Der „Wassermann“ brüllt zum letzten Male

Kamo stand auf einem Haufen trockenen Schilfes. Vor ihm lag der Gilli-See im prächtigen bunten Herbstgewand.

Die Schilfwände an den Ufern des Sees und die verstreuten Schilfinselchen leuchteten gelblichgrün.

Ringsum war es still.

Es schien Kamo, als sei der Wasserspiegel stark gesunken. Wovon mochte das kommen? Von der Hitze und Dürre des Sommers, oder vielleicht dadurch, daß der Zufluß aus dem Innern der Schwarzen Felsen aufgehört hatte? Das Schilf hatte sich gelichtet; auf der kleinen Insel war es dürr und gelb, und Kamo drang ohne besondere Mühe zu der Stelle vor, an der er damals beinahe ertrunken wäre.

Tschambar stand neben ihm. Mit gespitzten Ohren folgte' er Kamos Blicken und betrachtete aufmerksam die Gegend.

Der Hund schaute mißmutig drein, als wollte er fragen: Welchen Sinn hat es, hier so untätig herumzustehen? ... Den Zauber des in der Sonne flimmernden Wassers und der herbstlichen Farbenpracht konnte Tschambar nicht mitempfinden. Das überstieg die Grenzen seines Hundeverstandes.

Kamo sah auf die Uhr. Es war kurz vor drei.

Er nahm den Fotoapparat aus dem Futteral und prüfte, ob alles in Ordnung sei. Reglos stand er da und hielt den Apparat auf die Mitte des Sees gerichtet.

Die Zeit kam ihm sehr lang vor. Kamo, der sowieso nicht gern wartete, wurde ungeduldig.

Ruhig und friedlich lag der See vor ihm. Nur hin und wieder kräuselte ein leiser Windhauch die glatte Wasserfläche. Damals, im Frühling, war der See bewegt gewesen, große Wasserblasen und Ringe hatten sich gebildet, sie liefen aus-einander und waren schließlich am Ufer zerflossen.

Und heute! - Vom ,Wassermann' keine Spur. Höchstens der Schatten eines Raubvogels, der über den See strich und nach Beute Ausschau hielt, huschte flüchtig über den glatten Wasserspiegel.

Es war so still und so friedlich, daß Kamo sein Herz schlagen hörte. Die Füße schliefen ihm ein, aber er rührte sich nicht von der Stelle. Angespannt starrte er auf die Seemitte hinaus.

Plötzlich geriet der See in Bewegung. Es brodelte, große Blasen stiegen auf, sie platzten und hinterließen Ringe, die sich allmählich im Wasser verliefen. Plötzlich stieg wie ein riesiger Pilz in der Mitte des Sees eine ungeheure Wasserblase hoch, und gleichzeitig ertönte das schreckliche Gebrüll des ,Wassermanns'.

Wellen schlugen hoch, liefen auseinander und zerschellten leise plätschernd an den Ufern.

Tschambar war aufgesprungen. Mit wütendem Gebell wandte er sich dem unbekannten Gegner zu.

Kamo war befriedigt, und er murmelte vor sich hin: »Du hast aufgehört, ein Rätsel zu sein, und kannst uns nicht mehr erschrecken. Wir wissen, was mit dir los ist.«

Eine Menge Stroh trieb auf dem Wasser umher, und Kamo sah noch irgend etwas Dunkles — vielleicht ein Igel oder ein totes Wasserhuhn? —, es wurde immer näher ans Ufer getrieben.

»Das ist ja eine Mütze!« rief Kamo erstaunt aus. »Wie kommt denn die hierher?«

Er brach ein Schilfrohr ab und fischte sie heraus.

Tschambar hatte sich sofort auf die Mütze gestürzt; er entriß sie Kamos Händen und beschnupperte sie von allen Seiten. Dann blickte er den Jungen aus seinen klugen Augen an, als wenn er sagen wollte: Schau sie dir nur einmal richtig an, fällt dir nichts auf?

