Obgleich die Hitze immer unerträglicher wurde und die Sonne unbarmherzig auf sie herabbrannte, schritten die Freunde unverdrossen weiter. Die Ungeduld, das Geheimnis des Wasserlaufs zu lösen, trieb sie vorwärts. Keiner klagte über Müdigkeit.
Als sie den nächsten Abhang erstiegen hatten, lag das majestätische Bergmassiv des Tschantschakar und der Schwarzen Felsen vor ihnen. Der Himmel war klar und wolkenlos. Das makellose Blau spiegelte sich im Sewan und gab dem See eine durchsichtig-blaue Färbung. Wie in einem Spiegel waren die hohen Bergkuppen des Tschantschakar auf der blanken Wasserfläche zu sehen. Die Wanderer gelangten in die Schlucht unter-halb der Schwarzen Felsen. Der Großvater führte sie zu einem länglichen Steingebilde, das, halb im Geröll vergraben, einem Krokodil mit aufgesperrtem Rachen glich. Das war der Drache, von dem der Alte gesprochen hatte.
»Hier ist er«, sagte der Großvater und wies auf den Stein.
Aram Michailowitsch rief begeistert:
»Wir haben den Ausgangspunkt des Wasserlaufs gefunden!
« Etwas ruhiger geworden, fuhr der Lehrer fort:
»Vor zweieinhalb Jahrtausenden haben sich die damaligen Bewohner unseres Landes einen Wassergott so vorgestellt.
Sie pflegten solche Götter an den Quellen der Flußläufe oder an künstlichen Sammelbecken und Kanälen aufzustellen. Hier müssen wir also nach Wasser graben.«
Die ersten Versuche verliefen ergebnislos, und die kleine Gruppe kehrte am Abend ermattet und etwas enttäuscht ins Dorf zurück; doch schon am frühen Morgen des nächsten Tages fanden sie sich wieder an der Stelle ein, an der der Drache stand, und setzten die begonnene Arbeit fort. Sie gruben um die Wette; jeder war bemüht, den anderen zu überflügeln. Grikor kam am schnellsten voran, und er wurde auch bald da-für belohnt: beim Graben stieß er plötzlich auf einen großen flachen Stein.
»Hier ist eine Steinplatte«, rief er. »He, ihr Gelehrten, kommt mal her!«
Die Kameraden eilten herbei. Mit vereinten Kräften legten sie eine zersprungene Steinplatte frei, auf der sie beim genauen Betrachten eine Inschrift entdeckten.
Aram Michailowitsch war beim Anblick dieser Inschrift vor Freude kaum zu halten. Trotz eifrigen Bemühens konnte er jedoch nur zwei Worte entziffern: ,Sardur' und ,Pili'.
»Sardur? War das nicht ein urartischer Herrscher?« fragte Kamo erstaunt.
»Sehr richtig!« erwiderte der Lehrer. »Sardur hat mehrere Jahrhunderte vor der Gründung des armenischen Reiches das damalige Urartu beherrscht. Er war ein großer Bauherr und überzog das Land mit einem Netz von Kanälen. Urartu war ein kriegerischer Feudalstaat; die Kanäle wurden von gefangenen Kriegern erbaut, die Sardur von seinen Eroberungszügen mitgebracht hatte. Er machte sie zu seinen Sklaven. Unzählige von ihnen sind beim Bau dieser Kanäle ums Leben gekommen.
Am Ausgangspunkt der Kanäle finden sich heute noch Steinbilder der Wassergötter. Unsere Gelehrten haben erst vor kurzem an den Abhängen des Achmagan sechs Standbilder dieser Art gefunden, was darauf hindeutet, daß es dort Kanäle zur Bewässerung des wasserarmen Kotaik-Gebietes gegeben haben muß. «
»Und was heißt Pili?«
»Pili ist die urartische Bezeichnung für Kanal.«
»Ihr meint also, daß es hier früher einen Kanal gegeben hat?« fragte Kamo.
»Du hast aber eine lange Leitung«, scherzte Grikor lachend. Und auch Asmik prustete los.
Kamo wurde vor Ärger ganz rot. Weshalb hatte er auch eine so dumme Frage stellen müssen.
