Wilder Honig

Welche Schätze an Honig gehen bei uns verloren!« sagte der alte Jäger seufzend und wies mit einer Kopfbewegung in die Richtung, in der ausgedehnte Luzerne- und Kleefelder lagen.

Kamo erriet, was den alten Mann bekümmerte.

»Können wir uns nicht auch mit Bienenzucht beschäftigen?« fragte er, und seine Augen leuchteten. »Wir wollen Onkel Bagrat bitten, daß er uns Bienen und Bienenstöcke beschafft. Wir werden sie auf unserer Parzelle aufstellen und eine richtige Bienenzucht einrichten.«

»Bienen gibt es hier ringsum mehr als genug; es ist nur schwer, an sie heranzukommen.«

»Wo gibt es denn hier Bienen?«

»Da drüben, auf dem Tschantschakar -auf dem Bienenfelsen. Darum heißt er ja auch so; dort ist wirklich das Reich der Bienen. Und Honig gibt es dort in unglaublichen Mengen, er ist goldgelb, dickflüssig und duftet herrlich. Wir können eben nur nicht ran, dazu sind unsere Arme zu kurz. Ihr habt doch gehört, was sich die alten Leute im Dorfe erzählen? Berggeister sollen dort eine richtige Bienenzucht haben. Aber sie brauchen den ganzen Honig für sich allein und haben Wächter aufgestellt, damit kein Fremder rankommen kann. Die Leute erzählen sich, daß die Geister dort oben in Höhlen wohnen.«

»Kommt man denn da wirklich nicht hin?« fragte Asmik.

Sie hatte inzwischen die Küken gefüttert und setzte sich nun zu den Freunden.

»Komm, Großväterchen, komm! Zeig uns die Höhlen wenigstens von weitem«, drängte Kamo.

»In die Gegend wagt sich keiner. . . « , murmelte der Großvater ein wenig verlegen.

»Und du willst ein Jäger sein?« neckte Grikor den Alten. »Ach, du Grünschnabel, bist noch naß hinter den Ohren und willst dich über einen alten Jäger lustig machen? Ich habe so viele Wölfe und Bären getötet, wie Kälber in deiner Herde sind! Zeig mir nur mal einen Bären — ich will ohne Gewehr, nur mit dem Dolch bewaffnet, auf ihn losgehen! Dazu gehört Mut, mein Junge. Mit den Geistern ist es anders. Bei denen läßt sich mit Tapferkeit nichts ausrichten. Hast du soviel Verstand, um das zu begreifen?«

So sehr sich die Knaben auch bemühten, dem Großvater Assatur klarzumachen, daß es keine Geister gäbe und daß all dieses Gerede dummer Aberglaube sei — er blieb hartnäckig bei seiner Meinung.

»Was heißt das — es gibt keine Geister? Solange ihr mir nicht sagen könnt, wer in den Schwarzen Felsen so unheimlich ächzt und stöhnt, werde ich bei meinem Glauben bleiben«, beharrte der Großvater. »Ich will euch etwas erzählen: Der Jäger Karo — Friede seiner Asche — hat es versucht, zu den Geistern in die Höhlen einzudringen. Er ist abgestürzt, und man fand ihn zerschmettert am Fuße des Felsens. Und was für ein mutiger Jäger war er! «

»Woher wußte er denn, daß da oben soviel Honig ist?« fragte Kamo.

»Woher er das wußte? Nun, Karo war eben ein richtiger Jäger. Am Summen der Bienen konnte er beurteilen, wieviel Honig sie sammelten. Karo war unglaublich tapfer. Es gibt keine Geister, hat er gesagt, genau wie ihr. Nun, da ist er auf die Spitze des Tschantschakar geklettert, hat einen Strick an den Felsblöcken festgebunden und hat sich daran zur Höhle hinabgelassen. Doch er kam nicht hinein, der Eingang war zu schmal. Und was, meint ihr, hat er gemacht? Mit Dynamit hat er den Eingang aufgesprengt. Wißt ihr auch, wieviel Honig er aus der Höhle herausgeschaufelt hat, richtig herausgeschaufelt, mit einer Schaufel? Vierzehn Pud!«

»Vierzehn Pud?« staunte Grikor.

»Jawohl, vierzehn Pud... Den Honig hat er seinem Esel aufgeladen und hat ihn ins Dorf gebracht. Alle Leute sperrten Mund und Nase auf. Gevatter Mukel sagte zu ihm: ,Du hast Glück gehabt, Karo, daß die Geister nicht zu Hause waren.' Karo aber lachte nur und stieg am nächsten Tag wieder auf den Tschantschakar. Diesmal hatte er kein Glück; die Geister waren zu Hause. Sie wurden wütend, packten Karo und schleuderten ihn in den Abgrund — so haben sie Rache genommen... Seitdem er dort umgekommen ist, wagt es niemand mehr, den Felsen zu besteigen. Karos Schaufel ist in der Höhle geblieben; sie steckt sicher noch in dem Honig.« Alle schwiegen und hingen ihren Gedanken nach.

