Das geheimnisvolle Gebrüll

Wann fahren wir denn, Armjon?« Kamo trieb zur Eile an. »Hast du die Karte vom See bei dir?«

»Wollen wir nicht lieber Großvater Assatur mitnehmen?«

»Er kommt bestimmt nicht mit, laß dir das gesagt sein... Keiner von unseren Alten im Dorf traut sich auf diesen See. Du kennst doch die Märchen, die sie sich vom Gilli erzählen...«

»Wir dürfen ihm nicht sagen, daß wir rausfinden wollen, wer da immer so unheimlich heult«, flüsterte Kamo geheimnisvoll.

»Wie können wir ihn bloß rumkriegen? Ich hab's: Wir sagen ihm, daß wir auf Jagd fahren!«

»Wenn er etwas von Jagd hört, wird er vielleicht den Drachen vergessen .. . «

Grikor trieb die Kälber, die er mit dem Kolchoshirten gehütet hatte, zusammen, kam wieder zurück und setzte sich neben den Großvater. Auch Kamo und Armjon liefen herbei.

Mit leisem Plätschern schlugen die Wellen gegen das Seeufer. Von einem leichten Lufthauch bewegt, raschelte das Laub im Gestrüpp.

Doch plötzlich erscholl ein fürchterliches Gebrüll. Es übertönte selbst die Stimmen der Kinder.

Was konnte das sein? Drohend und gewaltig klang es über den See. Es hörte sich an, als blase jemand, mühsam und abgehackt nach Luft schnappend, unter Wasser in ein riesiges Rohr.

Als Großvater Assatur das Brüllen hörte, zuckte er zusammen, und sein Gesicht verdüsterte sich.

»Solange ich auf dieser Erde lebe«, rief er, »ist noch kein Tag vergangen, an dem der Drache nicht wütend geworden ist und zornig gebrüllt hat.«

»Nach der Uhr kann man ausrechnen, wann er wütend wird und zu brüllen anfängt«, sagte Armjon.

»Was ist es aber? Wer kann nur so trompeten? Man erschrickt immer wieder.«

Tschambar, Großvaters Lieblingshund, hob den Kopf und knurrte. Er war eben erst aus dem Dorf angelaufen gekommen, hatte seinen Herrn gefunden, hatte gierig von dem zähen, nach Fisch riechenden Otterfleisch gefressen und lag nun behaglich ausgestreckt zu Füßen des Alten.

»Großväterchen, glaubst du, daß da wirklich ein Drache brüllt?« fragte Kamo und zwinkerte seinen Freunden listig zu, und in seinen braunen Augen blitzte es schalkhaft.

»Ach, Kindchen«, murmelte der Alte verlegen, »woher soll ich das wissen? Es wird viel geschwatzt. Will man der Tante Tarlan glauben, dann ist es ein böser Geist und kein Drache. Mein Gevatter Mukel hat gesagt, es ist ein weißer Wasserbüffel. Und mein Vater, dein Urgroßvater...«

Als der Großvater merkte, daß Kamos Schultern zuckten, weil er sich das Lachen verbeißen mußte, und daß es in Arm-jons Augen verschmitzt aufleuchtete, brach er seine Rede mitten im Satze ab. Er war gekränkt:

»He, Jungens, wollt ihr euch gar über mich lustig machen? Und du — warum kicherst du?« fiel er über Grikor her. »Wenn deine Kälber noch einmal in meine Felder einbrechen, reiß ich dir die Ohren ab; ganz gleich, und wenn du ein noch so gelehrter Schüler bist...«, murrte der Alte. Doch seine Stimme klang gutmütig.

Grikor hielt ihm lachend sein Ohr hin:

»Hier, Großväterchen, reiß ab... Was kann ich dafür, daß ich meine Kälber liebhabe. Wenn ich erst mit der Schule fertig bin, dann geht's aufs Landwirtschaftliche Institut. Viehzucht will ich studieren. — Vieh werd' ich züchten — Prachtkerle, Ehrenwort!«

»Recht so, mein Söhnchen«, stimmte der Großvater ihm bei. »Nichts geht über das Wissen; man muß es nur anwenden können. Aber auch aus der Natur kann man manches lernen, man muß sie nur beobachten können... Wieviel Jahre gehst du schon in die Schule, Kamo?« fragte er seinen Enkel.