»Das ist ja Grikors Mütze!« rief Kamo aus. »Tschamba-ruschka, Guter, was ist mit unserem Grikor geschehen?«

Dieser Zwischenfall beunruhigte Kamo sehr. War etwas passiert? Hastig kehrte er zum Boot zurück und fuhr zu der Insel, auf der er Asmik und den Großvater zurückgelassen hatte.

»Erzähle, was war los? ... Das Brüllen haben wir gehört.« Asmik überschüttete Kamo mit Fragen. »Was hast du gesehen? Wie sieht der ,Wassermann' aus?«

Asmiks Ungeduld war so groß, daß sie es gar nicht abwarten konnte. Kamo berichtete, was er beobachtet hatte. »Doch das alles ist Nebensache, Großväterchen«, rief er. »Wichtig ist, daß hinterher Stroh an der Oberfläche trieb. Das haben die Freunde mit in die Höhle genommen.«

»Du meinst also, die Wassersäule kommt von den Schwarzen Felsen her?« fragte der Großvater ehrlich erstaunt.

»Ja, von den Schwarzen Felsen... Oder, richtiger gesagt, vom Dali-Dagh, aus dem Gebirgssee.«

»So, und über den Gevatter Mukel und seinen Knotenstock habt ihr euch lustig gemacht! Nun stimmt es also doch. Und der ,Wassermann'?«

»Großväterchen, du hast doch alles verstanden? Von welchem ,Wassermann' redest du?«

»Ja, wer brüllt denn?«

»Das Gebrüll hängt mit dem Wasser zusammen... Danach wollen wir aber lieber Aram Michailowitsch und Armjon fragen; die werden uns genau erklären, wodurch es entsteht.«

»Ja, sie werden es wissen. Aber warum brüllt denn das Wasser nicht, wenn es aus einer Quelle herausfließt?« fragte Asmik.

Der Großvater strich nachdenklich seinen Bart. Alles, was er sich im Laufe seines langen Lebens im Kopfe zurechtgelegt hatte, erwies sich als falsch, und das war schwer zu begreifen.

»Asmik hat recht«, sagte er. »Weshalb soll das Wasser brüllen, das aus dem Berg sprudelt? Dahinter steckt doch etwas anderes.. . « Und der Alte schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Weshalb siehst du so sorgenvoll aus, Kamo?« fragte Asmik. »Du hast doch eben eine große Entdeckung gemacht, und du freust dich gar nicht?«

»Ja! Ich habe Grikors Mütze im See aufgefischt. Und das läßt mir keine Ruhe.«

Er hob Grikors nasse Mütze vom Boden des Bootes auf und zeigte sie Asmik.

»Sie wurde zusammen mit dem Stroh an die Oberfläche geschleudert. Ich habe so große Angst, daß Grikor etwas zugestoßen ist.«

»Ist Grikor vielleicht in den unterirdischen Strom gestürzt?« rief Asmik entsetzt. »Komm schnell heim. Worauf wartest du noch?« Sie eilte den beiden voraus zum Boot.

Beim Rudern wechselten sie sich ab, um schneller vorwärts zu kommen. — Endlich hatten sie das Ufer erreicht. Kamo und Asmik sprangen ans Land und liefen, so rasch sie konnten, dem Dorfe zu. Tschambar jagte hinterher.

Auf dem Weg zwischen den Feldern, kurz vor dem Dorfe, kamen ihnen Seto, Artusch, Armjon und Grikor entgegen.

Asmik stürzte auf Grikor zu und fiel ihm um den Hals. Auch Kamo umarmte den Freund.

»Lebst du, lebst du wirklich, Grikor?« fragte er, indem er ihn von allen Seiten betrachtete.

Warum sollte ich denn gestorben sein? wollte Grikor fragen, erriet jedoch gleich den Zusammenhang, als er seine nasse Mütze sah.

