»Wasser, Wasser!«

Von unten an die Höhle heranzukommen erwies sich als unmöglich. Wie bei der Besteigung des Tschantschakar mußten die jungen Forscher den Gipfel der Schwarzen Felsen von der Rückseite her erklimmen. Von oben war der vorgeschobene Felsenrand vor der Höhle gut zu sehen. Er war glatt und glänzend, als sei er poliert worden. Von hier fiel der Berg nicht sehr steil ab, und wenn man sich an den vorspringenden Fels-kanten festhielt, konnte man bis zur Höhle hinuntersteigen. Auf diese Weise war, wie der Großvater erzählt hatte, sein Gevatter Mukel zu dem Eingang gelangt. Noch leichter war es jedoch, mit Hilfe einer Strickleiter nach unten zu kommen.

Nachdem die Freunde das Ende der Strickleiter sorgfältig an einem Felsblock befestigt hatten, ließen sie sie nach unten gleiten. Als erster stieg Kamo hinab. An dem glatten, vorspringenden Rand der Höhle angelangt, blieb er stehen und sah sich um. Unterhalb des Höhleneingangs fiel die Felswand steil in die Tiefe ab, und vor ihm gähnte ein schwindelerregender Abgrund.

Armjon, Grikor und Seto kletterten hinter Kamo her. Als letzter folgte Aschot Stepanowitsch.

Feuchte, kalte Luft schlug ihnen am Höhleneingang entgegen und ließ sie fröstelnd zusammenschauern. Aus der Tiefe drangen dumpfe, klagende Laute zu ihnen empor.

Armjon und Seto nahmen ihre Taschenlampen zur Hand. Die dünnen Lichtstrahlen huschten über feuchte Wände und in finstere Winkel. Die Höhle war sehr breit und offenbar ziemlich tief.

»Leuchte doch mal!« bat Kamo und bückte sich; er hob das Gerippe eines kleinen Fisches auf.

»Ein Fisch?« staunte Armjon. »Laß sehen!«

Beim Schein der Taschenlampe betrachteten die Jungen aufmerksam ihren Fund. Das Gerippe, das schon sehr lange Zeit auf einem trockenen Stein mitten in der Höhle gelegen haben mochte, war gut erhalten und fast unversehrt.

»Ist es denn möglich, daß hier einmal das Meer gewesen ist«, sagte Kamo.

Armjon sah den Geologen fragend an.

»Nein, die Schwarzen Felsen bestehen aus Granit«, antwortete Aschot Stepanowitsch, »und Granit bildet sich nicht im Meer... Mit dem Fisch muß es eine andere Bewandtnis haben...«

Der junge Geologe hatte eine frohe und sehr zuversichtliche Stimme, als er dies sagte.

Sie kehrten zum Ausgang der Höhle zurück und blieben, vom grellen Tageslicht geblendet, eine Weile stehen.

»Wie glatt poliert der Stein ist«, meinte der Geologe, indem er nachdenklich auf den steil abfallenden Felsen blickte. »Das ist mir sofort aufgefallen«, sagte Armjon, »und darauf stützen sich ja auch alle meine Hoffnungen.« Er blickte den Geologen fragend an.

»Du bist auf dem richtigen Weg... Kannst du mir denn auch erklären, was das bedeutet?«

»Ja, gewiß. Und das kleine Fischskelett bestätigt, daß meine Vermutungen richtig sind«, sagte Armjon, ohne zu zögern.

»Es besteht keinerlei Zweifel mehr, wir können ohne Bedenken vorgehen«, sagte Aschot Stepanowitsch.

»Hat denn dieses Fischchen irgend etwas mit der Glätte des Felsens zu tun?« fragte Kamo zweifelnd.

»Unbedingt hat es das. Beide haben die gleiche Ursache.« Diese geheimnisvollen und ihm ganz unverständlichen orte des Geologen steigerten Kamos Ungeduld noch. Arinjon, der merkte, wie neugierig Kamo war, sagte: »Weißt du, was Aram Michailowitsch und auch ich ganz fest glauben?«

»Was denn?« wollte Kamo wissen.

Kamo war wirklich ein bißchen neidisch und bekümmert, denn Armjon wußte immer mehr als er!

»Sieh mal da runter!«

Kamo blickte hinab.