»Acht Jahre, Großväterchen!« rief Kamo stolz.

»Und ich lese schon sechzig Jahre im Buch der Natur...

Das hat überhaupt nie ein Ende.«

»Alles, was du im Buch der Natur gelesen hast, Großväterchen«, ahmte Armjon die umständliche Redeweise des Alten nach, »steht auch in unseren Büchern.«

Der Alte schien gekränkt.

»Wie ist das möglich?« knurrte er unzufrieden. »Steht zum Beispiel in euren Büchern, woher so viele Vögel zu unserem See geflogen kommen?«

»Aus dem Süden, Großväterchen, von den Ufern des Indischen Ozeans, wo sie den Winter verbringen«, antwortete Armjon ohne Zögern.

Der Großvater hob erstaunt die Augenbrauen.

»Nun, dann sag mir noch: Warum haben die Sumpfvögel einen so langen Schnabel und so lange Beine, zum Beispiel die Reiher, die Kraniche oder die Schnepfen? Die Schnepfe hat einen kleinen Körper, nicht größer als ein Ei, aber ihre Beine sind lang wie Bleistifte, und ebenso lang ist der Schnabel... Und der weiße Vogel da drüben, der wie ausgestopft auf einem Bein steht — weshalb ist der so seltsam gewachsen?«

Spöttisch blickte der Großvater die Jungen an. Doch Armjon ließ sich nicht beirren. Prompt antwortete er:

»Die sind von der Natur so gemacht, weil sie ihre Nahrung aus dem Wasser oder dem Schlamm holen müssen. Sie fressen Würmer, Fische, Frösche und Schlangen. Hätten sie kurze Beine und kurze Schnäbel, dann müßten sie elendiglich verhungern.«

»Ei, du bist ja ein richtiger Gelehrter! Woher weißt du denn das alles? Nur ein Jäger, der sein ganzes Leben im Wald und in den Feldern verbringt, weiß doch darüber Bescheid.«

Kamo antwortete an Stelle seines Freundes:

»Der große Naturforscher Darwin hat über das alles geschrieben! Er hat das Leben der Tiere studiert.«

»So wie ich es studiere?« fragte der Großvater. »Jedesmal, wenn ich auf Jagd gehe, lerne ich die Gewohnheiten anderer Tiere kennen — mal die des Wolfes, mal die des Fuchses. . . «

Dieser Darwin muß ein Jäger sein, dachte der Alte. Aber er war keineswegs gewillt, vor diesem Manne die Waffen zu strecken, wie tüchtig er auch als Jäger sein mochte. Es war ausgeschlossen, daß jemand in der Natur besser Bescheid wissen konnte als der im ganzen Hochland berühmte Jäger Assatur...

»Darwin war was ganz Besonderes!« rief Armjon, und um den Alten zu versöhnen, fügte er hinzu: »So wie du als Jäger was Besonderes bist... Das, was Darwin geschrieben hat, wissen alle Menschen, die etwas lernen. Er war ein sehr kluger Mann. «

»Ein kluger Mann, sagst du, war dieser Darwin? Heißt das etwa, daß so einer wie ich keinen Verstand hat?« fragte der immer noch gekränkte Großvater. »Nun, wenn er so klug ist, will ich ihm eine einfache Frage vorlegen, und ihr, seine Schüler, sollt sie mir beantworten: Bei den wilden Schafen wiegt ein Neugeborenes ungefähr sieben Pfund. Wieviel wiegt nach eurer Meinung ein neugeborener Bär?«

»Na, wohl dreißig Pfund«, platzte Grikor, ohne nachgedacht zu haben, heraus.

Der Alte lachte spöttisch.

