Der Morgen war noch nicht angebrochen; im Dorfe Litschk lag alles noch in tiefem, festem Schlaf.
Ein junger Mann ritt auf einem scheckigen, kleinen Pferdchen durch die Morgendämmerung. Am Sattel war ein Ruck-sack befestigt. Es ging im Trab auf die Schwarzen Felsen zu. Verstohlen blickte der junge Mann alle Augenblicke zurück. Er schien Angst zu haben, man könnte ihn einholen. Offenbar wollte er nicht gesehen werden, denn etwas Geheimnisvolles lag in seinem ganzen Gebaren.
Als Pferd und Reiter die vom Blitz getroffene Eiche erreicht hatten, saß der junge Mann ab, band das Pferd fest, nahm den Rucksack und kletterte zum Felsen hinauf.
Auf dem Gipfel angekommen, blieb er stehen und warf einen prüfenden Blick nach unten.
Im Osten begann es Tag zu werden. Die Sterne verloschen, einzig die Venus strahlte noch hell am Himmel.
Im hohen Schilf des Gilli-Sees erwachte das Leben. Ein leichter Morgenwind wehte von den Gipfeln des Dali-Dagh herab und kräuselte den glatten Wasserspiegel des Sewan. Die große Wasserfläche veränderte von Minute zu Minute ihre Farbe und wurde immer lichter.
Wie schön ist das Leben! dachte der junge Mann. Wie herrlich ist die Natur. Welch eine Freude ist es, zu leben und das alles genießen zu dürfen!
Gierig sog er die frische Morgenluft ein. Er lebte, hatte teil an dieser hellen, wundervollen Welt! Um wieviel schöner, um wieviel begehrenswerter kam sie ihm jetzt vor, nachdem er so nahe am Tode vorbeigekommen war. Sicherlich konnte niemand so wie er in diesem Augenblick den Wert des Lebens empfinden und das Leben lieben...
Die Strickleiter, die an einem Felsblock befestigt war, hing an ihrem Platz. Die Ausflüge zur ,Höllenpforte' waren so zur Regel geworden, daß die Leiter gar nicht mehr abgenommen wurde.
Der junge Mann kletterte in der gewohnten Weise hinab und betrat die Höhle. Als er das laute Rauschen des Wassers hörte, klopfte sein Herz vor Freude. Was vor kurzem noch tief im Felsen, unbestimmbar und geheimnisvoll zu hören gewesen war, klang jetzt laut und gebieterisch. Es erschütterte den Granitfelsen. Kein Zweifel, dicht unter der Oberfläche, fast zum Greifen nahe, toste ein reißender Strom. Als Kamo — denn er war es, der sich so früh aufgemacht hatte — die zweite Höhle betrat, sah er, welche gewaltige Arbeit hier in den letzten bei-den Tagen geleistet worden war.
Nachdem er eine Laterne angezündet hatte, stieg er in die Mulde und hieb mit einer Spitzhacke auf den felsigen Boden ein. — Immer deutlicher drang das Rauschen des Wassers an sein Ohr.
Das Dorf war eben erst erwacht, als sich Grikor, Armjon, Seto und Asmik schon den Schwarzen Felsen näherten.
Doch noch ehe die jungen Freunde ihr Ziel erreicht hatten, klang aus dem Innern des Berges eine gewaltige Detonation. Durch den Höhlenausgang wälzten sich dicke Rauchwolken ins Freie.
Was bedeutete das? War dort oben der Teufel am Werk?... Keiner von den dreien kam auf den Gedanken, daß es Kamo sein könnte, der gestern noch krank im Bett gelegen hatte. Wie sollte er denn in der Nacht allein auf die Schwarzen Felsen gelangen; und wo sollte er nach seinem Unfall die Kräfte her-nehmen, um die angefangene Arbeit zu vollenden?
Asmik bekam Angst:
»Wir wollen lieber umkehren«, rief sie.
Doch da hatte Seto das angebundene Pferd entdeckt und jubelte los:
»Kamo ist oben, natürlich, Kamo... «
Und er kletterte rasch den anderen voraus.
Asmik war ganz entsetzt.
»Er ist aber doch krank. Seine Hand ist auch noch nicht heil.«
Grikor trieb die Freunde an:
»Als ob sich Kamo um so was kümmerte.« Er hielt die Hände trichterförmig an den Mund und schrie: »Kamo, wir kommen! Wir sind gleich bei dir.«
Der ersten Detonation waren noch weitere gefolgt. Im Dorf schraken die Leute zusammen, und die Kolchosarbeiter blickten erwartungsvoll zu den Bergen empor.
Auch Kamos Eltern erschraken, als sie die Detonationen hörten. Die Mutter ging in die Stube ihres Sohnes, und fast hätte ihr Herz ausgesetzt, als sie ihn nicht im Bett vorfand. Voller Angst stürzte sie zu ihrem Mann:
»Kamo ist auf und davon. Sicher ist er zu den Schwarzen Felsen gegangen. Er war doch noch viel zu schwach! «
Kamos Eltern hatten sich noch nicht so recht von den Aufregungen der letzten Tage erholt, und nun diese neue Sorge. Der Schmied lief Hals über Kopf aus dem Hause und den Weg entlang, der zu den Schwarzen Felsen führte.
