vor. Es ist eng hier drinnen.«

Kaum waren sie in dem Loch verschwunden, als Grikor einen Schmerzensschrei ausstieß:

»Au, dieser verfluchte Stein! Ist er denn blind? Sieht er denn nicht, daß jemand kommt?«

»Was ist los? Hast du dir den Kopf gestoßen?«

»Ja und wie. Der Stein war härter als mein Kopf.«

Kamo und Armjon mußten lachen. Wenn einer von ihnen sich weh getan hatte, war ein Scherz das beste Heilmittel. Der Junge biß die Zähne zusammen, er hatte zwar eine tüchtige Beule an der Stirn, und es war ihm eigentlich gar nicht nach Scherzen zumute, aber sein Humor siegte, und er lachte fröhlich mit.

Nachdem sie in dem engen Gang einige Meter gekrochen waren, kamen die Jungen zu einer kleinen Höhle. In den Felsen gehauene Stufen führten von dort aufwärts in eine größere Höhle, die fast rund war und eine kuppelartige Decke hatte.


Phantastische Figuren bedeckten die Wände und gaben ihr ein märchenhaftes Aussehen.

Die Knaben bestaunten diese wunderbaren, von der Natur geformten Gebilde.

»Wahrscheinlich ist es Kalk, mit verschiedenen Mineralsalzen vermischt, die sich im Wasser aufgelöst haben. Der Kalk mag an den Wänden heruntergeflossen sein und ist im Laufe der Zeiten versteinert«, meinte Armjon. »So können sich diese komischen Tropfsteinfiguren nur gebildet haben.«

Plötzlich schrie Grikor auf. Wie zur Bildsäule erstarrt, wies er stumm in eine Ecke.

Entsetzen packte die Kinder. Dort kauerten, Schulter an Schulter, zwei menschliche Skelette, von denen das eine einen mit funkelnden Edelsteinen besetzten Helm auf dem Kopfe trug. Darunter gähnten die leeren Augenhöhlen; und durch die gefletschten Zähne sah es aus, als grinse der Totenschädel.

Kamo faßte sich als erster.

»Ihr braucht euch nicht zu fürchten«, sagte er, »es sind menschliche Skelette. Nun haben wir vielleicht auch den Besitzer des Siegelrings gefunden.« Kamo zeigte auf das Skelett mit dem edelsteingeschmückten Helm. »Und das andere kann die Frau des Feldherrn gewesen sein.«

Behutsam berührte Kamo das kostbare Geschmeide am Halse des zweiten Gerippes, dessen Knochenbau zweifellos zierlicher war. Die Edelsteine strahlten in dem Halbdunkel der Höhle hell auf.

Als Kamo dann das männliche Skelett genauer betrachtete, entdeckte er an der Seite einen kleinen edelsteingeschmückten Dolch SogIeich vermuteten die Jungen, daß der Feldherr aus Verzweiflung über seine hoffnungslose Lage sicher Selbstmord begangen habe.

»Ja, das weiß ich aus dem Geschichtsunterricht«, rief Armjon. »Artak hatte sich das Leben genommen. Sicher, weil er dem Feinde nicht lebend in die Hände fallen wollte. Artak muß ein sehr tapferer Feldherr gewesen sein. Er hat den Aufstand der Bauern im Sewangebiet geführt.«

Die Jungen versuchten nun, sich im Geiste die Tragödie vor-zustellen, die sich vor langer Zeit in dieser Höhle abgespielt haben mußte.

Kamo meinte, die Höhle sähe mit ihrem merkwürdigen Wandschmuck und den Tropfsteingebilden wie ein alter Tempel aus, in dem Kronleuchter von der Decke herabhingen.

Armjon, der gleich überall herumstöberte, rief plötzlich begeistert aus:

»Ich habe Artaks Schwert gefunden. Seht mal, es ist mit Edelsteinen besetzt und so schwer, daß man es kaum aufheben kann. Wenn Artak mit einem solchen Schwert gekämpft hat, muß er sehr groß und stark gewesen sein.«

»Das war er auch«, antwortete Kamo. »Das kannst du sogar an dem Skelett sehen; ein Riese muß er gewesen sein ... Was hast du, Grikor? Du siehst ja ganz bleich aus.«

Grikor hatte wieder etwas entdeckt, das ihm die Sprache verschlagen hatte.

Stumm deutete er auf einen Haufen Skelette, die nicht weit von den beiden zuerst entdeckten in einem Winkel lagen; neben ihnen häuften sich Schilde, Köcher mit Pfeilen, Speere, Helme aus Kupfer und Harnische aus Bronze.

»Wißt ihr, was das bedeutet«, rief Armjon. »Hier liegt der Rest der Krieger, die unter Artak gekämpft haben. Sie haben mit ihrem Leben unsere Heimat verteidigt. Ich glaube«, fuhr Armjon fort, »es ist besser, wenn Aram Michailowitsch diese Altertümer selber holt, oder noch besser, es kommt jemand aus Jerewan. Wir wissen nicht, wie man mit solchen Dingen umgehen muß. Nur dies hier wollen wir mitnehmen.«

Und Armjon gab Grikor Artaks Helm und das Halsgeschmeide zum Tragen.

»Nimm du das Schwert, Kamo, es ist schwer, und du hast die meisten Kräfte. Ich werde noch den Dolch nehmen.«

Kamo und Grikor stimmten Armjon zu, und die Kinder krochen durch den engen Gang wieder ins Freie und kletterten an der Strickleiter zum Gipfel des Tschantschakar empor.

In der Ferne heulte der ,Wassermann'. Kamo drohte ärgerlich: »Auch dich werden wir eines Tages kriegen!«

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