Eines Tages entdeckte Armjon durch einen Zufall das Geheimnis, weshalb Seto ein ,Faulpelz' war und was ihn so oft vom Schulunterricht abgelenkt hatte. Armjon war zu Seto gegangen, um ihn nach einem Buch zu fragen.
In Setos Zimmer lagen die Fensterbretter, die Tische, die Schemel, die Regale, die Schränke, jedes Fleckchen voller Steine. Steine lagen haufenweise auf dem Fußboden, waren an den Wänden aufgestapelt, häuften sich in den Ecken: Steine in jeder Größe, in allen Farben und Formen...
Armjon war in dem Augenblick zu Seto gekommen, als Sona gerade die übliche Flut der Verwünschungen über den verlorenen Sohn' ergoß. Es wurde ihm recht unbehaglich, als er sie schimpfen hörte.
»Der Kuckuck soll dich holen mitsamt deinen Steinen. — Was willst du mit dem Zeug?« Sie wandte sich an den eben eingetretenen Armjon und fuhr fort: »Andere Leute gehen aufs Feld, arbeiten, verdienen, der Bengel aber denkt immer nur an seine Steine... Nicht genug Schuhzeug und Kleider kann ich heranschaffen... Immer klettert er in den Bergen rum. Und was bringt er mit? Nichts als Steine. Hol sie der Henker alle-samt! Keinen Schritt kann man mehr machen, so voll liegt das ganze Haus. . . «
Auf dem Höhepunkt ihres Zornes angelangt, fing Sona damit an, die Steine einfach zum Fenster hinauszuwerfen.
Seto hielt ihren Arm fest und sagte, indem er sie auf die Polsterbank drückte, ruhig, aber bestimmt:
»Warum schimpfst du? Jetzt arbeite ich doch. Warum ärgerst du dich?«
»Arbeiten tut er jetzt, das ist wahr«, gab die Mutter etwas milder gestimmt zu, »aber mit seinen Gedanken ist er doch immer bei den Steinen. . . Eine wahre Strafe ist das mit ihm... Seinem Bruder hat er auch schon den Kopf verdreht ... denkt aber nicht an die tausend Nöte, die wir haben!«
So klagte Mutter Sona noch lange und laut über ihr ,bitteres Los' und über den ,Taugenichts von Sohn'. Schließlich wischte sie sich mit dem Schürzenzipfel die Tränen ab und ging hinaus.
Die im Zimmer haufenweise umherliegenden Steine und das Gezeter der Mutter Setos hätten auf Armjon unter anderen Umständen wohl einen trostlosen Eindruck gemacht. Jetzt freute er sich und dachte: Und wir haben Seto für einen unverbesserlichen Faulpelz gehalten! Dabei hat er sich mit solchen ernsten Dingen abgegeben.
Armjon wurde auf einmal alles klar. Bis dahin hatte niemand Seto verstanden; niemand hatte etwas von seinen Neigungen gewußt und hatte ihm daher auch nicht helfen können, seine Begabung in die richtigen Bahnen zu leiten. Setos frühere Streiche gewannen in Armjons Augen ein anderes Aussehen. Auch seine Unaufmerksamkeit beim Unterricht war ihm jetzt verständlich, und das Schuleschwänzen konnte er sich nun auch erklären. Seto streifte in den Bergen umher, um Steine zu suchen, darüber hatte er die Schule vergessen...
Armjon nahm einen schweren, unförmigen Stein in die Hand. Er war mit kleinen Pünktchen besetzt, die wie Glühwürmchen leuchteten.
»Ist das etwa Gold?« fragte Armjon.
»Nein, das ist Kupfererz... Den hab' ich an den Schwarzen Felsen gefunden.«
»Und der da, der so glänzt?«
»Das ist schwarzer Schiefer. Aus dem wird man später Flaschen für das Narsanwasser[10] machen. Ich habe den Stein nämlich ganz in der Nähe der Narsanquellen gefunden.«
»Und dieser rostige, bröcklige Stein? — Ist das nicht versteinerte Erde?«
»Nein, das ist keine Erde«, sagte Seto, »das ist Eisen.« »Es sieht aber doch gar nicht aus wie Eisen.«
»Das braucht es auch nicht. Aschot Stepanowitsch sagt, daß die rohen Erze gar keine Ähnlichkeit mit den Dingen haben, die daraus gemacht werden... Guck-mal hier den Klumpen Lehm an. Siehst du den glänzenden Streifen darauf? Als ob eine Raupe darübergekrochen wäre und ihre Spur hinterlassen hätte. Aus diesem Lehm wird Aluminium gemacht ... Und sieh mal, wie dunkel und stumpf dieser Stein aussieht. In Wirklichkeit ist es schneeweißer Marmor. So dunkel geworden ist er vom Regen und vom Frost, von der Sonne und von der Hitze...«
Seto war ganz in seinem Element. Seine schwarzen Augen blitzten. Er ereiferte sich immer mehr und zeigte Armjon voller Stolz seine kostbaren Funde.
»Du sagst, das hier sieht gar nicht wie Eisen aus? Du hast recht, man könnte es für einfache rostige Erde halten. Daran ist auch die Luft schuld. In einem Buch heißt es darüber: ,Wenn der in der Luft enthaltene Sauerstoff sich mit Eisen verbindet, entsteht Rost. Aber sobald man dieses Erz ins Feuer legt, sondert sich der Sauerstoff ab und wir erhalten reines Eisen...' Komm, ich will dir mal zeigen, was ich bei uns im Stall eingerichtet habe. . . «
Seto brachte Armjon in einen alten Schuppen. In einer Ecke stand etwas, das aussah wie ein Schmelztiegel mit Blasebälgen. Daneben lagen auf dem Fußboden mehrere Stücke Steinkohle.