»Du mußt nicht weinen, Asmik«, rief Grikor und strich ihr zärtlich über das Haar. »Ich lass' mich schon nicht so leicht umbringen. Bin ich denn ein Narr, daß ich diese strahlende Welt verlassen sollte?«

Armjon berichtete nun Kamo und Asmik:

»Genau achtunddreißig Minuten, nachdem wir das Wasser abgelassen hatten, war das Gebrüll zu hören. Wir waren in-zwischen schon bis ans Dorf gekommen.«

»Deine Mutter wird sicher wieder geschimpft haben, als sie den ,Wassermann' gehört hat«, wandte sich Kamo lachend an Seto.

»Natürlich wird sie geschimpft haben«, antwortete Grikor. »Sie ist schnurstracks aufs Dach geklettert, hat mit den Armen gefuchtelt und um Hilfe gerufen.«

»Und ihr?«

»Wir haben gelacht«, sagte Artusch. »Wir haben den Kolchosmitgliedern schon erklärt, wie das alles zusammenhängt. «

»Nun, gelehrter Bruder, erkläre du uns, wie das Gebrüll entstanden ist«, wandte sich Kamo an Armjon. »Gegen deine wissenschaftlich begründeten Ansichten werden ernsthafte Einwände laut. Einmal werden sie von diesem ehrwürdigen Greis erhoben« - erwies auf den näher kommenden Großvater - »zum zweiten von der Verwalterin unserer Geflügelfarm«, und er deutete auf Asmik. »Im Grunde genommen sind die Ein-wände gleicher Art und lassen sich etwa so zusammenfassen: Warum brüllt das im See aufschießende Wasser wie ein Drache, wenn es doch gar kein Drache ist? Und warum brüllt dann nicht auch das aus einer Quelle hervorsprudelnde Wasser?«

Armjon lachte. Die jungen Leute drängten sich um ihn und warteten auf seine Erklärungen. Die Frage des Großvaters, weshalb das emporschießende Wasser wie ein Drache brüllt, interessierte sie ebensosehr.

»Bei dem, was ihr eben gesehen habt«, sagte Armjon, handelt es sich nicht um eine gewöhnliche Quelle. Wir haben es mit einem richtigen Strom zu tun, der aus ungeheurer Höhe und mit ungeheurer Gewalt herabstürzt. Wenn das Wasser oben in den Spalt eindringt, reißt es große Luftmassen mit, die von der Strömung bis in den Gilli-See gebracht werden. Dort schleudert der Strom die Luft mit furchtbarer Gewalt an die Oberfläche. So entsteht die Wassersäule. Sie entsteht durch den Luftdruck, und die Luft bildet gigantische Blasen. Die Blasen platzen, und dabei ertönt das schreckliche Brüllen.«

»Ach, Kinder, wie ist das alles doch einfach!« rief Asmik aus. »Endlich hab' ich es erfaßt! Natürlich, wenn die riesigen Blasen platzen, wird die Luft hinausgeschleudert.«

»Großväterchen, was hast du dagegen einzuwenden?« fragte Kamo den Alten.

»Was soll ich sagen?« entgegnete der Großvater verlegen. »Ihr behaltet ja doch recht in allem... Meine Einwände sind keine Kopeke wert. Ich sehe nur eins: es gibt keinen Drachen, es gibt auch keinen weißen Wasserbüffel...«

»So ist es, Großväterchen, glaube deinem Gevatter Mukel nicht«, sagte Kamo lachend. »Hat noch jemand Zweifel? Oder sind noch Fragen an Armjon?«

Alle hatten es begriffen, selbst der alte Jäger.

»Somit sind also die Geheimnisse der Schwarzen Felsen und des Gilli-Sees aufgeklärt«, rief Kamo, »und der ,Wasser-mann' hat heute den letzten Tag gelebt!«

Und in der Tat, von dem ,Wassermann', der das Dorf Litschk jahrhundertelang in Schrecken versetzt hatte, wurde seit jenem Tage nie wieder etwas gehört.

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