»Was siehst du da?«

»Einen Abgrund.«

»Kannst du die schmale Rinne sehen, die sich hier von der Höhle bis in den Abgrund hinabzieht?«

»Du hast recht, als ob sie eingeschnitten wäre...« »Versuche mal, Granit zu schneiden!«

»Das kann nur Wasser gemacht haben«, rief Kamo. Und seine Freude war so ungestüm, daß er Armjon aufhob, ihn in die Luft warf und wieder auffing wie ein kleines Kind. »Wie ist denn dann aber der Fisch in die Höhle gekommen?«

»Der Fisch konnte nicht in der Höhle leben, er hätte hier nichts zu fressen gehabt. Guck dir mal das Gerippe an. Es stammt doch von einer Forelle, nicht wahr, Aschot Stepanowitsch?« fragte Armjon.

Der Geologe nickte. Er war offensichtlich mit dem Jungen sehr zufrieden.

Armjon fuhr fort:

»Forellen halten sich aber nur in Gebirgsflüssen auf. Sieh dir das an, außer der Wirbelsäule und den Seitenrippen hat sie keine Gräten, und das Maul ist breit. .. Es ist genauso eine Forelle, wie wir sie gestern in dem Bergsee auf dem Dali-Dagh gesehen haben... «

Kamo schrie auf.

»Das bedeutet... «

»Das bedeutet, daß wir das frühere Bett des Flusses gefunden haben, der aus dem Bergsee kommt. Das Fischchen ist von der Strömung mitgerissen worden. Das muß kurz vor dem Erdbeben gewesen sein. Der Fluß ist früher hier entlanggeflossen, aber das Erdbeben hat das Flußbett verändert. Der Felsen ist im Innern gespalten, hat dem Fluß den Weg versperrt und ihn in eine andere Richtung gedrängt. Wie er jetzt fließt, wissen wir noch nicht. Was muß das hier für ein Wasserfall gewesen sein!... Ist dir jetzt auch klar, weshalb die Ziegen sich hier gern aufhalten? An heißen Tagen lockt sie das Rauschen des unterirdisch strömenden Flusses an.«

Kamo und Armjon kehrten wieder in die Höhle zurück. Ihren strahlenden Gesichtern war anzusehen, daß sie allesamt über ihre Entdeckungen sehr glücklich waren. Auch Aschot Stepanowitsch, der ihnen folgte, konnte seine Freude kaum verbergen.

Der Geologe unterzog jetzt die Höhle einer sehr genauen Untersuchung. Er drang bis in die Tiefe vor, kam wieder zurück und klopfte bald hier, bald dort mit seinem Hämmerchen an die Wände. Schließlich sagte er zu den ungeduldig wartenden Jungen:

»Hier wollen wir durchbrechen.«

Seto machte sich an die Arbeit. Er hieb auf die Wand ein, als wolle er den ganzen Dali-Dagh zertrümmern.

Kamo rief aufgeregt:

»Armjon, leuchte doch mal! Grikor, schaufle die Steine beiseite! Seto, laß mich jetzt mal!« Und er nahm dem Freund die schwere Spitzhacke aus der Hand.

Grikor säuberte das kleine im Felsen ausgehauene Loch sorgfältig vom Geröll und kratzte es auf einer flachen Steinplatte zu einem Häufchen zusammen.

»Wenig«, sagte er. »Mein Berg ist nicht größer als eine Faust. «

»Erst wenn er so groß ist wie ein Kinderkopf, können wir den Sprengstoff in das Loch legen«, erklärte Aschot Stepanowitsch.

Kamo, der immer Ungeduldige, war diesmal kaum zu halten. Mit Feuereifer führte er Schlag auf Schlag gegen den Felsen. Er war förmlich in Schweiß gebadet.

»Warte mal«, sagte Grikor, »weshalb quälst du dich unnötig. Zu allem gehört Übung«, fügte er belehrend hinzu. »So mußt du hauen - ruhig, ohne Hast. Mit Gewalt ist dem Stein nicht beizukomrnen.«

Als die Kolchosmolkerei gebaut wurde, hatte Grikor eine Zeitlang im Steinbruch gearbeitet. Er nahm Kamo die Spitzhacke ab und ließ sie, ohne Anstrengung und Hast, in gemessenen Schlägen auf den Stein niedersausen. Das Häufchen der Steinsplitter auf der flachen Steinplatte wuchs schnell an, und die Spitzhacke war schon zwei Fußbreit in den Felsen eingedrungen.

