Der Angriff auf den Tschantschakar

Die Zeitung mit Kamos Bild machte im Dorf die Runde. Man riß sie sich förmlich aus den Händen. Endlich gelangte sie auch zu dem alten Jäger.

Großvater Assatur war ganz aus dem Häuschen.

»Komm, laß dich umarmen«, rief er und drückte den heftig errötenden Kamo an seine Brust.

Auch Bagrat schien erfreut. Ein freundliches Lächeln erhellte jetzt, wenn er den Kindern begegnete, sein sonst so mißmutiges Gesicht.

»Jetzt können wir die Farm ordnungsgemäß eintragen, und ich werde anordnen, daß allen, die dort arbeiten, ein Tagelohn ausgesetzt wird.«

»Damit nicht genug, Onkel Bagrat — du mußt im Kolchos auch noch neue Familien aufnehmen!« erklärte Grikor. Der Kolchosvorsitzende sah ihn erstaunt an.

»Was sind denn das für Neuigkeiten? Welche Familien denn?

In unserem Dorf ist die Kollektivierung schon durchgeführt worden, als du noch ein Säugling warst, mein Lieber.«

»Bienenfamilien, Onkel Bagrat! Mit Kind und Kegel und Bergen von Honig!«

»Aha, vom Tschantschakar!« Bagrat hatte es erraten. »Nun, sollen sie anrücken, die Familien, sie werden uns willkommen sein. Nur glaube ich nicht, daß euch das gelingen wird, was bisher noch keiner fertiggebracht hat... Was willst du?« wandte er sich dann an den Gruppenführer Owsep, der hinzugekommen war. »Du sagst, daß die Mähmaschinen und Sensen fertig sind? Gehen wir! Ich will sie mir selber ansehen.«

Und der Vorsitzende entfernte sich, zusammen mit dem Gruppenführer.

»Wann brechen wir auf, meine Herren Gelehrten?« fragte Grikor. »Beim Morgengrauen?«

»Ja«, antwortete Kamo, »verschlaft nur nicht!«

Artusch, der sich in der Nähe herumdrückte und das Gespräch belauscht hatte, stichelte:

»Wer hätte das gedacht - eine wissenschaftliche Expedition wird organisiert! Wir Dummköpfe haben natürlich keine Ahnung von unseren Reichtümern gehabt! Kamo aber ist aus der Stadt gekommen und hat sie entdeckt..«

»Warum pustest du dich auf?« fragte Kamo und blickte Artusch fragend an.

Artusch murmelte etwas Unverständliches. »Darum, weil du den Jungen mit deinen Einfällen den Kopf verdrehst.«

»Weshalb ärgerst du dich? Man hat dich mehr als einmal aufgefordert, mitzumachen; du willst aber nicht und hetzt die anderen nur auf.. . Grikor, geh und bitte Aram Michailowitsch, er soll doch mit uns kommen.«

»Aram Michailowitsch paßt gar nicht zu euch«, sagte Artusch. »Er ist ein kluger Mensch.«

»Da hast du recht; er ist ein kluger und sehr ernsthafter Mensch, und er wird sich gern mit ernsthaften Dingen beschäftigen. Mit seiner Hilfe werden wir vielleicht nicht nur uralte Gegenstände finden, sondern auch Erze, wie es den Pionieren im Altai-Gebirge gelungen ist.«

»Schöner Vergleich!« spöttelte Artusch. »Hier hast du es mit dem Dali-Dagh zu tun und nicht mit dem Altai.«

»Weißt du nicht, daß die Gebirgskette des Kleinen Kaukasus auch sehr reich an Erzen ist?« fragte Kamo.

»Dann hole sie dir doch! Das Gold wartet ja nur darauf, von dir geholt zu werden«, spöttelte Artusch.

»Nun, vielleicht finden wir etwas, was noch wichtiger ist als Gold... Kommt, Freunde, laßt uns gehen! «

»Ich versteh' nicht, was mit dir ist«, sagte Grikor im Weggehen zu Artusch. »Wenn du vernünftig geworden bist, dann komme zu uns, wir werden gemeinsam arbeiten. . . «

»Also, das Bienennest haben wir schon! « erklärte Grikor, als die Kinder, müde und recht erschöpft, endlich die alte Eiche erreicht hatten. »Verwalten werde ich es, und der Großvater, als ältester Bienenzüchter und zugleich Aufseher, wird in den Nächten den Honig vor Bären und Mardern bewachen.«

»Ich bin bis an die Grenze meiner Vorväter mitgekommen«, sagte der Großvater mit dumpfer, feierlicher Stimme und blieb an der Eiche stehen. Er nahm seine Kappe vom Kopfe und trocknete sich das in Schweiß gebadete Gesicht.

»Und nun wirst du diese Grenze gleich überschreiten«, lächelte Aram Michailowitsch.