»Kamo ist wieder losgezogen in diese Teufelshöhle!« zeterte Sona, als sie vom Dache ihres Hauses sah, wie der Schmied den Bergen zueilte.
Auch der Kolchosvorsitzende Bagrat wurde von der allgemeinen Aufregung angesteckt, und Aram Michailowitsch kam mit sorgenvollem Gesicht auf die Straße gelaufen.
Als Artusch hörte, daß die Kameraden ohne ihn aufgebrochen waren, stürmte er, so schnell es ging, hinter ihnen her. Auch ein paar andere Schüler folgten ihm.
»Komm, Aram Michailowitsch«, wandte sich Bagrat an den Lehrer, »wir wollen sehen, was unser Kamo und seine Freunde machen... Asmik ist auch dabei. Als es noch dunkel war, ist sie davongeschlichen«, sagte Bagrat, aber er lächelte gutmütig. »Wie anders war doch unsere Jugend! Wenn ich mir diese jungen Leute ansehe, wie sie an nichts anderes denken als daran, ein nützliches Werk für ihre Sowjetheimat zu voll-bringen, und das mit unserer ziellosen Jugend vergleiche. . . « In diesem Augenblick überholten sie Artusch und die anderen Schüler, die auch zu den Schwarzen Felsen wollten. Der Kolchosvorsitzende rief sie an:
»He, Jungens, wohin wollt ihr mit leeren Händen? Zu einer Hochzeit vielleicht? Das ist ja Anarchie!... Zurück mit euch! Nehmt Spaten, Schaufeln und Spitzhacken... Ach, da kommt ja auch Großvater Assatur! Er will also auch hinauf in die Berge! «
Sona stand wie immer auf dem Dach und schrie hinter ihnen her:
»Seto, he, Seto! Du Strolch, du Taugenichts, komm zurück, bleibe weg von der verfluchten Höhle!. . .«
»Schreist du dir schon wieder den Hals aus, Alte?« rief der Großvater vorwurfsvoll und schüttelte den Kopf. »Was hat dir der Herrgott auch für ein Stimmchen gegeben! Schweige lieber mal ein Weilchen.«
Begleitet von seinem treuen Tschambar, schlug der Großvater ebenfalls den Weg zu den Schwarzen Felsen ein.
Bald hatte sich eine große Menschenmenge auf dem Gipfel eingefunden. Die Dorfjugend schrie und lärmte. Einige der Mutigsten ließen sich sogar an der Strickleiter hinunter und verschwanden im schwarzen Schlund der ,Höllenpforte'.
Weiter unten, an der Schlucht, hatten sich die Kolchosarbeiter auf den Abhängen versammelt; sie reckten die Hälse und blickten gespannt nach oben.
Als der Großvater bei der verkohlten Eiche anlangte, fand er Asmik dort vor. Die Freunde hatten sie diesmal nicht mit in die Höhle genommen.
Als Asmik den Alten erblickte, lief sie ihm entgegen. »Großväterchen, dürfen wir beide denn nicht in die Höhle?« rief sie.
»Wieso denn nicht? Kann ohne uns etwas Gescheites dabei herauskommen, Töchterchen?« sagte der Großvater ehrlich er-staunt. »Komm nur, Asmik. Wir gehen ihnen nach.«
Die beiden hatten den Gipfel noch nicht erreicht, als Sonas kreischende Stimme aus nächster Nähe ertönte. Sie war mit den anderen bis zur Schlucht hinaufgekommen.
»He, Seto! He, wo bist du? Willst du machen, daß du heraus-kommst!« Und sie schwenkte verzweifelt die Arme.
In diesem Augenblick tauchte Seto wirklich im Höhleneingang auf. Er strahlte und war sehr aufgeregt.
»Warte, warte, Mutter!« rief er in die Schlucht hinab. »Bald ist es soweit. Noch eine Sprengung, und wir werden wissen, ob da unten. . . «
Seto sprach den Satz nicht zu Ende, sondern sprang plötzlich davon, stürzte auf die Strickleiter zu und hastete sie eilig hinauf. Auch die anderen Jungen kamen aus der Höhle gelaufen, und in größter Eile erklommen sie ebenfalls die Strickleiter.
Grikor winkte den Kolchosarbeitern, die sich auf den Abhängen drängten, zu und hüpfte auf seinem gesunden Bein den Kameraden nach, die schon auf dem schmalen Pfad, der sich längs der Felsen hinzog, nach unten eilten.
»Nein, dieser Grikor!« rief jemand. »Immer ist er vergnügt... «
Ein ohrenbetäubendes Getöse unterbrach ihn; die Schwarzen Felsen erbebten, und eine Feuerwolke wälzte sich aus der »Höllenpforte« heraus. Plötzlich ergoß sich donnernd und to-send ein Wasserstrom aus der Höhle in die Schlucht...