»Was lachst du denn? Ein Bär ist doch fünfmal so groß wie ein Schaf?«

»Das ist ja der Haken: Der Bär ist fünfmal größer, aber seine Jungen sind fünfmal kleiner als die Schaflämmer -kleine Bären sind nicht größer als Ratten! Es ist ein Rätsel der Natur. Nun soll mir euer Darwin mal sagen, warum ein neu-geborenes Bärchen so klein ist! Aber hört weiter: Wie kommt es, daß die Lämmer der wilden Schafe schon zwei Stunden, nachdem sie auf der. Welt sind, laufen können, und zwar so schnell, daß man sie nicht einfangen kann? Die Jungen der riesigen Bären hingegen bleiben wochenlang in der Höhle liegen, bevor sie kräftig genug sind, um sich auf die Füße zu stellen; sie können weder laufen noch sich verbergen, wenn sie verfolgt werden.«

Armjon sah beschämt drein.

»Wie ist denn so was möglich?« fragte er. »Ein so großes und starkes Tier wie der Bär hat so kleine, schwächliche Junge? Wie kommt denn das?«

»Das ist eine harte Nuß, und die ist nicht so leicht zu knacken«, antwortete der Alte und schmunzelte. »ja, meine gelehrten Söhnchen, die Natur sorgt für alle ihre Kinder - an-gefangen von der Mücke bis zum Bären. Wenn die jungen der wilden Schafe bei der Geburt schwächlich wären, würden Füchse und Wölfe sie sofort auffressen. Die Mütter dieser Jungen haben keine Waffen, sie haben nichts, womit sie ihre Kleinen verteidigen können, nicht mal Hörner haben sie. Was drohen dagegen einem Bärenjungen für Gefahren? Es liegt, von seiner kräftigen Mutter bewacht, sicher in der Höhle — wer wollte es wagen, sich ihm zu nähern? Es würde jedem schlecht bekommen! «

»Darwin sagt das auch, Großväterchen.«

»Was du nicht sagst!« verwunderte sich der Alte. »Dann weiß Darwin ja so viel wie wir. .. Aber merke dir: Wir Jäger haben das alles auch ohne Darwin gesehen und begriffen.«

Der Großvater schwieg eine Weile und fügte dann hinzu:

»Wenn dein Darwin alle Geheimnisse der Natur gekannt hat, muß er wohl die Jäger gefragt haben... Sicher hat er sie zu sich gerufen und hat zu ihnen gesagt: ,Nun erzählt einmal, was ihr in den Wäldern und Feldern Interessantes gesehen habt!' Denn es ist nicht möglich, daß ein einzelner Mensch sämtliche Geheimnisse der Natur erforscht haben soll.«

Nun mischte sich Grikor in das Gespräch:

»Vom Streiten wird man nicht satt«, meinte er. »Wir wollen lieber ein Feuer anmachen. Seht nur die fetten Bissen, die da angeflogen kommen!« Er deutete auf einen vorbeifliegenden Schwarm Enten und begann Reisig zu sammeln.

»Was fällt dir ein, du Narr — an einem so sonnigen, paradiesisch schönen Tage willst du Feuer anmachen?«

»Ich hab' solchen Appetit auf Entenbraten, Großväterchen«, rief Grikor und machte dabei ein ganz klägliches Gesicht.

»Zur Erinnerung an deinen Großvater solltest du uns einen Entenbraten schießen — was meinst du dazu, Großväterchen?«

»Jetzt ist Legezeit; da darf man keine Enten schießen.«

»Na, dann schieß doch einen Erpel — die darf man schießen! Schau nur, Großväterchen, dort drüben im Schilf ist ein Erpel«, rief Grikor und wies auf eine Ente mit samtgrünem Hals.

Auch Kamo bettelte: »Schieß, Großväterchen! Schieß uns den Enterich!« Aufgeregt sprang er um den Alten herum.

Nun war der Großvater wieder in seinem Element.

