Grikor war, wie immer, vom frühen Morgen an im Stall gewesen.
Mitten im Unterricht wurde die Aufmerksamkeit der Schüler plötzlich von einem Jungen abgelenkt, der sich im Schulhof herumdrückte und geheimnisvolle Zeichen machte.
Kamo, der seinen Platz in der Nähe des Fensters hatte, sah hinaus und erkannte Grikor.
Als dieser Kamo sah, hielt er die Hände hoch und zeigte acht Finger. Dabei strahlte er über das ganze Gesicht. Er hüpfte und tanzte auf seinem gesunden Bein, wölbte eine Hand und schmiegte sie so zärtlich an die Wange, als halte er darin etwas sehr Zerbrechliches.
Kamo hatte sofort begriffen. Er war so aufgeregt, daß er Armjon die Neuigkeit am liebsten gleich zugerufen hätte. Als er aber einen strengen Blick des Lehrers auffing, blieb er ruhig und verlegen auf seinem Platz sitzen.
In der Pause liefen Kamo und Armjon hinunter, um Asmik die frohe Botschaft zu bringen.
Beim Anblick ihrer strahlenden Gesichter schrie Asmik auf:
»Sind sie ausgeschlüpft?«
»Und wie viele! Acht Stück!«
Ohne langes Reden war es den Kindern klar, daß sie unmöglich auch nur einen Augenblick länger in der Schule bleiben konnten. Sie erbaten sich von Aram Michailowitsch die Erlaubnis, fortzugehen, und stürmten, ohne das Ende des Unterrichts abzuwarten, zum Stall.
Grikor kam ihnen schon entgegen.
»Die Küken, die Küken!« schrie er. »In ganzen Regimentern schlüpfen sie aus! «
»Wo sind sie?... Heb doch mal eine Glucke auf! Zeig doch mal!... Laß mich ans Guckloch! Ach, wie süß sie aussehen! — Gib mir mal eins!. . . «
Die Kinder umdrängten die Brutöfen. Sie schrien und lachten durcheinander. Vorsichtig nahm Asmik ein winziges, in aschen-farbenen Flaum gehülltes Küken mit niedlichem gelbem Schnäbelchen und dunkelgrauen, bleifarbenen Füßchen in die Hand. Sie drückte das Küken behutsam an ihre Wange und erwärmte es mit ihrem Atem.
Dann standen die Kinder etwas ratlos herum; sie wußten nicht, was nun zuerst geschehen mußte.
Inzwischen hatten sich auch andere Kinder und Frauen am Stalleingang eingefunden.
»Sind wirklich Küken ausgeschlüpft?« fragte eine der Frauen mißtrauisch.
»Von den Eiern unter den Glucken oder denen in der Blechbüchse?« wollte eine andere wissen. »Laßt mal sehen!«
»Nein, nein!« wehrte Asmik ab. »Die Tiere bekommen Angst, das geht nicht. «
Großvater Assatur, der eben erst vom Sewan-See zurückgekehrt war, drängte sich durch die Wartenden und trat in den Stall.
Asmik öffnete gerade den einen Brutofen. In dem weich ausgepolsterten, erwärmten Kasten wimmelte es von Dutzenden winziger dunkelgrauer Küken.
»Was sind das für welche, Töchterchen?« fragte der Alte ganz aufgeregt.
»Das sind kleine Wasserhühnchen, Großväterchen«, antwortete Asmik, die ihre Freude kaum bezähmen konnte. »Schau doch, wie viele Eier noch geplatzt sind, eins nach dem andern schlüpft aus.«
»Was muß denn jetzt geschehen?« fragte der Großvater.
»Sie müssen gefüttert werden.«
»Kocht die Möweneier«, schlug Armjon vor.
»Gleich, gleich«, sagte Asmik. »Aber es sind nicht genug, sie reichen doch nicht für die vielen Küken.«
»Sorge dich nicht, Kindchen«, beruhigte sie der Großvater. »Ich werde schon was ausfindig machen.«
Nachdem er seinen langen Bart zusammengerollt und ihn sorgfältig in den Archaluk[4] gesteckt hatte, eilte der Großvater zur Kolchosverwaltung:
»Bagrat, mein Bester, gib uns Eier aus dem Lager, so an die hundert — die Küken sind ausgeschlüpft, wollen fressen.«
»Leicht gesagt«, brummte Bagrat, »hundert Eier! Soll ich sie vielleicht dem Kindergarten wegnehmen, soll ich den Kindern die Eier entziehen? Nur um eure Küken zu füttern, damit sie satt werden, wachsen und davonfliegen?«
Der Alte ärgerte sich. Er wurde energisch:
»Ich sage dir noch einmal, sofort, noch in dieser Minute rückst du die Eier heraus! Nein, was seid ihr doch für hartherzige Menschen! Die Kinder finden schon seit einem Monat keinen Schlaf mehr, und ihr stellt euch wegen der paar Eier an! Schreibe, schreibe, sofort, sonst, das schwöre ich dir, ziehe ich meinen Dolch!« drohte der Großvater, natürlich im Scherz.
»Nanu? Hier geht es ja hart auf hart«, bemerkte Aram Michailowitsch, der in diesem Augenblick eintrat. Er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.
Auch Bagrat lachte.
»Ach ja«, rief er, »da hat sich unser Alter mit den Kindern eingelassen, und nun will er mich erdolchen, wenn ich keine Eier für die Küken rausrücke. Ich bin ja gar nicht so, aber erst muß ich sie mit eigenen Augen sehen. Alles muß seine Ordnung haben...«
»Ein ganzer Stall voll Küken ist es«, polterte der Großvater.