»Gewiß«, bestätigte der Lehrer, »es scheint sicher, daß hier ein Kanal gewesen ist.«
Der Großvater hatte stumm zugehört. Was für eine unheimliche Macht war doch die Wissenschaft! Da sieht ein gelehrter Mensch so einen unförmigen Steinblock mit merkwürdigen Kratzern bedeckt und erkennt daran, was ein Herrscher, der vor mehr als zweitausend Jahren lebte, getrieben hat. So alt der Jäger Assatur auch geworden war, und soviel er in seinem langen Leben auch gesehen hatte, das war ihm doch zuviel! Die Erfolge der Wissenschaft überwältigten ihn.
»Ja«, sagte der Lehrer nachdenklich, »ohne die Hilfe der Akademie der Wissenschaften werden wir nicht auskommen. Wir müssen über unsere Entdeckungen sogleich nach Jerewan berichten. Kommt, wir wollen schnell nach Hause.«
Sie nahmen ihre Geräte auf und kehrten auf dem kürzesten Wege ins Dorf zurück.
Aram Michailowitsch setzte sich noch am gleichen Tage telefonisch mit den zuständigen Stellen in Jerewan in Verbindung. Ganz aufgeregt rief er in den Apparat:
»Wir warten schon seit langem auf einen Geologen der Akademie der Wissenschaften. Er soll uns behilflich sein, noch einige wichtige Fragen zu klären. Wir haben heute das Bett eines Flußlaufs, vielleicht eines Kanals, der anscheinend aus der Herrscherzeit Sardurs stammt, entdeckt,...«
Diese Nachricht schlug in der Akademie der Wissenschaften wie eine Bombe ein. Zwei Stunden später schon landete auf dem flachen Felde, am Ufer des Sewan, ein Flugzeug, und das Kolchosauto wurde hingesandt, um Professor Sewjan und einige Archäologen ins Dorf zu bringen.
Der Professor umarmte Aram Michailowitsch.
»Guten Tag, guten Tag«, rief er. »Sie müssen ja etwas ganz Außergewöhnliches entdeckt haben, daß man mich alten Mann noch einmal hierherschickt.«
»Haben wir auch. Wir haben am Ausgangspunkt eines alten Kanal- oder Flußbetts eine Steinplatte mit einer chalybischen Inschrift gefunden. Leider ist die Platte zerschlagen, und einige Schriftzeichen fehlen, so daß ich die Inschrift nicht vollständig zusammenbringe. Vielleicht wird es Ihnen gelingen.«
Der Professor lachte vergnügt.
»Jeder solcher Funde trägt dazu bei, mich zu verjüngen. Im Augenblick bin ich so energiegeladen wie dieser junge Herkules hier«, sagte der Professor, indem er Kamo freundlich auf die Schulter klopfte. »Nun, wir wollen keine Zeit verlieren. Führen Sie uns zu der Platte. Sie haben das Wort ,Pili' entziffert? Sie haben recht, das bedeutet Kanal. Vielleicht gelingt es uns tatsächlich, einen Kanal, den der urartische Zar Sardur anlegte, heute wieder für unsere Kolchosfelder nutzbar zu machen. Was würden Sie dazu sagen?« wandte sich der Professor mit einem freundlichen Lächeln an den Kolchosvorsitzenden.
Bagrat, dem die Dürre schwere Sorgen machte, zog ärgerlich die Stirn kraus, und seine Antwort klang nicht gerade liebenswürdig.
»Schaffen Sie uns Wasser her, ob es von einem Zaren oder vom Teufel stammt, ist uns gleich. Sagen Sie uns, wo es Wasser gibt und wie es unseren Feldern zugute kommen kann. Das ist es, was wir brauchen. Ihr Gelehrten müßt es wissen. Wenn die Wissenschaft dem Kolchos in solcher Not nicht helfen kann, wer soll uns dann helfen?«
Der Professor schien ein wenig beleidigt, doch er erwiderte nichts.
»Nun, wir wollen sehen, was sich machen läßt«, wandte er sich an Aram Michailowitsch.
Die Expedition setzte sich in Marsch. Großvater Assatur er-öffnete den Zug. Tschambar hielt sich dicht an seinen Fersen. Professor Sewjan, seine Mitarbeiter, der Kolchosvorsitzende und der Lehrer folgten. Den Abschluß bildeten die jungen Naturforscher.
Als der alte Professor den Stein erblickte, lag ein ernster, besorgter Ausdruck auf seinem klugen, gütigen Gesicht. Er kniete nieder und prüfte die Inschrift so andächtig, daß alle unwillkürlich verstummten.
