Ein heißer Tag

Der achtundzwanzigste Tag war angebrochen.

In dem Augenblick, als das erste Gänschen sich im Ei rührte und mit seinem gelben, schon kräftigen Schnäbelchen die Schale durchstieß, sprang Armjon, der neben dem Brutkasten saß und seinen Blick nicht vom Thermometer wandte, plötzlich bestürzt von seinem Platze auf.

»Asmik, die Temperatur sinkt!« rief er, atemlos vor Erregung.

»Was denn? In beiden Brutöfen?«

»Nein, nur in diesem hier.«

»Wie kommt das?«

»Der Akkumulator muß aufgebraucht sein.«

»Was machen wir nun?«

»Wenn die Eier nicht kalt werden sollen, müssen wir schleunigst einen neuen Akkumulator besorgen.«

Armjon stürmte hinaus, um Kamo um Hilfe zu rufen.

Kamo kam sofort. Er und Armjon machten sich auf die Suche nach Großvater Assatur und Grikor und erzählten ihnen, was passiert war. Gemeinsam überlegten sie, konnten aber keinen Ausweg finden.

Indessen hatten Seto und sein Bruder Arto gemerkt, daß keiner der Jungen im Stall war. Nur Asmik war zurückgeblieben. Diese Gelegenheit mußte ausgenutzt werden. Der kleine Arto hatte Bogen und Pfeile bei sich.

»Gib her, ich werde mal zwei — drei Pfeile durch das Loch da in der Tür schießen!« schlug Seto vor. »Ein gutes Dutzend Eier wird dabei kaputtgehen. Asmik soll sich tüchtig ärgern!«

Arto zögerte.

»Ist es nicht schade«, fragte er, »in den Eiern sind doch Küken? «

»Schade? Habe ich dir nicht leid getan, als sie alle über mich hergefallen sind? Aber deinen Bruder rächen, das willst du nicht!...«

Seto schlich sich dicht an die Stalltür heran, spannte den Bogen und schoß durch ein ziemlich großes Loch in der Tür ein paar Pfeile ab.

Tränenüberströmt stürzte Asmik aus dem Stall. Aber von den Lausbuben war nichts mehr zu sehen und zu hören.

Als Kamo und Armjon zurückkehrten, erzählte ihnen Asmik, noch immer schluchzend, was die beiden Jungen angerichtet hatten.

»Könnt ihr diese elenden Halunken nicht durchprügeln? Seht nur, was sie gemacht haben! Eine Glucke ist verletzt, und mehrere Gänseeier sind zerbrochen.«

»Wir müssen uns beim Dorfsowjet beklagen«, schlug Grikor vor.

»Mit solchen Taugenichtsen muß man allein fertig werden«, erklärte Großvater Assatur. »Sich beklagen, ist eines richtigen Mannes unwürdig. «

Armjon schüttelte nur nachdenklich den Kopf:

»Man muß versuchen, sie zu bessern, Großvater, mit Gewalt erreicht man gar nichts.«

Kamo war nicht Armjons Ansicht.

»Beeinflussen, solche Schurken? Durch Milde vielleicht?« »Ja, man muß sie dazu bringen, daß sie ihr Unrecht einsehen, Armjon hat recht«, stimmte Asmik zu.

»Meiner Ansicht nach ist Seto allein schuld; er ist einfach verärgert, ist neidisch auf uns und unsere Erfolge. Vielleicht wäre er aber bereit, sich mit uns auszusöhnen und zu befreunden, wenn man mit ihm spräche.«

»Ach, Armjon, es wäre schön, wenn du recht hättest.« Kamo schüttelte zweifelnd den Kopf.

Dann gingen sie in den Stall.

Ihr erster Blick galt dem Thermometer.

»Es ist weiter gesunken«, sagte Grikor.

Asmik war den Tränen nahe, bemühte sich aber, nicht zu weinen, als sie Kamos bekümmertes Gesicht sah.

»Wie ist das nur passiert? Du hast doch ausgerechnet, daß die Energie des Akkus ausreichen würde?« wandte sich Kamo an Armjon. Seine Stimme klang etwas vorwurfsvoll.

»Ich muß mich eben geirrt haben.«

»Wird eigentlich viel Energie verbraucht, wenn man den Akku für ein Auto nimmt?« wollte Grikor wissen. Ihm schien etwas einzufallen.

» Selbstverständlich! «

»Da haben wir's!« rief Grikor. »Daß ich nicht gleich daran gedacht habe! Die Batterie, die du letztes Mal gebracht hast, Armjon, hatte der Lagerverwalter vorher bereits dem Fahrer gegeben.«

»Na, wenn es so ist.« Kamo sprang aufgeregt hoch.