»Ein richtiger Jäger schießt eine Ente nur im Fluge«, empörte er sich. »Einen Vogel schießen — das ist kein Kunststück. Es kommt darauf an, wie man ihn erlegt. Man muß verstehen, den Vogel im Fluge zu treffen.« Und auf einen Schwarm fliegender Enten deutend, fuhr der Großvater fort: »Man muß auf die Schnabelspitze zielen; bis das Schrot sein Ziel erreicht hat, ist die Ente weitergeflogen, und das Blei wird sie gerade ins Herz treffen. Zu allem ist Berechnung nötig... Ihr seid dumme Jungen — ihr meint natürlich, man sollte blindlings in den Schwarm hineinschießen. Ihr denkt, einen der Vögel werdet ihr schon treffen. Das ist ganz verkehrt. Wie groß der Schwarm auch sein mag, man muß immer auf einen bestimmten Vogel zielen und sich vornehmen: den hole ich runter. Wenn das Glück es will, daß außerdem der neben ihm fliegende mit getroffen wird - na, dann um so besser!«

Förmlich wie auf Bestellung erhob sich in diesem Augenblick vom Sewan-See ein großer Entenschwarm und flog hinüber zum Gilli.

Großvater Assatur legte schnell an und schoß. Zwei an der Spitze des Schwarms fliegende Erpel plumpsten in den See. Gleich darauf erscholl von der kleinen Insel herüber, die unweit des Ufers im Schilf verborgen lag, der Ruf eines Kindes. Die Jungen horchten auf: »Wer kann das gewesen sein?«

Kamo sprang in ein am Ufer liegendes Fischerboot, band es los und stieß vom Ufer ab.

»Kamo, Söhnchen! Wohin willst du?« rief der Alte ihm nach. »Kehr um! Du ruderst ja dem Drachen entgegen! Mein Lebtag bin ich nicht über diese Stelle hinausgekommen.«

Kamo achtete nicht auf das Rufen des Großvaters; mit verstärktem Eifer ruderte er weiter.

Als das Boot bei der Insel angelangt war, riß der Knabe erstaunt die Augen auf. In einer großen Bütte, die friedlich auf der Wasserfläche schaukelte, saß ein Mädchen. Als es Kamo erblickte, hob es vom Boden des Fasses eine der erlegten Wildenten auf, schwang sie über dem Kopf und rief lachend: »Hier hast du deine Ente! Ich hab' sie aus dem Wasser gefischt.«

»Und wo ist die andere?«

»Die andere hat der Hund geholt. Da — sieh!«

In der Tat: eben kletterte Tschambar, die Wildente im Maul, die Uferböschung empor. Er war triefend naß und schüttelte sich gerade das Wasser aus dem Fell.

Kamo kannte das Mädchen:

»Du bist es, Asmik? Komm zu mir mit deinem Schiff!«

An Stelle eines Ruders hatte Asmik eine hölzerne Schaufel, die sie so geschickt handhabte, daß sie mit ihrer Bütte sehr bald an der Insel anlegte. Leichtfüßig sprang sie ans Ufer.

Mit der vorgehaltenen Hand beschattete sie ihre Augen gegen die grellen Sonnenstrahlen und musterte den Knaben.

»Weshalb hast du vorhin so geschrien?« fragte Kamo neugierig.

»Ich hab' mich erschrocken..., wie da geschossen wird, und gleich darauf plumpsen neben mir zwei Enten ins Wasser! Aus heiterem Himmel... Eine davon wär' mir beinahe auf den Kopf gefallen...«

Während Asmik lachend ihr Abenteuer erzählte, schimmerten ihre kleinen weißen Perlenzähne im Sonnenschein, und ihre dunklen Augen funkelten lustig.

»Wo hast du dein Gewehr?« fragte sie, wartete aber nicht auf eine Antwort, sondern rief begeistert: »Wie herrlich ist der Gilli-See!« Sie breitete die Arme aus und ließ ihre Blicke über den See schweifen. Dabei strahlte sie über das ganze Gesicht.

Tschambar hatte seine Ente dem Großvater abgeliefert. Nun schwamm er zur Insel zurück, stellte sich vor Asmik in Positur und gab deutlich zu erkennen, daß er etwas von ihr wollte.

»Du sollst ihm die Ente geben«, erklärte Kamo.

Das Mädchen lachte und drückte den Vogel an sich.