Lautlos bewegte der Professor die Lippen. Man sah ihm an, daß er angestrengt an einer schwierigen Aufgabe arbeitete. Endlich hob der alte Mann den Kopf. Er lächelte befriedigt.
»Ich habe die Inschrift entziffert«, sagte er, »und werde sie Ihnen vorlesen.« Zuerst las er die Worte in der urartischen Sprache und übersetzte sie dann in das Armenisch der Gegenwart:
»Ich, Sardur, Zar des Landes Nairi (das ist die frühere Bezeichnung für Armenien), habe diesen Kanal geschaffen. Fluch demjenigen, der ihn zerstört. ..«
Die Umstehenden schwiegen.
Nach geraumer Weile flüsterte Asmik:
»Das war sicher ein sehr grausamer Mann!«
»Ja, die Zaren behandelten das einfache Volk grausam«, sagte der Professor. »Ihr alle habt von der Ararat-Ebene gehört. Blühende Gärten und üppige Felder bedecken sie heute, so weit das Auge reicht. In alten Zeiten aber war dort eine Wüste, in der es kein Wasser gab. Es wuchsen nur Disteln. Wasser bedeutet Leben. Die Sonne des Südens versengt alles erbarmungslos. Ist Wasser vorhanden, dann füllen sich die Früchte in der Sonnenglut mit süßen Säften. Überall und zu allen Zeiten ist das Wasser der Quell des Lebens, der Quell allen Glücks. In früheren Zeiten haben die Reichen dem Volke das Wasser mißgönnt. Vor etwa tausend Jahren hat zum Beispiel eine Fürstin im Sjunikiki-Gebiet einen Kanal angelegt, der das Wasser aus dem Fluß Basar-Tschai nach Daralagös leitete und die Felder bewässerte. Sie hat den Bauern unter Androhung der Todesstrafe verboten, Wasser aus dem Kanal zu entnehmen. Das alleinige Recht zur Benutzung des Kanals wurde einem Kloster zugesprochen. Die ,Heiligen Väter' stellten an dem Kanal einen Stein mit der Inschrift auf, daß jeder Bauer, der Wasser daraus nähme. Tod und Verdammnis zu erwarten habe. Im Jahre 1866 wandten sich die Armenier an die zaristische Regierung mit der Bitte, ihnen die Wiederherstellung des Etschmiadsinski-Kanals zu gestatten. Die Erlaubnis dazu wurde erst im Jahre 1913 erteilt, also ein halbes Jahr-hundert später... In der Nähe des Dorfes Karbi gibt es am Fuße der Berge ergiebige Quellen. Die Bewohner von Karbi und den benachbarten Dörfern haben die zaristischen Behörden vierzig Jahre hindurch, Jahr für Jahr, um die Erlaubnis gebeten, das Quellwasser ihren Gärten zuführen zu dürfen. Die Erlaubnis ist nie erteilt worden. Erst unter der Sowjetmacht wurde die Nutzbarmachung des Wassers für die Bauern in vierundvierzig Tagen verwirklicht. Das Quellwasser wurde durch entsprechende Anlagen gehoben und dann durch die Kanäle in die Ebene zu den Gärten geleitet... Nun möchten Sie wissen, ob es hier einen Kanal gegeben hat? Daran ist nicht zu zweifeln. Von wo aus der Kanal gespeist wurde und wie es zu seinem Versiegen kam, wissen wir nicht. Wenn wir der Inschrift glauben wollen, die Sie in einem Krug gefunden haben, so ist die Quelle nach einem Erdbeben versiegt. Das ist ein Rätsel, das nur die Geologen lösen können. Sie allein sind auch imstande, Ihnen zu Wasser zu verhelfen. Wir werden also Geologen nach hier entsenden, und zwar sofort.«
Dann bat der Gelehrte noch, den Drachen und die Steinplatte mit der Inschrift auszugraben und nach Jerewan bringen zu lassen. - Sodann kehrte die Abordnung zu dem Flugzeug zu-rück, das sie nach Jerewan brachte.