»Ich? Ich werde die Grenze überschreiten, über die meine Väter nie einen Schritt getan haben?«

»Ja, du! Du hast sie ja schon überschritten.«

»Wieso denn? Wann denn?«

»Als du in den Kolchos eintratest und in ihm ein gutes Mitglied wurdest. Und als du dich mit diesen Jungen Pionieren befreundet hast... Ja, Großvater, du hast deine Vorväter schon längst überflügelt. Nun überschreite auch noch diese Grenze. . . « Bei den letzten Worten nahm der Lehrer den Großvater beim Arm und führte ihn weiter.

»Hur-ra-a! Großväterchen hat die Grenze überschritten!« schrien die Kinder und folgten ihrem Lehrer und dem Alten auf dem unwegsamen Pfade, der an der Rückseite des Berges zur Spitze des Tschantschakar hinaufführte.


Der Aufstieg war schwer. Aber endlich hatten sie doch den Gipfel erreicht. Der Wind, der vom Sewan herüberwehte, erfrischte die erhitzten Gesichter.

In seiner ganzen Ausdehnung, von einem Ufer bis zum andern, konnte man von hier aus den Sewan übersehen. Sein Wasser, zuerst dunkelblau, nahm bei Sonnenaufgang eine helle, heitere Tönung an, und die Schaumkrönchen der Wellen glitzerten so, als wäre von einer unsichtbaren Hand flüssiges Silber über den weiten Wasserspiegel des Sees ausgegossen worden.

Ein Teil des Sewan lag noch im Schatten, aber die Wolken zogen schnell nach Westen ab, und immer klarer und strahlender leuchtete der Wasserspiegel.

»Seht doch, was für eine große Möwe!« rief Asmik.

»Was sagst du - Möwe - das ist doch ein Segelboot des Fischtrusts«, belehrte sie Armjon. »Aber du hast recht, es sieht aus wie eine riesengroße Möwe.«

Das Schiffchen mit seinem weißen Segel glitt in der Mitte des Sees dahin und zog hinter sich eine lange schaumige Kielspur her.

Während die Aufmerksamkeit der Kinder von dem See in Anspruch genommen wurde, stöberte Tschambar in den Felsen-spalten herum und schreckte Rebhühner auf, die spektakelnd den Sonnenaufgang begrüßten.

»Großväterchen!« rief Grikor. »Was hältst du von Rebhühnern? Man sollte welche schießen.«

»Laß sie leben, Junge, es ist Brutzeit«, erwiderte der Alte gutmütig lächelnd.

Doch die Rebhühner waren so zahlreich und veranstalteten ein solches Konzert, daß sie alle vor Staunen beinahe vergessen hätten, was sie auf den Gipfel des Tschantschakar geführt hatte.

Als erster besann sich der Lehrer.

Aram Michailowitsch musterte die Felsen genau, um ihre Höhe festzustellen. Dann befestigte er die Strickleiter mit dem einen Ende an einem Felsvorsprung und ließ sie vorsichtig zur Felsplatte vor dem Höhleneingang hinabgleiten. Der Eingang war groß und führte auf eine etwa vier Meter breite Felsenplattform. Der unterste Teil der Strickleiter klappte wie eine Harmonika auf ihr zusammen.


»Von hier bis zur Höhle sind es also weniger als sechzig Meter«, sagte der Lehrer. »Seht, wieviel von der Strickleiter noch übriggeblieben ist! «

Der Augenblick des Hinabsteigens war gekommen. Eine merkwürdige Unruhe bemächtigte sich der Kinder. Sie hatten etwas Angst; aber der Wissensdurst und die Spannung auf das Neue waren doch stärker.

Als erster trat der Lehrer an die Leiter heran, aber Kamo hielt ihn zurück.

»Aram Michailowitsch, erlauben Sie, daß ich zuerst hinunter-steige!«

»Dir fällt das natürlich leichter als mir«, antwortete der Lehrer, indem er auf die geschmeidige Gestalt des Knaben blickte. »Aber ich trage die Verantwortung für euch alle und bin verpflichtet, den Anfang zu machen.«

»Aram, geht es denn nicht, daß niemand von euch in diese verfluchte Höhle zu steigen braucht?« flehte der Großvater ängstlich.

»Hab keine Sorge, Großväterchen«, sagte der Lehrer und legte seine Hand auf die Schulter des Greises. »Wir werden hinabsteigen, und du wirst sehen, daß dort keinerlei Teufel hausen.«

Hierauf trat er an den Rand des Felsens und setzte den Fuß auf die erste Sprosse der Leiter.

Asmik wandte sich ab, doch die Knaben beobachteten ihren Lehrer voller Spannung.