»Hast du's gesehen? So wird's gemacht!« sagte Grikor stolz. Dann rief er:

»Seto, jetzt bist du dran; kratze das Sprengloch aus. Gleich werden wir es knallen lassen.« Grikor nahm alles, was für die Sprengung gebraucht wurde, aus seinem Rucksack und legte es auf den Boden. Dann wandte er sich an Kamo: »Jetzt paß genau auf, Kamo! Hier, dieses körnige Pulver ist Sprengstoff. Schütte ihn in das Loch. So — gut! Jetzt nehmen wir diese schwarze Schnur — das ist die Zündschnur. Und dies hier ist die Kapsel. Ein Ende der Zündschnur wird in die Kapsel gelegt, und das ganze wird im Sprengstoff vergraben... So ist's richtig. Hilf mir jetzt, die Steinsplitter aufzusammeln. Wir schütten damit das Loch wieder zu und klopfen sie mit dem stumpfen Ende der Spitzhacke gut fest. Das Ende der Zündschnur bleibt draußen.«

»Du hältst ja richtige Vorträge!«

Grikor war nicht wiederzuerkennen... Er erteilte Anordnungen, und Kamo und Seto gehorchten ihm widerspruchslos.

»So, fertig... Jetzt ist alles in Ordnung«, sagte Aschot Stepanowitsch. »Grikor, zieh das Ende der Zündschnur heraus!«

Aschot Stepanowitsch sah sich alles noch einmal genau an und sagte dann:

»Alle weg von hier! Gleich zünde ich an.«

Er steckte ein Streichholz in Brand und hielt es an die Zündschnur. Man hörte ein leises Knistern, eine kleine blaue Flamme flackerte und kletterte an der Zündschnur entlang zu der im Felsen vergrabenen Kapsel.

Aschot Stepanowitsch war den Jungen nachgeeilt. Sie suchten in einer benachbarten Höhle Schutz und drückten sich gegen die Wand.

Wenige Sekunden später krachte eine ohrenbetäubende Explosion. Der Felsen bebte, und schwefliger Geruch erfüllte die Luft.

Als sich die Rauch- und Staubwolken verzogen hatten, ging Aschot Stepanowitsch als erster in die Höhle zurück.

Der ätzende Gesteinsstaub und der scharfe Geruch des Sprengstoffes erschwerten das Atmen.

Im schwachen Lichtkegel der Taschenlampe arbeiteten sich die Jungen hinter dem Geologen her zu der Stelle hin, an der sie die Ladung angebracht hatten.

Gesteinsbrocken in allen Größen bedeckten in weitem Umkreis den Boden. An der Stelle der Explosion selbst war ein metertiefes Loch im Felsen entstanden. Der Steinboden vibrierte, als arbeite unter ihm eine riesige Maschine.

»Nun, gelehrter Freund, was kann das deiner Ansicht nach sein?« wollte Grikor von Armjon wissen. »Brodelt der Kessel in der Hölle, oder rauscht Wasser?«

»Da wir nichts vom Vorhandensein einer Hölle wissen«, sagte Armjon und lachte, »ist wohl anzunehmen, daß unter uns irgendwo Wasser rauscht.«

Kamo fragte aufgeregt:

»Wasser? Wirklich Wasser? Und das sagst du so ruhig? Seto, gib mir schnell die Spitzhacke.«

Eine ungestüme Freude erfüllte ihn. In fieberhafter Erregung machte er sich daran, das durch die Explosion entstandene Loch weiter aufzuhacken.

»Hör doch auf, Kamo«, rief Grikor ärgerlich, »ich will mal horchen. «

Grikor kniete nieder und legte sein Ohr an einen großen flachen Stein.

»Es klingt wirklich wie Wasser! Es rauscht wie richtiges Wasser — es gluckst, plätschert, brodelt, sprudelt! ... Wasser, du mein liebes Wässerchen, wir werden dich aus deinem Kerker befreien, du sollst ans Tageslicht kommen!... Seto, was stehst du da und sperrst Mund und Nase auf? Freu dich doch! «

Grikor stürmte, so schnell es mit seinem kaputten Bein ging, ins Freie, hüpfte dicht an den Rand des Abgrunds heran und schrie in die Schlucht hinab:

»Wir haben Wasser gefunden!«

Er stülpte seine Pelzmütze auf einen Stock und schwenkte ihn aufgeregt in der Luft, wie er es auch machte, wenn er die verstreuten Kälber auf der Wiese zusammentrieb.

