Der grüne Flecken

Zusammen mit den jungen Forschern erstiegen die Geologen während der nächsten Tage mehrmals die Höhenzüge des Dali-Dagh. Sie suchten alle Felsen ab, untersuchten jeden Spalt, jede Höhle, jede Schlucht... Nicht die geringste Spur von Wasser war zu finden.

Sobald sie irgendwo verdorrtes Schilf erblickten, wuchs ihre Hoffnung, auf Wasser zu stoßen - Schilf konnte ja nicht auf trockenem Boden gewachsen sein!... Fielen ihnen an einer Stelle grüne Büsche in die Augen, so stürzten sie auf sie zu, untersuchten alles ringsum und gruben das Erdreich auf - konnten denn solche Büsche ohne Feuchtigkeit wachsen?

Eines Tages, als sie, von den langen und erfolglosen Nachforschungen ermüdet, schon im Begriff waren, den Heimweg anzutreten, erblickte Armjon plötzlich an einem der Abhänge des Dali-Dagh einen grünen Flecken. Er war weit entfernt und lag bedeutend höher als die Bergspitzen der Schwarzen Felsen. Wie eine Oase mitten in der Wüste hob er sich vom eintönigen Grau des Gesteins ab.

»Kinder, dort muß Wasser sein!« sagte der Geologe Aschot. »Ohne Wasser wäre ein so frisches Grün in dieser Höhe undenkbar.«

»Wenn es dort Wasser gäbe, müßte es doch zu sehen sein«, meinte Kamo. »Der grüne Fetzen sieht von hier nicht viel größer als ein Taschentuch aus.«

»Ich sage ja nicht, daß die Quelle genau dort sein muß. Aber der grüne Flecken, so klein er auch ist, bedeutet, daß in der Nähe irgendwo Wasser sein muß.«

»Wenn es nach euch ginge, bekämen wir überhaupt kein Abendbrot«, murrte Grikor. »Du hättest wenigstens das Gewehr deines Großvaters mitnehmen sollen, Kamo - dann hätten wir uns einen Braten schießen können.«

»Grikor, beherrsch dich doch nur ein bißchen. Wenn wir Wasser finden, sollst du eine Gans aus unserer Farm bekommen. Du darfst sie auch ganz allein aufessen.«

»Abgemacht! Hand drauf!«

Kamo reichte Grikor die Hand.

»Dann mach dich bereit, die Gans zu schlachten. Da drüben ist bestimmt irgendwo Wasser. Der Geologe wird das bestätigen. Seht doch, wie frisch das Grün ist.« Und Grikor begann mit verschmitztem Lächeln bergan zu steigen.

Die anderen folgten ihm. Der Aufstieg war nicht leicht, aber nach einer Stunde hatten sie doch die Stelle erreicht, die sie vorhin als kleinen grünen Flecken gesehen hatten. Es war wirklich nur ein winziges Stückchen Erde, aber es war mit üppigem, saftigem Grün bewachsen.

Grikor kauerte nieder und preßte sein Ohr an die Erde. »Was machst du?« fragte Kamo. »Steh auf, wir wollen versuchen zu graben.«

»Pscht!« Grikor legte den Finger an die Lippen.

»Hörst du etwas?«

»Ich höre die Wurzeln trinken, sie stöhnen dabei vor Behagen und sagen: ,A-ach, wie gut das schmeckt!'«

Mit Spitzhacke und Spaten wurde die Erde aufgerissen.

Kaum zwei Handbreit tief war das Erdreich schon ganz feucht.

»Hältst du auch Wort mit der Gans, Kamo?« fragte Grikor übermütig: »Hier ist Wasser. Bekomme ich sie?«

»Je nachdem, was es für Wasser ist. Wenn es sich um das Wasser handelt, das früher unsere Felder bewässerte, das dann verschwunden war und das wir jetzt wiedergefunden haben, dann bekommst du eine Gans, und nicht nur eine Gans, sondern noch viele andere Dinge. Wenn es aber nur ein schwacher Quell ist — was kann uns der bei dieser Enfernung nützen?«

Nachdem sie eine anderthalb Meter tiefe Grube ausgeworfen hatten, sahen die Jungen, daß aus der Erde Wasser hervorsickerte. Es schien ein ganz kleiner Quell zu sein, nicht stark genug, um an die Oberfläche zu dringen.

»Diese kleine Quelle ist sicher ein Zweig einer größeren im Innern des Berges«, erklärte der Geologe Aschot. »Sie muß hier irgendwo tief unter der Erde sein. Die Quelle hat offenbar nichts mit dem versiegten Quell des Zaren Sardur zu tun; sie reicht bestimmt nicht aus, um das Dorf mit Wasser zu versorgen.«

Müde und enttäuscht standen die Kinder an der Grube und sahen zu, wie sie sich allmählich mit Wasser füllte...

Die Geologen beschlossen, den gegenüberliegenden Gebirgs-kamm noch zu untersuchen.

»Ihr aber«, sagte Aschot Stepanowitsch zu den jungen, »könnt von hier aus direkt ins Dorf zurückgehen.«

Die Kinder waren so müde, daß sie sich dicht neben der Grube, im Schatten eines Felsvorsprungs, niederließen. Sie waren zu erschöpft, um zu sprechen.

