Die Belohnung

Der Bezirkssekretär des Kommunistischen Jugendverbandes fragte eines Tages seinen Kollegen, den Kolchosvorsitzenden Bagrat:

»Weshalb bekommen eigentlich eure jungen Naturforscher keine Prämien? Es gibt Prämien für die Melkerinnen und die Mäher; aber die Kinder, die eine Geflügelfarm gegründet und wertvolle Altertümer entdeckt haben, sollen leer ausgehen?«

»Ehrlich gesagt«, erwiderte Bagrat, »ich weiß nicht einmal, ob man für so etwas Prämien verteilen kann. Wir geben denjenigen Prämien, die die festgesetzten Arbeitsnormen über-erfüllt haben. Aber gibt es denn irgendwelche Normen für die Errichtung einer Geflügelfarm oder für die Entdeckung altertümlicher Werte? Nein, solche Normen gibt es nicht. Und wie Sie wissen, ich bin ein Feind jeder Anarchie, bei mir gibt es nur eines - Disziplin.«

Der Bezirkssekretär lächelte. Er kannte die Schwäche dieses sonst so tüchtigen Mannes.

»Gewiß, Genosse Bagrat, in den Bestimmungen ist darüber nichts gesagt, aber das, was unsere Jungpioniere leisten, sind sehr wertvolle Beiträge für die Wissenschaft.«

»Zugegeben, daß diese Leistungen wertvoll sind, aber ich weiß trotzdem nicht, ob. . .«

»Da ihre Neuerungen die Normen des auf diesem Gebiete Üblichen übersteigen, verdienen sie auch eine Belohnung.«

»Gut, ich werde mit der Parteiorganisation sprechen, viel-leicht findet sich ein Ausweg«, sagte Bagrat.

In der nächsten Sitzung der Kolchosverwaltung war diese Frage auf die Tagesordnung gesetzt worden. Man kam über-ein, die Jungpioniere Kamo, Armjon, Grikor und Asmik durch wertvolle Geschenke auszuzeichnen.

»Wie wär's mit einem Radioapparat?« schlug Aram Mi-chailowitsch vor. »Es sind intelligente, wißbegierige Kinder. Sie werden die Übertragungen aus Moskau und aus anderen großen Städten hören, und das wird für sie von großem Nutzen sein. Alles, was sie hören, werden sie außerdem auch den an-deren Schülern und den Kolchosarbeitern mitteilen, und sie sind hell genug, um den anderen manches zu erklären. Auf solche Weise werden die Radioapparate dem ganzen Kolchos Nutzen bringen.«

»Sie sind aber teuer«, wandte Bagrat ein.

»Ja, teuer sind sie, aber die jungen Leute haben eine wertvolle Belohnung verdient.«

»Und wie ist es mit dem Großvater Assatur?«

»Ihm, dem alten Jäger, geht ein gutes Schießeisen über alles andere in der Welt«, warf der Gruppenführer Owsep scherzend ein. »Wir wollen ihm ein modernes Gewehr schenken. Sein jetziges stammt, wie er selber sagt, noch aus dem Kaukasischen Krieg.«

Die Vorschläge wurden angenommen, und es wurde beschlossen, die Geschenke in Jerewan zu besorgen.

Als Seto von den Beschlüssen der Kolchosverwaltung erfuhr, empfand er zum ersten Male keinerlei Neid darüber. Er wunderte sich selbst. Es kränkte ihn nicht im geringsten, daß seine bisberigen Widersacher auf so großartige Weise ausgezeichnet und belohnt werden sollten, und er dachte nur daran, wie er sich geärgert hätte, wenn das alles zehn Tage früher geschehen wäre.

Während er noch über diese Dinge nachdachte, wurde er in die Kolchosverwaltung gerufen.

»Seto, mach dich reisefertig«, sagte Bagrat zu ihm, »du sollst morgen nach Jerewan fahren.«

»Wozu?« fragte Seto erstaunt.

»Du wirst beauftragt, die Geschenke für deine Kameraden einzukaufen«, erklärte Bagrat und sah den Knaben dabei durchdringend an.

Über Setos Gesicht glitt ein fröhliches, breites Lächeln. Seine schwarzen Augen funkelten.

»Sie schenken mir solches Vertrauen?« fragte er.

»Das tun wir«, erwiderte der Vorsitzende lächelnd.

Seto war so aufgeregt, daß er ganz blaß wurde. Seine Lippen bten, und er konnte kein Wort hervorbringen. Der Molkereiverwalter Artjom, ein hochgewachsener Mensch mit ernstem Gesicht, sah Bagrat mißbilligend an.