»Gut, wir wollen sie uns ansehen! «
Asmik kam ihnen aus dem Stall entgegengelaufen.
»Nun, Onkel Bagrat, wann wird unsere Farm anerkannt?«
Bagrats meist so grimmiges Gesicht wurde weich. Jedesmal wenn er diesem kleinen Mädchen begegnete, erhellte sich seine finstere Miene. Asmiks Vater, Owanes, war ein treuherziger, ehrlicher Mensch gewesen. Er hatte Seite an Seite mit Bagrat gegen die Faschisten gekämpft, sie hatten aus demselben Napf gegessen, und Owanes hatte Bagrat damals im Nahkampf das Leben gerettet. — Owanes war in Bagrats Armen gestorben.
Er war in der Schlacht an der Oder für die Sowjetheimat gefallen.
Schweigend strich Bagrat über das seidige, kastanienbraune Haar des Mädchens, und es wurde ihm wie immer beklommen ums Herz.
Als er in den Stall trat, erblickte er die Küken und lächelte. »Die Stimmung bessert sich«, blinzelte Grikor den Kameraden zu.
»Sie sind also tatsächlich ausgeschlüpft«, rief Bagrat. »Jetzt ist es eine andere Sache, jetzt kann der Rechnungsführer meinet-wegen euer Unternehmen registrieren.«
Er zog einen Notizblock aus der Tasche, schrieb einen Zettel aus und reichte ihn Grikor, der sogleich damit zum Lager lief.
»Dein Glück, Bagrat, jetzt hast du dein Leben gerettet«, lachte Großvater Assatur.
»Es wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben, als die Geflügelfarm deiner Schüler zu unterstützen«, meinte der Kolchosvorsitzende.
Aram Michailowitsch lächelte befriedigt.
Der Lagerverwalter murrte, als er die Eier ausliefern mußte. Er glaubte nicht recht an den Erfolg des seltsamen Unternehmens. Die ganze Sache erschien ihm recht zweifelhaft.
Indessen pickten die Küken mit ihren winzigen Schnäbeln das feingehackte Ei auf. Großvater Assatur sah ihnen zu und strich zufrieden über seinen langen Bart. Er schien um zwanzig Jahre jünger geworden zu sein.
»Und wann werden die Gänseküken ausschlüpfen, Töchterchen?« fragte er.
»Bald, bald, Großväterchen... Dort im Brutofen sind die Eier.«
»Und die Enten?« fragte der Alte. Er war jetzt beinahe ebenso ungeduldig wie die Kinder.
»Die Krickenten werden, wenn nicht morgen, dann übermorgen ausschlüpfen. In diesem Brutofen liegen außerdem noch die Eier von der Marmorente.«
In den nächsten Tagen schlüpften dann auch wirklich die Entenküken aus. Sie erfüllten den Stall mit lautem Gepiepse.
So winzig sie auch waren, sie eilten, sobald sie das Wasser erblickten, auf die Tröge zu, schwammen in Scharen darin herum, tauchten und suchten im Wasser nach Futter. Sie wurden mit Quark und hartgekochten, feingewiegten Eiern gefüttert.
Eines Tages blieb Asmik, als sie in den Stall kam, verwundert stehen. In einer Ecke war im Stroh ein kleiner Berg Eier aufgehäuft. Daneben hockte Grikor und zählte sie.
»Woher sind die?« fragte Asmik.
»Weißt du noch, wie die Mäuse sich bei uns Eier gestohlen haben? Jetzt haben sie sie zurückgebracht. Aus Hochachtung vor mir natürlich. Euch hätten sie sie bestimmt nicht wiedergegeben«, sagte der Junge und lachte verschmitzt.
»Grikor, sage die Wahrheit. Woher hast du die Eier?«
»Ich sage es dir doch: Die Mäuse haben sich geschämt, weil sie gestohlen haben, und haben uns nun die Eier zurückgebracht.«
Es war nicht möglich, aus Grikor etwas Vernünftiges herauszukriegen; er sagte nicht, woher er die Eier hatte. Sollte er sie wirklich den Mäusen wieder abgejagt haben?
»Zähle sie nach, Asmik. Ich glaube, sie haben ebenso viele wiedergebracht, wie sie fortgeschleppt hatten. Drei Stück habe ich ihnen aber für ihre Kinderchen dagelassen. Sie mußten für ihre Anständigkeit belohnt werden«, meinte Grikor.
»Sie haben also kein einziges aufgefressen?« staunte Kamo.
»Stell dir vor, nicht ein einziges. Sie haben aber auch noch keine Jungen. Sie wollten für die kommende Hecke Futter haben. Sind das nicht vorsorgliche Eltern? Und dabei ekelt ihr euch vor Mäusen. Ich würde ihnen am liebsten die Schnäuzchen küssen, weil sie so ehrlich und brav waren und das Gestohlene wiedergebracht haben. «
»Pfui, Grikor, erzähle keine solchen Räubergeschichten. Paß auf, die Mäuse werden sich rächen, weil du ihnen ihren Raub weggenommen hast. Nachts werden sie kommen und dich beißen«, ging Asmik auf Grikors Spaß ein.
Aber Grikor erklärte energisch:
»Das können sie nicht, denn ich schlafe nicht mehr hier.«
»0 Grikor, jetzt kommen doch die Gänseküken raus. Ein, zwei Nächte mußt du noch hier schlafen«, bat Kamo.
»Wenn der Sekretär des Jugendverbandes befiehlt, muß ich wohl gehorchen, dagegen ist nichts zu machen!« sagte Grikor, und er strahlte, weil er mit seinen Späßen wieder Erfolg gehabt hatte.