Armjon war sprachlos vor Erstaunen.
Seto fragte gar nicht erst, ob ihm das Spaß mache und ob er Zeit dafür habe, seine Erklärungen anzuhören und seine Steine zu betrachten. Er war selber so begeistert, daß er gleich mit dem Blasebalg Feuer schürte. Dann nahm er ein Stück Erz in eine Zange und wendete es in einem Tiegel über dem Feuer von einer Seite auf die andere. Schließlich zog er mit der Zange einen glühenden, funkensprühenden Klumpen aus dem Tiegel und hielt ihn Armjon triumphierend hin:
»Hier hast du das Eisen, wie du es kennst. Weißt du aber auch, wieviel Eisen in unseren Bergen steckt? Und nicht nur Eisen. Was es sonst noch alles bei uns gibt! Warte mal...«
Seto suchte in der Ecke des Stalls einen Stein heraus und zeigte ihn Armjon:
»Weißt du, was das für ein Stein ist? Du würdest ihn wahrscheinlich wegwerfen. Aus solchen Steinen kann man Kupfer ausschmelzen. «
»Woher weißt du denn das alles?« staunte Armjon. »Woher? Aus Büchern. Und auch der Lehrer hat uns in der Naturkunde viel davon erzählt. Ich höre ihm gerne zu! — Wir haben nicht nur Erze. Es gibt in unseren Bergen noch vieles andere, wovon wir nichts wissen.«
Seto, der sich in diesen Dingen seiner Überlegenheit bewußt war, fuhr begeistert fort:
»Hinter dem Tschantschakar gibt es eine kleine Schlucht — kennst du sie? Hast du gesehen, daß da an einer Stelle ein Loch in den Felsen geschlagen ist und daß davor Schlacke verstreut liegt?«
»Ja, ich kenne die Stelle.«
»Großvater Assatur sagt, daß unsere Vorfahren dort Erz geschmolzen haben. Sie haben es verstanden, so feste Legierungen zustande zu bringen, daß die Schwerter ihrer Feinde wie Holzsäbel an den Schilden, die aus solchen Erzen gemacht wurden, zerbrachen...«
Seto schwieg. Nach einer Pause sagte er ein wenig verlegen: »Weißt du, für die Erze habe ich gar nicht mehr viel übrig. Ich habe hinter dem Tschantschakar Dinge gefunden, daß mir der Atem stockte: Basalt, Marmor — und was für Marmor! Schneeweißen mit rosa Äderchen, schwarzen mit gelber Maserung, als ob Blumen darüber ausgestreut wären, grünen Marmor... ganze Paläste kann man aus solchen Steinen bauen!«
»Was bist du doch für ein gescheiter Kerl, Seto! Was du alles weißt!«
Seto lächelte verlegen:
»Was du glaubst! Es gibt noch so vieles, was ich nicht weiß... Die Steine da drüben zum Beispiel. Ich habe bis jetzt nicht raus-kriegen können, was damit los ist... Ich werde Aschot Stepanowitsch danach fragen... Warte, ich will dir aber noch was zeigen... «
Seto kramte im Stallverschlag und fand ein kleines, einem Tabakbeutel ähnliches Säckchen, das er Armjon hinhielt: »Was meinst du wohl, was da drin ist?«
Armjon öffnete das Säckchen. Es enthielt eine Art Sand von blaßgelber, ausgeblichener Farbe.
»Es sieht aus wie Machorka, ist aber schwer wie Metall... Was kann das sein?«
Setos Augen leuchteten.
»Stell dir vor«, sagte er begeistert, »es ist Gold! Richtiges, reines Gold! Im Frühling hat es unser Flüßchen, zusammen mit dem Sand, aus den Bergen angeschwemmt. Aber in diesem Zustand glänzt es nicht. Wahrscheinlich ist daran auch die Luft schuld. Oder es ist noch etwas beigemischt — genau weiß ich es nicht.«
»Diesen Sand mußt du an den Staat abliefern«, sagte Armjon. »Man muß das melden.«
»Selbstverständlich liefere ich ihn ab. Ich habe es Aschot Stepanowitsch und seinem Kollegen schon gesagt. Ich glaube, in unseren Bergen sind noch viele Schätze verborgen. Die will ich suchen helfen.«
Armjon schwieg. Setos Erzählungen hatten tiefen Eindruck auf ihn gemacht. Seto selber aber stand nun, nachdem er Armjon sein Geheimnis verraten hatte, vor ihm wie ein Schüler, der von dem Lehrer Schelte erwartet.
Endlich brach Armjon das Schweigen:
»Weißt du, Seto, das freut mich alles so sehr: jetzt weiß ich, daß du gar nicht der bist, für den wir dich immer gehalten haben. Aber deswegen war es doch nicht recht, daß du die Schule geschwänzt und die vielen anderen Dummheiten gemacht hast...
Der Weg, den du gehen mußt, steht doch fest — du wirst Geologe werden. Um aber ein richtiger Geologe zu werden, brauchst du Bildung. Du mußt viel lernen, viel, sehr viel sogar... Wir werden mit Aram Michailowitsch sprechen und auch mit den Geologen. Du wirst später nach Jerewan gehen und dort das Bergbauinstitut besuchen. Aschot Stepanowitsch wird dir sicher dabei helfen... Was bist du doch für ein feiner Kerl!« schloß Armjon und umarmte den Kameraden mit solcher Herzlichkeit, daß Seto ganz verlegen wurde.
»Ja, du hast recht. Ich will lernen, viel lernen.«