Er floß aus dem dunklen Schlund der ,Höllenpforte', aus seinem Gefängnis befreit, in dem er seit Jahrhunderten eingekerkert war, und stürzte in sprühenden Kaskaden mit ungeheurer Wucht in die Schlucht hinab. Der mächtige Strom eis-kalten,klaren Wassers prallte prallte gegen die vorspringenden Felsen, sprühte, glitzerte und funkelte in der Sonne wie Myriaden von Edelsteinen.
Unbeschreibliche Freude und Begeisterung ergriff die Kolchosmitglieder. Im ersten Augenblick hatte es ihnen die Sprache verschlagen; stumm standen sie da und starrten mit glühenden Augen auf das silberne Band, das sich schäumend und sprudelnd von dem dunklen Hintergrund der Granitfelsen abhob... Doch dann brach der Jubel los. Mützen flogen in die Luft. Die Menschen fielen sich in die Arme, beugten sich nieder und küßten das Wasser... Es war ein wahrer Freudentaumel.
Wütend bellte Tschambar das Wasser an, das sich in die Schlucht ergoß. Er konnte nicht begreifen, daß sich dort, wo er eben noch über trockene spitze Steine gelaufen war, jetzt ein reißender Fluß hinwälzte.
Plötzlich erschien auch Kamo am Rande der Höhle. Von unten sah er ganz klein aus. Er stand auf dem Felsvorsprung, ganz vorn auf der glatten steinernen ,Lippe', an der Armjon und der Lehrer zuerst erkannt hatten, daß vor Jahrhunderten Wasser darübergeströmt sein mußte...
Kamo strahlte. Stolz und befriedigt blickte er auf den reißen-den Strom, dem er und seine Freunde die Freiheit gegeben hatten. Kamo war unbeschreiblich glücklich. Es war ihnen nach vielen Mühen gelungen, einen jahrhundertealten Traum zur Wirklichkeit zu machen.
Die Freunde und die Kolchosarbeiter winkten mit ihren Mützen und schrien ihm etwas zu. Weiter unten, an der zerschmetterten Eiche, scharrte sein angebundenes Pferdchen ungeduldig mit den Hufen und wieherte aufgeregt, wenn die kalten Wasserspritzer seinen Rücken trafen.
Als Kamo unten ankam, wurde er von seinen Eltern, den Freunden und den Kolchosmitgliedern umringt. Jeder wollte den tapferen Jungen umarmen.
Sogar der sonst so derbe Bagrat war heute nicht wiederzuerkennen. Er strahlte über das ganze Gesicht.
Großvater Assatur kam herbei und umarmte seinen Enkel. Aufgeregt rief er:
»So ist's, ihr Leute. .. Eine Hölle gibt es hier gar nicht. Unsere Enkel sind klüger als die Großväter... Was würde Gevatter Mukel sagen? Du solltest einmal herauskommen aus deinem Grab und sehen, was unsere Jugend in deiner ,Hölle' gefunden hat. . .«
Der Großvater war so in Fahrt, daß er gar nicht merkte, daß ihm niemand mehr zuhörte. Alle hatten ihre Schaufeln und Spaten genommen und arbeiteten fieberhaft daran, den Wasser-massen ein Bett zu bereiten. Unter der sachkundigen Anleitung der Geologen wurde ein Zufluß zu dem alten Kanalbett gegraben. Das Wasser sollte an der Stelle in den Kanal münden, an der vor kurzem noch der ,Wassergott' gestanden hatte, der inzwischen im Museum in Jerewan aufgestellt worden war. Einmal in das Kanalbett gelangt, floß das Wasser gezähmt und ruhig zu Tal, den Kolchosfeldern entgegen. Es brachte der durstenden Erde Feuchtigkeit und neues Leben.
Die Kolchosarbeiter hatten vom Flußbett aus Zuleitungsgräben zu den Feldern gelegt, die sich jetzt glucksend füllten. Gierig sogen die Wurzeln der Pflanzen die lang entbehrte Feuchtigkeit auf. Es schien, als atme die durstige Erde und flüstere: Mehr.., mehr.., mehr!
Ein kleiner Seitenarm war bis zum Dorf selbst geleitet worden; er mündete in das ausgedörrte Bett des Baches und in den von den Jungpionieren angelegten Teich.
Asmik war, außer sich vor Freude, zu ihrem Geflügelhof gelaufen. Sie öffnete das Tor weit und trieb ihre Schützlinge zum Teich. Die Gänse und Enten stürzten sich mit lautem Geschnatter in das Wasser. Aber nicht nur die Wasservögel lebten auf, auch die Bienenvölker gerieten in Aufruhr. Bald schwirrten und summten sie über den erfrischten Feldern, und überall zog neues Leben ein.
Laut und fröhlich ging es an diesem Tage im Dorfe Litschk zu. Nur einer, der die alten Bauern seit Jahrhunderten in Angst und Schrecken versetzt hatte, war verstummt: der ,Wasser-mann!
Am Abend fand eine Versammlung auf dem Dorfplatz statt. Die Helden des Tages waren Kamo und seine Freunde. Aram Michailowitsch schüttelte ihnen die Hand und wünschte ihnen Glück:
»Solange unser Sowjetland solche jungen Menschen wie euch hat«, rief er, »wird unser Leben erfolgreich und glücklich sein.«