»Wie kam denn das?«

»Na, ganz einfach. Der Fahrer bat um eine Batterie. Der Lagerverwalter lehnte erst ab. Da schimpfte der Fahrer: ,Die ganze Sache wird in die Brüche gehen, wenn das Auto nicht in Gang kommt!' und was weiß ich... Da hat der Verwalter eben nachgegeben. ,Nimm sie', sagte er, ,aber bring sie schnell wieder. ' «

»Und dann beschuldigst du Armjon, daß er falsch gerechnet hat!« sagte Asmik.

Kamo schlug dem Freund auf die Schulter und lachte:

»Er ist doch so gelehrt, wie kann er sich bei einer Berechnung irren?« Aber Grikor trat auch für Armjon ein. »Er hat es ja gar nicht falsch berechnet. Wenn doch der Akku schon halb leer war.. . .«

Nun fing Kamo an zu schimpfen:

»Warum hast du uns das mit dem Auto nicht früher gesagt, Grikor?«

»Genug mit der Streiterei«, rief Armjon. »Wir müssen nur schnell einen Ausweg finden. Wenn ein Kolchosauto da wäre, könnten wir einfach die Batterie ausbauen.«

»Laßt den Kopf nicht hängen! Wir holen uns aus der Stadt eine Batterie«, versuchte Kamo, dem seine Heftigkeit schon leid tat, den Freund zu beruhigen.

»Aus der Stadt? Bis ihr hinkommt, bis ihr eine Batterie aufgetrieben habt und wieder zurück seid, sind die Eier längst kalt geworden... Seht mal, das Küken, das da eben ausschlüpfen will, wird bald verenden.«

Asmik fuhr auf:

»Wie kannst du das sagen?« Sie konnte kaum ihre Tränen zurückhalten. »Ich lasse kein einziges Küken verenden! Beeilt euch doch, und wenn ich es an mir wärmen müßte; findet doch schnell einen Ausweg.« Sie nahm das Ei und versuchte, das Küken mit ihrem Atem zu erwärmen.

»Großväterchen«, wandte sich Kamo an den Alten, »wir haben dich gefragt, und du hast noch nichts geantwortet. Weißt du denn gar keinen Rat, wie man die Gänseküken retten kann?«

»Nicht alles kann man in Büchern finden, und auch des Großvaters Erfahrung kann nicht immer helfen«, meinte der. Alte in seiner schwerfälligen Art. »Ich weiß besser mit der Bärenjagd Bescheid. Eier und Küken — das ist Weibersache. Kommt mit zu meiner Alten, wir wollen sie fragen. Sie hat in ihrem Leben schon viele Glucken gesetzt.«

Die Kinder wurden von Großmutter Nargis freundlich empfangen. Als sie gehört hatte, um was es ging, fragte sie:

»In wieviel Tagen sollen die Gössel ausschlüpfen?«

»In einem Tag, Großmutter.«

»Also morgen?«

Doch bevor sie den Kindern ihre Frage beantwortete, breitete die Alte, wie es bei dem gastfreien alten Jäger Sitte war, eine Decke über den Tisch und trug alles, was sich im Hause fand, auf.

»Großmütterchen, uns ist jetzt gar nicht nach Essen zumute«, flehten die Kinder. »Es würde uns in der Kehle steckenbleiben. Hilf uns lieber und sage uns, wie man die Küken retten kann.«

»Greift erst zu, Kinderchen, greift zu! Das mit den Küken werdet ihr gleich hören. Auch dafür gibt es Rat, seid nur nicht bange«, sagte die Alte gelassen, indem sie den Kindern den Teller mit Käse zuschob. »Greif zu, mein Kleiner«, wiederholte sie und streichelte Kamos Kopf. »Du hast über all den Küken lange keine Zeit für deine Großmutter übrig gehabt.«

»Ich mag jetzt nicht essen, Großmütterchen. Sage mir doch, wie man die Küken rettet«, wiederholte Kamo ungeduldig.

Die Alte lächelte. Ein feines Netz von Runzeln bedeckte ihr gütiges, kleines Gesicht.

»Nun«, sagte sie, »es gibt da ein Mittel. Wenn man die Eier eine Weile an der Brust oder in der Achselhöhle trägt, kann man sie zu Ende ausbrüten. Es kommt doch manchmal vor, daß die Glucke ein paar Küken ausbrütet, vom Nest geht und sie herumführt, und die übrigen Eier werden kalt — sie will einfach nicht weiterbrüten. Ich habe solche Eier schon oft an meiner Brust oder in der Achselhöhle fertig ausgebrütet.«

»Was sagst du dazu, Armjon?« fragte Kamo. »Du hast doch die Weisheit mit Löffeln gegessen.«

Armjon lachte gutmütig.