Nur Großvater Assatur schien mit dem Ergebnis nicht zufrieden zu sein:
»Werden unsere Felder jetzt bald Wasser bekommen?« fragte er den Vorsitzenden. »Ich kenne mich in der Wissenschaft nicht aus. Da wird ein alter Tonkrug gefunden, und alle freuen sich. Es wird in der Zeitung darüber geschrieben. Aber werden wir dadurch Wasser erhalten?«
Bagrat blickte finster drein. Er wußte zwar, daß Großvater Assatur nich recht hatte, doch auch ihn bedrückte es, daß nochmals Zeit verstreichen mußte.
Bereits am nächsten Tage gab Bagrat ein Telegramm nach Jerewan auf und bat um schleunigste Entsendung von Spezialisten. Die Antwort ließ nicht auf sich warten.
»Das Ministerium für Wasserbewirtschaftung hat beschlossen, dem Dorfe Litschk Soforthilfe zu bringen«, lautete die Antwort aus der Hauptstadt.
Indessen durchstreiften die jungen Naturforscher das Gebiet der Schwarzen Felsen und überlegten ständig, wie man wohl die versiegte Quelle auffinden könne...
Fünf Tage, nachdem der Professor Litschk besucht hatte, hielt vor dem Hause, in dem Aram Michailowitsch wohnte, ein Personenauto, dem zwei junge Männer entstiegen. Sie trugen derbe Arbeitsstiefel und Anzüge aus wetterfestem Stoff. Es waren die aus Jerewan entsandten Geologen.
Der eine von ihnen, ein hagerer, sehniger Mann, machte einen sehr energischen Eindruck. Er hatte erst wenige Worte mit Aram Michailowitsch gesprochen, als er auch schon mit Feuereifer an die Ausführung der übertragenen Aufgabe ging.
»Vor allem möchte ich Sie bitten«, sagte er, »mir solche Dorfbewohner zu nennen, die das Gebirge gut kennen, Jäger, Hirten und so weiter. . . «
Aram Michailowitsch führte die Gäste sogleich zu dem Großvater Assatur. Auf dem Wege zu ihm begegnete ihnen Kamo.
»Rufe deine Kameraden«, sagte der Lehrer, »und komm mit ihnen zum Großvater.«
Kamo eilte davon. Aram Michailowitsch wandte sich an den jungen Geologen:
»Aschot Stepanowitsch, ich fürchte, Sie werden meinen Schülern eine Enttäuschung bereiten.«
»Inwiefern?« wunderte sich der Geologe. »Ist es denn an-gängig, daß bei geologischen Forschungen die Hilfe von Kindern in Frage kommt?«
»Diese Kinder haben sich seit langem mit der Lösung schwieriger Probleme befaßt. Sie sind sehr aufgeweckt und sind sich der Bedeutung ihrer Aufgabe voll und ganz bewußt... Geben Sie der bisherigen Arbeit der Kinder eine Richtung, aber tun Sie es unauffällig. Der Kolchosvorsitzende und ich, wir wenden diese Taktik schon lange mit gutem Erfolg an.«
»Ich habe Sie verstanden«, sagte der junge Mann. »Ich will es gern auf die gleiche Weise versuchen.«
Indessen waren sie bei dem Hause des Großvaters angelangt. Fast gleichzeitig mit ihnen trafen auch die Kinder bei dem Jäger ein.
Der Alte geriet durch den Besuch eines Fremden in große Verwirrung: Sollte man etwas von seinem Schatz erfahren haben? Als er aber den Zweck seines Kommens erfuhr, gewann er schnell Vertrauen zu dem jungen Geologen.
»Mein verstorbener Gevatter Mukel — Friede seiner Asche — hat oft gesagt, die Alten hätten sich erzählt, daß es früher hier viel Wasser gegeben hat. . . Aber wann und wo das gewesen ist, das weiß niemand. Nur eine Legende hat sich erhalten, darin heißt es, die Menschen haben Wasser gehabt, aber ein böser Drache ist gekommen und hat ihnen das Wasser weggenommen. . .«
»Eine Legende?« Der Geologe horchte auf. »Kennst du sie, Großväterchen? Erzähle sie uns doch ausführlicher.«
»Wie soll ich sie nicht kennen«, sagte der Alte und strich sich selbstgefällig über seinen langen weißen Bart. Er setzte sich auf die Polsterbank und stopfte, bevor er mit seiner Erzählung begann, umständlich seine Pfeife.
Die andern nahmen im Kreis um ihn Platz und warteten voller Spannung auf seine Erzählung.