Schließlich sagte der Großvater:

»Ja, der Tschantschakar ist ein mit Honig gefüllter Speicher. Wer weiß, seit wieviel Jahrhunderten die Bienen ihn immer mit neuem Vorrat füllen.«

»Seit Jahrhunderten? Werden denn die Bienen nicht alt, sterben sie nicht?« fragte Asmik naiv. Der Großvater schmunzelte.

»Die Wohnung der Bienen im Felsen ist Hunderte von Jahren

alt, die Bienen selber sind jedoch nicht älter als ein paar Monate.

Die einen werden alt und sterben, die andern schwärmen aus und siedeln sich an einer anderen Stelle an. Im Bienenstock aber bleiben immer die jungen zurück. Wenn man sagt, daß die Bienen schwärmen, dann heißt das, daß die alten wegfliegen und den jungen die Bienenstöcke überlassen haben. Darum bleibt die Bienenfamilie auch ewig jung«, schloß der Großvater.

»Wieso sagt man aber, wenn die Bienen schwärmen, daß die jungen sich von den alten getrennt haben und mit ihrer neuen Königin einen Unterschlupf suchen?« staunte Armjon.

Der Großvater schmunzelte abermals und strich sich selbstzufrieden den langen weißen Bart.

»Hrn.. .«, brummte er. »Du denkst, alles, was sich die Leute erzählen, ist richtig. Viele Menschen glauben, daß die jungen Bienen aus dem Bienenstock wegfliegen und eine neue Familie gründen, wie es bei vielen anderen Tieren ist:, die Kinder sind herangewachsen und verlassen das Elternhaus. Die Biene macht diesen Fehler nicht. Denn würde sie ihre schwachen, unerfahrenen Kinder aus dem Bienenstock weglassen - sie würden nicht am Leben bleiben, müßten elend zugrunde gehen. Mit den Bienen ist es anders als zum Beispiel mit den jungen Wölfen, die einen schlafenden Hasen finden, den Unglücklichen beim Genick packen und verschlingen. Für sie ist das einfach. Bei den Bienen ist die Sache nicht so leicht. Ein Bienenvolk muß, um zu leben, einen gewaltigen Bau errichten. Eine ganze Stadt! Speicher für den Honig, für den Blütenstaub, Räume für die Kinderchen und noch vieles mehr. Macht mal einen Bienenstock auf und seht ihn euch an — es ist eine Stadt, sage ich euch, eine richtige Stadt, mit ihrer besonderen Ordnung und ihren besonderen Regeln... Und nun frage ich euch: Wer soll weg-gehen, um eine neue Stadt zu bauen — die Alten, Erfahrenen, oder solche unvernünftigen Kinder wie ihr zum Beispiel?«

»Die Alten natürlich! « antworteten die Kinder wie aus einem Munde.

»So, meint ihr? Nun, so ist es auch; die alten Bienen überlassen den jungen freiwillig ihren ganzen Besitz. Die Wohnung, die Vorräte an Wachs und Honig, kurz, die ganze Stadt. Sie selber aber fliegen weg.«

»Nehmen sie denn gar nichts mit?« fragte Asmik verwundert. »Kein Tüttelchen! «

»Was sind das doch für gute Eltern! « rief Asmik aus, die von dem klugen Verhalten der Bienen ganz entzückt war.

»Kann man wilde Bienen denn auch an einen Bienenstock gewöhnen?« fragte Kamo.

»Natürlich kann man das. Nimm mal die Waben von wilden Bienen mit ihren Larven und hänge sie in einen Bienenstock - du wirst sehen, wie zahm sie werden. Wie oft habe ich, wenn ich auf der Jagd nach Mardern durch Berge und Wälder streifte, Bienenvölker gefunden. Der Marder hat mir den Weg gezeigt. Er ist es ja, der in der Nacht alle hohlen Baumstämme untersucht und sich gern überfrißt, wenn er Honig findet. Da kommt es dann wohl vor, daß er manchmal gleich an Ort und Stelle einschläft. Ich aber verfolge seine Spur, komme zu dem hohlen Baumstamm und finde den schlafenden Marder und habe ihm, ehe er aufwachen kann, den Garaus gemacht. Dann wird ihm das Fell über die Ohren gezogen und kommt an den Gürtel, der Honig in einen Eimer, die Bienen in meine Mütze - und rasch nach Hause damit! Und was sind das für Bienen!«

»Welche Bienen findest du besser - die wilden oder die zahmen?« wollte Grikor wissen.