Nachdem sie etwa anderthalb Stunden gerastet hatten, stand Kamo auf.

»Freunde, kommt, es wird Zeit«, rief er, »wir wollen noch mal aus unserer neuen Quelle trinken, uns waschen und dann nach Hause gehen.«

Die anderen waren einverstanden. Sie kehrten zu der Grube zurück, die sich inzwischen gefüllt hatte. Das Wasser war klar und durchsichtig. Es trat jetzt über den Rand und schlängelte sich wie ein schmales Silberband abwärts.

Das Bächlein gluckste leise, und die ausgedörrte Erde schien gierig zu trinken. Wären die Jungen imstande gewesen, das geheime Walten der Natur zu erkennen, so hätten sie wahrgenommen, wie sich die erschlafften Triebe vollsogen und langsam aufrichteten, wie das belebende Naß in die Wurzeln drang und in den Stengeln hochstieg.

Hinter einem Stein äugte ein Rebhuhn hervor; es reckte den Hals und sah zum Wasser hinüber.

»Nun haben wir, ohne es zu wissen, den Rebhühnern Wasser zum Trinken verschafft!« lachte Armjon.

»Ja, und den Geiern, den Falken und Krähen«, fügte Grikor hinzu.

Kamo schwieg.

Als sie abends wieder im Dorf anlangten und dem Großvater Assatur von der neuen Quelle erzählten, freute sich der alte Jäger so, daß er sie alle nacheinander umarmte und abküßte.

»Ihr wißt ja gar nicht, was ihr da vollbracht habt!« rief er. »Ihr habt die wilden Ziegen auf dem Dali-Dagh gerettet.«

»Wieso?« fragte Kamo erstaunt. »Sie sterben doch nicht an Durst. Du hast doch selber gesagt, daß sie hundert Kilometer und mehr am Tage laufen können?«

»Ja, das können sie! Sie laufen bis zum See und von dort auf die andere Seite des Gebirges, bis in den Kaukasus hinüber. Aber was soll der alte Jäger Assatur noch auf dieser Welt, wenn es an den Hängen des Dali-Dagh keine wilden Ziegen mehr gibt?«

Armjon, der für alles Schöne besonders empfänglich war, hatte den Alten sofort begriffen. Grikor faßte die Worte des Großvaters auf seine Weise auf.

»Natürlich«, sagte er, »der Großvater Assatur könnte ohne seinen Schaschlyk[8] nicht leben.«

»Kommt es denn darauf an, du Dummkopf? Hast du schon mal beobachtet, wenn wilde Ziegen und Gemsen einen Berg-rücken entlangjagen? Das müßt ihr gesehen haben - dann werdet ihr mich verstehen. Nicht umsonst vergleichen die Aschugen in ihren Liedern die Gemsen mit Gazellen. . .«, sagte der Alte. »Ja, mein lieber Kamo, das habt ihr gut gemacht, ihr habt ein großes und nützliches Werk vollbracht! Man muß nur noch ein Stück Steinsalz hinbringen und neben den Brunnen legen.«

»Steinsalz? Wozu das?«

»Damit das Wild das Salz lecken kann.«

Armjon hätte den Großvater am liebsten umarmt — wie für-sorglich war er doch. Bis jetzt hatten sie oft geglaubt, es gehe ihm nur darum, auf der Jagd recht viele Tiere zu erlegen.

»Ja«, fuhr der Großvater fort. »Das Wild muß Salz haben. Früher habe ich immer dafür gesorgt, nur in diesem Jahr habe ich ihnen keines gebracht. Die Quellen sind alle versiegt. Sie werden das Salz lecken, dachte ich mir, und werden trinken wollen. Und zum Trinken wird nichts da sein. Dann wird sie der Durst quälen... Aber jetzt können wir ihnen Salz neben die Quelle legen. — Um Salz zu lecken, zieht das Wild bis weit fort an die Grenzen des Iran und der Türkei. Es bleibt nicht dort; früher oder später kehrt es in die Heimat zurück. Es gibt kein lebendes Geschöpf, das kein Heimweh hätte«, schloß der Alte seinen Bericht.

»Gut, Großväterchen, ich hab' dich verstanden, wird gemacht, verlaß dich drauf«, versprach Kamo. »Ich weiß nur noch nicht, wo ich das Steinsalz hernehmen soll, aber ich werde bestimmt welches auftreiben. «

»Wir haben zu Hause Steinsalz, ich werde dir ein Stück mitbringen«, erbot sich Grikor.

»Dann ist's gut; ihr seid brave Kerle«, meinte der Großvater.

Nach diesem Gespräch mit dem alten Mann begriffen die Kinder, daß die Jagd nicht nur darin besteht, Wild zu erlegen, sondern auch darin, daß man für die Tiere sorgt.

Als Kamo am frühen Morgen des nächsten Tages mit einem dicken Klumpen Steinsalz bei der Quelle ankam, sah er, daß es ringsum von wilden Tauben wimmelte. Sie nahmen den Schnabel voll Wasser und schluckten. Kamo dachte an das Kindergedichtchen:

Kein Tröpfchen trinkt das Huhn, ohne einen Blick zum Himmel zu tun.

Die Tauben sind uns sicher dankbar, dachte Kamo und lächelte zufrieden.

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