»Das ist mit der Wissenschaft ganz gut zu erklären«, sagte er. »Zum Ausbrüten der Küken ist eine gleichmäßige Temperatur nötig, nichts weiter. Es heißt aber in den Büchern, daß die Temperatur neununddreißig Grad erreichen muß, während die normale Temperatur beim gesunden Menschen siebenunddreißig Grad nicht übersteigt. Wie ist es nun damit, Großmütterchen? «

»Von euren Temperaturen verstehe ich nichts, mein Lieber«, antwortete die Alte gleichmütig. »Am letzten Tag ist das Küken schon ein fertiger Vogel, es muß Wärme haben, es muß aus dem Ei, es muß Luft haben, muß laufen, fressen ... Die Wärme des Menschen genügt ihm. Ich weiß das, die Küken werden auf diese Weise bestimmt ausschlüpfen und quicklebendig sein.«

»Richtig, richtig! Das stimmt!« pflichtete Armjon der Großmutter bei. Und der sonst so ruhige Junge sprang aufgeregt von seinem Sitz auf.

»So machen wir's auch. Asmik, ruf schnell die Schulkinder zusammen!« befahl Kamo.

Als die Schulkinder sahen, wie betrübt Kamo und seine Kameraden waren, merkten sie, daß etwas Schlimmes geschehen sein mußte. Daß sogar der immer zu Späßen aufgelegte Grikor ein finsteres Gesicht machte, war ein besonders schlechtes Zeichen.

»Was ist passiert?« fragten sie aufgeregt.

Kamo erzählte kurz, was geschehen war.

»Um das Leben der Küken zu retten«, sagte er ernst, »muß jeder von euch ein paar Stunden lang ein Ei in der Achselhöhle tragen. «

Zuerst verstanden die Kinder gar nicht, was Kamo meinte; sie glaubten, es handle sich um einen Scherz.

»Was erzählst du da? Wir sind doch keine Hennen«, rief ein kleines Mädchen und wollte sich vor Lachen ausschütten. Die andern lachten schallend mit.

Aber nun mischte sich Asmik aufgeregt in das Gespräch:

»Wenn wir uns nicht beeilen, ist alles umsonst, und unsere kleinen, hilflosen Küken müssen sterben. Ach bitte, kommt doch zum Stall und tut, was Kamo sagt.«

Sie war so aufgeregt, daß die anderen Kinder davon angesteckt wurden.

»Worauf warten wir denn noch?« rief eine helle Stimme. »Kommt, wir wollen die Küken retten!«

Und die ganze kleine Gesellschaft stürmte zum Kolchosstall.

»Ihr müßt aber sehr vorsichtig sein und die Eier ja nicht zerdrücken, wenn ihr sie in der Achsel haltet«, mahnte Asmik. »Und wenn es ein bißchen länger dauert, dürft ihr nicht ungeduldig werden — die Küken lassen sich manchmal Zeit. Am besten, hat Großmutter Nargis gesagt, ihr nehmt sie mit ins Bett.«

»Wehe, wenn einer eines zerdrückt!« drohte Grikor mit gerunzelter Stirn.

»Mit dieser Geschichte haben wir uns vor dem ganzen Dorf blamiert! « brummte Großvater Assatur. Aber auch er steckte ein paar Eier in seine wattierte Jacke und brachte sie seiner Alten.

»Nimm sie, Nargis, nimm sie!« sagte er. »Da ist nichts zu machen. Hat man einen Fehler begangen, muß er wiedergutgemacht werden... Du solltest aber zu den Kindern gehen und ihnen zeigen, wie das mit den Eiern gemacht werden muß, sonst ersticken die Küken am Ende noch alle. . . «

Asmik schlief die ganze Nacht nicht und ließ auch der Mutter keine Ruhe.

»Mami, es pickt wieder! Aber warum kommt es nicht raus?« Immer wieder weckte sie die Mutter.

Um selbst nicht einzuschlafen und etwa das Küken im Schlaf zu erdrücken, versuchte Asmik zu lesen, doch das Buch entglitt ihr und fiel auf den Boden. Erschreckt sprang sie auf. Ihr erster Gedanke war das Küken, wenn sie es nur nicht zerdrückt hatte!

Gleichsam als Antwort auf die Sorge des Mädchens, begann sich in der Achselhöhle etwas zu regen. Asmik griff behutsam an die Stelle; sie hielt die zerbrochenen Eierschalen in der Hand und förderte ein winziges, mit nassem Flaum bedecktes Geschöpf zutage. Asmik hätte vor Glück beinahe losgeheult.

»Wie allerliebst, wie niedlich!« rief sie entzückt aus und streichelte das hilflose Küken, das auf ihrer Handfläche saß.

»Was hast du, Töchterchen? Ist es ausgeschlüpft?« rief Asmiks Mutter, die wach geworden war und zu ihr kam, um sich das Gänseküken anzusehen.

»Sieh nur, Mami, sieh nur! Es ist noch ganz feucht... Gibt man ihm wohl gleich zu fressen? Ach, es wird noch erfrieren!«

Asmik wickelte das Gänschen behutsam in weiche Wolle und legte es in ein kleines Körbchen. Das Körbchen aber stellte sie zur Vorsicht neben sich ins Bett, damit es etwas von ihrer Körperwärme abbekommen sollte.

Загрузка...