Von einer Sprosse auf die nächste tretend, das Gesicht dem Felsen und den Rücken dem Abgrund zugewandt, stieg Aram Michailowitsch die Leiter hinab. Bald entschwand er den Blicken der Kinder. Die Felswand war steil, und was tiefer unten vor sich ging, hätte man nur sehen können, wenn man sich weit vorgebeugt hätte. Nur daran, wie das an dem Felsvorsprung befestigte Ende der Strickleiter zitterte, war zu merken, daß der Lehrer seinen Abstieg fortsetzte.

Endlich hörte die Strickleiter auf zu zittern.

»Großväterchen, er ist schon unten!« schrie Kamo und neigte sich über den Abgrund.

Der Alte klammerte sich an die Felsen und sah ebenfalls vorsichtig nach unten. Aram Michailowitsch stand auf dem Felsplateau und war eben dabei, sich zum Schutz gegen Bienenstiche ein Netz über den Kopf zu stülpen.

Die Knaben hatten Mut gefaßt und waren entschlossen, dem Lehrer zu folgen. Aber wer kam nun zuerst an die Reihe?

Da trat Großvater Assatur vor, legte die Hand auf seinen Dolch und sprach:

»Meint ihr denn, der Enkel des Jägers Assatur werde zulassen, daß ein anderer sich vor ihm in Gefahr begibt?« Kamo lachte und umarmte den Alten.

»Heldenblut hat mein Großväterchen in seinen Adern!« sagte er scherzend. Dann trat er an die Leiter heran und stieg behende zur Felsenplattform hinab.

Als Asmik ihn unten stehen sah, klatschte sie vergnügt in die Hände und rief laut:

»Bravo, Kamo!«

Tschambar, der durch die sonderbaren Vorgänge ganz verstört war, lief unruhig hin und her, bellte laut und versuchte über den Felsrand hinunterzusehen, wohin wohl Aram Michailowitsch und Kamo verschwunden waren.

Asmik blickte fragend auf die Gefährten:

»Wer ist jetzt an der Reihe?«

Armjon, der es die ganze Zeit ängstlich vermieden hatte, in den Abgrund zu sehen, wandte sich nun entschlossen der Leiter zu. Aber Asmik griff nach seinem Arm und hielt auch Grikor zurück.

»Bleibe du hier bei Grikor«, sagte sie und blickte verstohlen auf dessen lahmes Bein. »Du könntest ausgleiten und stürzen. . .«, stotterte sie.

»Wie? Wegen des Beines?« fragte Grikor und zog die Brauen hoch. »Und wenn du noch so bittest, ich muß da hinunter, und wenn ich gar keine Beine hätte.«

»Nein, nein, bitte nicht! « flehte Asmik. »Es kann ein Unglück geschehen.«

»Ich will mir ja gerade das andere Bein auch brechen, damit du mich bedauern und pflegen sollst«, fuhr Grikor, der ewige Spaßmacher, fort, indem er nach der Strickleiter griff.

Asmik machte ein böses, verzweifeltes Gesicht.

»Wenn du mich so böse ansiehst, werde ich mich vor lauter Verzweiflung in den Abgrund stürzen«, sagte Grikor mit gekränkter Miene und begann, die Leiter hinabzusteigen.

Er kletterte mit solcher Geschwindigkeit hinunter, daß es Asmik so vorkam, als sei er tatsächlich in den Abgrund gestürzt.

»Oh, Großväterchen! « schrie sie auf und warf sich dem Alten an die Brust.

Armjon war auch etwas beunruhigt. Doch schon nachwenigen Augenblicken drangen von unten Grikors Freudenrufe herauf:

»Ach, ihr meine Guten! Mein Leben geb' ich her für eure Liedchen, für eure süßen goldenen Waben! Wartet nur, ich bringe euch allesamt in den Kolchos!«

Dann wurde es still. Erst nach längerer Pause hörten sie Grikor begeistert rufen:

»Kinder, hier haben wir das Süßeste, was es auf Erden gibt! Ist das ein Honig! Nicht Honig, nein — flüssiges Gold, nicht Wachs — sondern Bernstein!«

Grikor verschwand in der Höhle. Die oben Zurückgebliebenen warteten gespannt auf das, was nun weiter geschehen würde.

Nach einigen Minuten kam Grikor wieder aus der Felsenspalte hervor.

»Vor tausend Jahren haben hier Menschen gehaust!« schrie er. »Was da nicht alles rumliegt... Töpfe, Dolche, Schädel, Knochen... Wahrhaftig, mir steht der Verstand still!«

Nach Grikor schaute auch Kamo aus der Höhle heraus. Als er die über den Abgrund lugenden Köpfe des Großvaters und Armjons sah, rief er hinauf:

»Geht in die Schlucht zurück! Wir lassen alles, was wir finden, runter.«

Die Zeit, die der Großvater, Armjon, Asmik und Tschambar für den Abstieg in die Schlucht brauchten, nutzten Aram Michailowitsch und seine beiden jungen Forscher dazu aus, die Höhle näher zu untersuchen.

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