»Nein, die geb' ich nicht her. Das ist meine Beute.« Doch dann ließ sie sich durch den flehenden Blick der Hundeaugen erweichen. »Na, meinetwegen, nimm sie und schau nicht so traurig drein.«

Tschambar packte den Vogel und schwamm mit ihm an das gegenüberliegende Ufer zurück.

Die Kinder blickten dem Hunde nach. Dann meinte Kamo: »Komm, wir wollen hinüber zum Großvater, sonst denkt er, der weiße Büffel hat uns aufgespießt.«

Als sie aus dem Boot stiegen, blickte der Alte das Mädchen erstaunt an:

»Wo kommst denn du her? Wer bist du denn?«

»Ich bin Tante Anaids Tochter.«

»Tante Anaid? Ist das die Gruppenleiterin von der Tabakplantage?«

»Ja, das ist meine Mama.«

»Was hast du denn allein da drüben gemacht, mein Töchterchen?« Die Stimme des Großvaters klang erstaunt und erregt. »Hast wohl ein Löwenherz, daß du dich mutterseelenallein auf diesen verfluchten See hinauswagst? — Nein, was ihr Kinder jetzt alles anstellt — ihr seid ja ganz außer Rand und Band!«

Alle lachten.

Doch Großvater Assatur setzte sein Verhör fort:

»Was hast du da drüben gemacht?«

»Eier gesammelt hab' ich.«

»Eier? Was für Eier?«

»Gänseeier, Enteneier, Eier von schwarzen Hühnern — alles, was ich finden kann.«

Der Großvater und die Jungen sahen das Kind neugierig an. Was ist das doch für ein seltsames Mädchen! dachte der alte Jäger. Fürchtet keinen Drachen, keinen Büffel und keinen bösen Geist!

»Ich sammle oft Eier«, erzählte Asmik, »aber Seto wirft dann immer mit Steinen nach mir und zerschlägt sie.«

»Wo ist Seto? Dem wollen wir helfen!« sagte der Großvater und faßte nach dem silberbeschlagenen Griff seines Dolches.

»Da drüben im Schilf versteckt er sich«, antwortete Asmik und wies auf den schmalen Verbindungskanal.

Großvater Assatur drohte mit der Faust und rief:

»He da, Seto! Laß die Asmik in Ruhe - sonst richte ich dich so zu, daß nur ein nasser Fleck von dir übrigbleibt. Das schwöre ich dir bei meinem Bart!«

Das war ein feierlicher Schwur.

Ein halbwüchsiger Bursche kroch aus dem hohen Schilf und lief davon, so schnell ihn seine Beine trugen.

»So ein Halunke!« rief der Großvater wütend und konnte sich gar nicht beruhigen. »Schlägt ganz nach seiner Mutter! Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm.«

Und Kamo fügte hinzu:

»Wie lange wird er es noch treiben? Alle Leute ärgert er, und uns geht er aus dem Wege. . . « Zu Asmik gewendet, fuhr Kamo fort: »Was machst du mit den Eiern, die du gesammelt hast? Ein Rührei für uns Jäger?«

Grikor war sofort Feuer und Flamme.

»Nein, Rührei machen wir nicht«, antwortete Asmik rasch. »Wir legen die Eier den Hennen unter. Dann schlüpfen Küken aus - so hübsch und bunt sind sie...! Im vorigen Jahr haben wir zwanzig Stück gehabt.«

Die Jungen blickten sie neugierig an, und Asmik fuhr fort:

»Als Vater an der Front war, hatten wir es schwer. Da haben wir angefangen, am Gilli Eier zu sammeln und Küken ausbrüten zu lassen. Das hat uns sehr geholfen.«

»Das kann ich mir denken«, meinte Grikor. »Natürlich hat euch das geholfen. Eine gebratene Ente ist was Feines.« Asmik lachte.

»Ja, fliegen dir denn die Vögel nicht weg, wenn sie groß sind?« fragte Kamo das Mädchen.

»Wie sollen die wegfliegen, wenn man ihnen die Flügel beschneidet?« erwiderte Asmik. Sie blickte die Jungen dabei ein wenig geringschätzig an, als wollte sie sagen: Wie dumm ihr doch seid!

