Der Sewan heute und morgen

Wer im Juni über den Semjonowski-Bergpaß kommt, vird beim Anblick des Sewan-Sees in Begeisterung geraten. Wie sehr er auch in Eile sein mag, er wird dennoch stehenbleiben, um sich an der unbeschreiblichen Schönheit des himmelblauen Wasserspiegels zu erfreuen, der sich, zwischen den Bergen eingebettet, vor seinen Blicken ausbreitet. Ja, schön ist der Sewan-See um diese Jahreszeit! Die den See umgebenden Berge, sonst so grau und düster, legen im Juni ein üppiges grünes Gewand an und schmücken sich mit einer unübersehbaren Menge von Blumen. Zwei scharf voneinander abweichende Farbtöne bezaubern beim Anblick des Sewan-Sees das Auge: das helle Blau der weiten Wasserfläche und das Smaragdgrün der von den Ufern des Sees ziemlich steil emporsteigenden Berghänge.

An einem schönen Junimorgen hatten sich die Kinder am Abhang eines beim Dorfe Litschk gelegenen Berges nieder-gelassen und blickten auf das schöne, friedliche Bild.

Neben ihnen saß Großvater Assatur und ließ, das Gewehr zwischen den Knien, seine Blicke über die grünen Weizenfelder und Tabakplantagen schweifen. Als Kolchoswächter mußte er aufpassen, daß nicht an irgendeiner Stelle das Vieh aus-brach. In der Nähe weideten Kälber, während weiter oben, hinter dichten Hecken, der vielstimmige Chor der buntgefiederten Bewohner der neuen Farm zu hören war.

Die Luft war mit Blumenduft gesättigt, und summend schwirrten die Bienen von Blüte zu Blüte.

Über dem Wasserspiegel des Sewan-Sees lag leichter, kaum merklicher Dunst, er schwebte wie ein dünner, durchsichtiger Schleier darüber. Es schien, als hätte die Natur eine hauchzarte Hülle über diese märchenhafte Schönheit gebreitet.

Ringsum herrschten Ruhe und Frieden, und nur von Zeit zu Zeit ertönte vom Gilli-See her das unheimliche Brüllen. »Ist es nicht der reine Hohn, Armjon?« fragte Kamo. »Was meinst du?«

»Nun, ich meine, daß unser Dorf aus Wassermangel zugrunde geht, wo sich dort unten ein ganzes Meer ausbreitet. . . Da gibt es mehr Wasser, als nötig wäre. «

Armjon antwortete nicht. Die Kinder waren seit einiger Zeit besorgt und niedergeschlagen: Die Zeit der Dürre hatte ein-gesetzt.

»Ich kann mir nicht helfen«, sagte Armjon nach kurzer Pause, »ich glaube, der Gilli-See muß von irgendwoher einen Zufluß haben. Denk doch mal selbst nach, Kamo, wie erklären sich im Gilli die vielen Quellen? Woher kommen sie? Vielleicht liegen auch unter unseren Feldern irgendwelche unterirdischen Wasseradern. Man müßte versuchen, sie an die Oberfläche zu heben.«

»So ein Unsinn — unterirdische Wasseradern heben!« mischte sich der Großvater ein. »Da unten liegt ein ganzes Meer vor euch. Versucht doch, wenn ihr so tüchtig seid, es hier heraufzuheben.«

»Das werden wir eines Tages auch!« behauptete Kamo entschlossen. »Es muß dazu nur ein elektrisches Hebewerk gebaut werden, dann werden wir Wasser haben, soviel wir brauchen. Ich habe gelesen, daß bei dem Dorf Kanakir das Wasser des Aiger-litsch-Sees und des Sanga-Sees schon gehoben worden ist.«

»Solche Dinge brauchen aber Zeit, und wir müssen gleich Wasser haben. . .«, sagte Armjon.

»Anstatt näher an unsere Felder heranzukommen, rückt der See immer weiter von ihnen weg«, fügte Grikor hinzu.