Auch Kamo lief an den Abgrund und schrie wie besessen: »Großväterchen, Wasser! Wasser! Ganz in der Nähe! Der Kanal! Wir haben ihn gefunden!«

»Was wollt ihr jetzt machen?« rief der Großvater zurück. »Was kann ich tun? Soll ich euch vielleicht helfen?« Er hatte die Hölle und seine Angst davor offenbar ganz vergessen.

»Nein, Großväterchen, wir haben keine Sprengkapseln mehr. Wir kommen erst mal runter.«

Kamo war ganz betrübt.

»Wie schade, daß wir keine Kapseln mehr haben! Was hätte das wieder für ein Krachen gegeben! Das ganze Dorf wäre angelaufen gekommen... Nun müssen wir warten.«

Sie kletterten an der Strickleiter zur Bergspitze hinauf und stiegen von dort in die Schlucht hinab.

Kamo war schon bis an die Eiche gekommen, als hinter ihm Asmiks fröhliche Stimme ertönte:

»Hier, Hier! Wir haben uns vor dem Regen verkrochen!« Leichtfüßig sprang sie den Freunden entgegen.

In diesem Augenblick krachte ein Donnerschlag von solcher Heftigkeit, als hätte der Blitz den ganzen Berg auseinander-gesprengt. Asmik hatte sich vor Schreck auf die Erde geworfen, und auch Armjon, Grikor und Seto duckten sich. Kamo wurde wie von einer unsichtbaren Gewalt durch den Luftdruck hoch-gehoben. Er schwenkte die Arme und fiel der Länge nach hin.

Die vom Blitz getroffene Eiche loderte auf wie eine Riesenfackel.

Der alte Jäger kroch entsetzt hinter der Felswand vor. Als er die am Boden liegenden Kinder sah, schwenkte er verzweifelt die Arme und schrie:

»0 Satael[15]! о Gott der Hölle! Wie soll ich vor die Mütter und Väter dieser Kinder treten? Oh, du grausamer, herzloser Satan! «

Asmik machte den Mund abwechselnd auf und zu, wie ein aufs Trockne geworfenes Fischlein. Sie erholte sich rasch von ihrem Schrecken und stand schwankend auf. Seto und Grikor kamen ebenfalls zu sich, und bald darauf auch Kamo.

Erschrocken und verstört guckten sich die Kinder um. Sie blickten in das ängstlich verzerrte Gesicht des Großvaters und auf den brennenden Baum...

Als erster fand Grikor die Sprache wieder.

»Beinah' war's aus mit uns, und noch bevor wir das Wasser gefunden haben«, rief er und lachte schon wieder.

» Kommt, Kinderchen, kommt! « drängte der Großvater.

Auf dem Wege ins Dorf zurück fragte der Alte:

»Glaubt ihr immer noch nicht, daß es der Teufel war, der euch niedergeschlagen hat?«

»Wie könnten wir denn jetzt am Leben sein, wenn uns der Teufel niedergeschlagen hätte?« sagte Kamo und lächelte.

Der Großvater sah seinen Enkel zweifelnd an. Er konnte von den alten abergläubischen Vorstellungen nicht loskommen.

»Und der Baum? Hat er nicht den Baum zerschmettert?«

»Es gibt ja gar keinen Teuf ei«, sagte Armjon. »Den Baum hat der Blitz getroffen. Und der Kupferkrug hat den Blitz angezogen. «

»Mag sein«, sagte der Großvater und rieb sich nachdenklich den Nacken. »Der verstorbene Simon, Mukels Vater, ist im Gewitter mit einem Spaten über der Schulter gegangen, da hat ihn auch der Blitz getroffen. Er war gleich tot. .. Ihr meint also, es gibt gar keinen Teufel?«

Der Großvater zeigte auf einmal eine so überschwengliche Freude, als sei ihm die ganze Welt zum Geschenk gemacht worden.

»Es hätte aber schlimm ausgehen können«, sagte Kamo. »Wenn wir nur einen Augenblick später gekommen wären, hätten wir gerade bei der Eiche gestanden. Dann hätte uns der Blitz wahrscheinlich getötet, und dem armen Aram Michailowitsch wäre es schwergefallen, Tante Sona und den Alten im Dorf klarzumachen, daß es nicht der Teufel gewesen ist, der uns niedergeschlagen hat.«

»Dreht euch mal um, sieht das nicht herrlich aus?« rief Armjon.

Die Kinder blieben stehen und blickten zurück.

Wie eine gigantische Fackel loderte am Fuße des Tschantschakar die vom Blitz zerschmetterte Eiche, und eine dicke schwarze Rauchwolke stieg zum Himmel empor.

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