»Weißt du denn nicht, daß die zahme Biene mit der wilden nicht zu vergleichen ist?« sagte der Großvater. »Das Gute an der wilden Biene ist, daß sie ein wolliges Kleid an hat, also besser gegen Kälte geschützt ist. Ihre Beinchen sind länger, ihre Flügel sind länger - also kann sie auch länger fliegen, und der Wind kann ihr nicht soviel anhaben. Sie kann Dürre und Hungerzeiten besser überstehen. Weshalb das so ist, meint ihr? Weil niemand für die Bienen sorgt und sie ganz auf sich selbst angewiesen sind. Die zahme Biene aber verläßt sich in allem auf den Imker. So ist in der Natur alles vorausgesehen, alles sinnvoll eingerichtet.«

In Grikors Augen blitzte es auf.

»Ja, kann ich denn weniger als ein Marder?« rief er, von seinem Platz aufspringend, lebhaft aus. »Wie eine Katze werde ich in die Höhle hineinkriechen, den Honig zusammenraffen und - in den Kolchos damit! Ihr werdet staunen.« Feuereifer hatte ihn gepackt. »Kommt, wir wollen gleich hingehen.«

Der Großvater hob abwehrend die Hände.

»Der Weg führt direkt in die Hölle«, rief er außer sich.

»Wir haben keine Angst vor der Hölle«, trotzte Grikor.

»Großväterchen, liebes Großväterchen«, bettelte Asmik, »komm doch, zeig uns wenigstens von weitem, wo es ist.« Schließlich gab der Alte nach.

»Gut«, sagte er, »gehen wir. Aber nur unter der Bedingung, daß ihr nicht dicht herangeht.«

Er erhob sich und steckte seine Bart sorgfältig in den Rock. Auch die Kinder waren aufgesprungen.

Der Hirte kam, und Grikor übergab ihm die Kälber. Asmik lief noch schnell zu ihrer Mutter, um ihr die Küken anzuvertrauen. Die Kolchosverwaltung hatte Anaid bereits im Frühjahr die Aufsicht über das Geflügel übertragen, und seitdem wurde sie als ,Mitarbeiterin an der Versuchsfarm für Geflügelzucht' bezahlt.

»Was müssen wir mitnehmen? Schaufeln? Stricke?« fragte Kamo.

»Vor allem was zu essen!« warf Grikor ein und lief hastig nach Hause.

»Bring aus dem Kolchos ein paar Stricke mit, aber möglichst starke!« rief ihm Kamo nach.

»Bei dieser Gelegenheit müssen wir die Berghöhlen genau untersuchen. Ach, wenn wir außer dem Honig doch auch Wasser finden würden«, sagte Armjon nachdenklich. Alle seine Gedanken galten der Wassernot.

»Wasser? Wasser — das ist ein Traum. Unsere Großväter sind mit dem Wort ,Wasser' auf den Lippen gestorben. Wasser finden! Das ist leicht gesagt. Geht doch hin und findet es! « sagte der Großvater mit hoffnungsloser Stimme.

»Wenn wir nun in dem Berg bei unserm Dorf nach Wasser bohrten, wer weiß, ob wir keine Quellen fänden. Es müssen welche da sein, die den Gilli-See versorgen«, sagte Armjon. »Was meinst du dazu, Großväterchen?«

»Ja, hätten wir denn nicht längst eine Leitung angelegt, wenn das möglich wäre?« brummte der Großvater. »Haben wir nicht auch ohne Bohrmaschinen alles versucht? Du hast schon recht. Ich bin nicht so dumm. Die Hauptsache ist — man muß die Wasserader finden und sie abfangen... Es ist aber keine da! «

»Immer heißt es: ,Keine da, keine da!' Wenn wir sie nicht finden, dann werden die Geologen, die aus Jerewan kommen sollen, es tun.«

Während sie auf Grikor warteten, fingen Kamo und Armjon wieder an, sich wegen des Wassermangels zu streiten. Großvater Assatur hörte ihnen schweigend zu und schüttelte nur zuweilen zweifelnd den Kopf. Endlich tauchte Grikor mit einer Spitzhacke und einem vollgestopften Rucksack auf. Die Freunde liefen ihm entgegen.

»Und die Stricke?«

»Wer wird mir im Kolchos Stricke geben? Nur geschimpft haben sie. Aber das Wichtigste habe ich mitgebracht — jetzt werden wir den Tschantschakar bezwingen. Seht her!« Und Grikor nahm den schweren Rucksack mit Eßvorräten von seiner Schulter. »Ich bin bei euren Müttern gewesen, und jede hat mir etwas Leckeres eingepackt.«

»Bravo!« lachte Asmik. »Das hast du wirklich gut gemacht. Alle Achtung.«

»Und wozu hast du die Spitzhacke mitgebracht?« erkundigte sich der Großvater.

»Forscher gehen nie ohne Spitzhacke in die Berge«, ent-gegnete Grikor gewichtig.

»Wenn du meinst«, sagte Kamo. »Doch jetzt kommt, wir wollen gehen.«

So begann die Suche nach den wilden Bienen, ihr erster Aufstieg auf die Höhen des Dali-Dagh und des Tschantschakar, die von tiefen Schluchten zerklüftet sind.

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