»Das stimmt, er ist schon ziemlich weit weggerückt«, bestätigte Kamo. »Um wieviel ist der Wasserspiegel des Sewan gefallen. Weißt du es, Armjon?«

»Um drei Meter.«

»Nur? Und dabei ist soviel Land trockengelegt worden.«

»Das liegt daran, daß der See an unserem Ufer sehr flach ist. Der Große Sewan' ist höchstens fünfzig Meter tief. In fünfzig Jahren wird dieser Teil des Sewan-Sees überhaupt nicht mehr existieren.«[5]

»Schade!« seufzte Kamo, »dann wird die Aussicht hier nicht mehr so schön sein.«

»Das braucht dir nicht leid zu tun«, sagte Armjon. »Diese Gegend wird dann sogar noch schöner seein. Da, wo jetzt der See liegt, werden üppige Gärten entstehen. Ich habe mal ausgerechnet, daß auf dem neugewonnenen Land mindestens hundert Dörfer Platz haben.«

»Was denn - hundert Dörfer?« staunte Grikor; »wie ist das möglich?«

»Sehr einfach. Durch ein elektrisches Hebewerk und durch die Bewässerung der Ararat-Hochebene wird der Wasserspiegel des Sees um fünfzig Meter sinken.. . «

»Oho!«

»Dadurch werden hundertdreißigtausend Hektar fruchtbaren Bodens trockengelegt; darauf haben hundert Dörfer mit vielen. tausend Bewohnern Platz.«

Grikor war unruhig. Er wäre gern bei den Kameraden geblieben und hätte über diese interessanten Dinge weiter mit ihnen gesprochen. Aber die Kälber mußten beaufsichtigt wer-den; sie waren übermütig und versuchten immerzu, ans Seeufer zu gelangen, wo die Aussaat des ,Ukrainka'- Weizens bereits aufgegangen war und in die Ähren schoß. Auf seinem gesunden. Bein hüpfend, eilte Grikor ihnen nach und trieb die ganz Vorwitzigen mit Steinen zurück.

»He, ihr Nichtsnutzigen - ihr wißt wohl, daß Weizen besser schmeckt als einfaches Gras?«

Dann setzte er sich wieder zu den Kameraden. Auch der Großvater beteiligte sich an dem Gespräch der Jungen.

»Nicht nur fruchtbares Land wird durch das Verschwinden des Sees gewonnen - nein, Gold, pures Gold!« rief der alte Jäger begeistert. Er sah auf die üppig sprießende Saat. Sie schoß dort empor, wo vor kurzem noch ein See gewesen war.

»Der junge Weizen da unten reicht euch ja schon bis an die Schulter, Kinder!«

»Hast recht, Großvater, nicht nur Land, sondern Gold«, bekräftigte Kamo. »Unsere vorjährige Kartoffelernte am jenseitigen Ufer des Sewans soll die beste gewesen sein, die es hier jemals gegeben hat. Nicht wahr, Armjon?«

»Das stimmt. Wir waren nahe daran, den Weltrekord zu erringen. Achttausend Pud Kartoffeln pro Hektar haben wir geerntet!«

»Ich habe sie gesehen, die Kartoffeln!« fiel Grikor begeistert ein. »Jede Kartoffel war so groß wie ein Ferkel!«

Diesmal machte es nichts, daß Grikor ein wenig übertrieb.

»Solche Ernten wird es von jetzt ab da drüben jedes Jahr geben«, sagte Kamo. »Der Regen hat das ganze Erdreich vom Dali-Dagh in den See gespült, daraus hat sich fetter Schlamm gebildet. Nur schade, daß dieses Stück Land später auch unter dem Wassermangel leiden wird.«

»Das ist nicht zu befürchten«, unterbrach ihn Armjon. »Dieses Stück Land wird der Gilli bewässern - er liegt ja höher als der Sewan.«

»Und das Land oberhalb des Gilli? Unser Land?« fragte Kamo nachdenklich.

Die Kinder verstummten. Woher Wasser nehmen? Diese Frage beschäftigte seit Jahrhunderten die Bewohner des Dorfes Litschk. Und über die Jahrhunderte hinweg blieb sie ungelöst. Die Menschen lebten und starben, vom Wasser träumend...

Die Kinder hätten sich mit dieser schwierigen Frage der Wassernot bestimmt nicht beschäftigt, wäre nicht gerade ein so heißer, trockener Tag gewesen.

So saßen sie nachdenklich neben ihrem alten Freunde, dem Großvater Assatur, und dachten über die jahrhundertealte Sorge des Landes - den Wassermangel -nach.

Der alte Mann lauschte dem gleichmäßigen, melodischen Summen der Bienen und begann zu erzählen...

Diese Erzählung des Großvaters, die den Kindern den Anstoß zur Entdeckung vieler Naturgeheimnisse geben sollte, wollen wir nun kennenlernen.

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