Das gab Seto, der den Blick aufgefangen hatte, einen Stich. Wahrscheinlich, dachte er, ist Artjom unzufrieden damit. Er hat sicher kein Vertrauen zu mir. Nun gut, ich werd' ihnen eben beweisen, daß ich ihr Vertrauen verdiene.

Daher bezwang er sich und sagte:

»Es ist gut, Onkel Bagrat, ich bin bereit. Nur möchte ich noch um die Erlaubnis bitten, die Sachen statt in Jerewan in Tbilissi kaufen zu dürfen.«

»In Tbilissi?« wunderte sich Bagrat. »Warum in Tbilissi? Gibt es denn in Jerewan keine Radioapparate?«

»Natürlich gibt es welche, Onkel Bagrat. Aber bis Tbilissi ist es nicht weiter als bis Jerewan, und in Tbilissi habe ich einen Onkel. Er wird mir bei meinen Einkäufen behilflich sein.«

»Also schön, dein Onkel kann dir helfen. Gut, fahre nach Tbilissi. Morgen kannst du das Geld und die Ausweise abholen und losfahren«, sagte der Vorsitzende und gab Seto einen Zettel mit der Anweisung.

Kaum hatte Seto die Tür hinter sich geschlossen, als er aus dem Zimmer die Stimme Artjoms hörte:

»Willst du den Wolf zum Hirten machen?«

Einen Augenblick blieb Seto wie angewurzelt stehen. Das Blut schoß ihm in den Kopf. Doch er bezwang sich. Er dachte an die Gänse, die er gestohlen hatte, dachte an seine übrigen Missetaten — und schluckte die Kränkung herunter. Er würde beweisen, daß man ihm getrost Geld anvertrauen konnte, und sogar große Summen...

Natürlich hatten ihn Artjoms Worte verletzt. Sie fielen ihm immer wieder ein. Wenn er jedoch umgekehrt wäre, hätte er hören können, was der Vorsitzende von ihm sagte:

»Wie kannst du Seto mit einem Wolf vergleichen? Wie kann jemand ein Wolf sein, der im Kolchos geboren und aufgewachsen, der bei uns zur Schule gegangen ist? Überleg dir mal, wer sein Vater war? Der Fischer Chetscho — der ertrunken ist, als er Fische für den Kolchos fangen wollte. .. Ich gebe zu, die Mutter hat keinen guten Charakter, sie hat an dem Jungen manches verdorben. Aber was haben wir beide zu seiner Erziehung beigetragen? Meinst du, wir haben keine Schuld, daß aus ihm beinahe ein Taugenichts und Faulenzer geworden wäre? ... Ich habe auch mit dem Lehrer gesprochen. Er findet es richtig, daß wir ihm diesen Vertrauensbeweis geben.«

Zu Hause fiel Seto seiner Mutter um den Hals:

»Mütterchen, die Kolchosverwaltung schickt mich nach Tbilissi und gibt mir viel Geld mit ... «

»Nach Tbilissi? Warum denn das? Was sollst du da?«

»Ich soll für Kamo, Armjon, Asmik, Grikor und den Großvater Assatur Geschenke einkaufen.«

Zuerst ärgerte sich Sona:

»Der Teufel soll sie alle holen«, fluchte sie, »ich muß mich von früh bis spät abrackern, und das Pack bekommt Geschenke.«

Aber sie beruhigte sich bald und hielt es schließlich für ganz nützlich, daß ihr Sohn nach Tbilissi fahren sollte.

»Na schön, fahre, du wirst den Onkel besuchen — er wird dich nicht mit leeren Händen zurückkommen lassen«, meinte sie.

Sonas Bruder Arat, der vor der Revolution in großer Armut gelebt hatte, war nach Tbilissi gezogen und hatte dort als Arbeiter in der Holzindustrie Beschäftigung gefunden. Jetzt, unter der Sowjet-Regierung, ging es ihm gut.

»Vielleicht wird er für seine Schwester ein Paar Schuhe und ein Kleid kaufen, wenn er schon sonst nichts für uns tut... Seine Frau ist zwar eine böse Sieben! Sie hat eine spitze Zunge, wie eine Natter... Und sie ist auch schuld, daß der Onkel sich nicht um uns kümmert. Die Krätze wünsche ich ihr an den Hals . . . «

Seto wußte darauf nichts zu erwidern, aber seine Freude war nicht mehr so groß wie zuvor. Das hatte Sona mit ihren gehässigen Bemerkungen zuwege gebracht.

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