»Ach ja, das ist wahr, daran hab' ich gar nicht gedacht - die Flügel muß man ihnen beschneiden«, bekräftigte der alte Jäger, »sonst kann man sie noch so sehr hegen und pflegen und ihnen noch so viel Futter hinstreuen - wenn sie auch im Frühling und Sommer aushalten, im Herbst fliegen sie auf und davon! Sie sammeln sich zu Schwärmen und fliegen in wärmere Länder. .. «

»Wenn aber ihre Schwärme schon vorher fort sind?« fragte Kamo. »Fliegen sie dann auch noch weg?«

»Sie fliegen bestimmt weg«, meinte der Großvater. »Und finden sie den Weg?«

»Aber gewiß, durch ihren Instinkt. Wenn auch nur ein einziges Ei ausgebrütet würde, wenn man das Küken einsperrte und es nie hinausließe — das würde alles nichts nützen. Gib ihm, wenn der Herbst da ist, die Freiheit, und es wird ganz allein nach dem Iran fliegen und von dort weiter nach Indien. .. Das liegt ihnen im Blut, es ist ererbt.« Stolz über sein Wissen, strich sich der Alte den Bart. »Und nun fragt mal euren Darwin! Er soll uns erklären, wie das zugeht! «

Die Jungen mußten lachen. Nur Armjon meinte ernsthaft:

»Kluge Menschen können das alles ändern. Sie brauchen die wilden Vögel nur ein paar Jahre gefangenzuhalten und sie mit unserm zahmen Federvieh zu kreuzen, so daß es halb zahme, halb wilde Vögel gibt. Die nehmen dann ganz neue Gewohnheiten an.«

Kamo dachte bereits an etwas anderes.

Er galt bei seinen Freunden für sehr erfinderisch. In seinem unruhigen Geist entstanden immer neue kühne Ideen. Auch jetzt war ihm ein guter Einfall gekommen.

»Wißt ihr was, wir wollen wilde Vögel aufziehen, in einer Farm, oder wie das heißt. Wäre das nicht fein?«

»Großartig! Aber wie machen wir das?«

»Ganz einfach: Wir sammeln die Eier im Schilf und lassen sie ausbrüten.«

»Du bist ein Teufelskerl, Kamo!« schrie Armjon. Auch Asmik war sofort begeistert dabei.

»Schöne bunte Vögel werden wir aufziehen«, jubelte sie. »Wo sind denn die Eier, die du gesammelt hast?« fragte Grikor.

»Drüben im Schilf. «

Kamo sprang sofort ins Boot, ruderte zur Insel hinüber und kam bald mit einem Korb voll Eier zurück.

»Schau her, Großväterchen, wieviel Eier Asmik gesammelt hat! Und was für hübsche Dinger!«

Asmik strahlte. Tschambar wedelte mit dem Schweif und sah ebenfalls neugierig in den Korb.

»O-ho-ho, was für ein Ei!« rief Grikor und prüfte mit den Zähnen ein hartes Gänseei.

Großvater Assatur sah die Eier aufmerksam durch.

»Das hier sind Möweneier. Aus ihnen werden hübsche weiße Vögel ausschlüpfen«, sagte er und zeigte dabei auf rotbraun gesprenkelte Eier, die etwa so groß wie Hühnereier waren. »Aber die Möwen fressen viele Fische. Jede Möwe frißt im Jahr zwei bis drei Pud[1] junge Fischchen auf, aus denen mindestens hundert Pud große Fische geworden wären!«

»Und was sind das für Eier, Großväterchen?« fragte Kamo und zeigte auf grünliche, wie mit Sand bestreute Eier.

»Aus ihnen schlüpfen die grauen Reiherküken aus. Diese Eier muß man aussortieren und ebenso wie die Möweneier beim Fischtrust abliefern. Man bekommt dafür eine ansehnliche Prämie.«

»Was ist denn das für ein Ei?« fragte Armjon erstaunt und deutete auf ein plattes, längliches rotbraunes Ei. »Wie mit geronnenem Blut beschmiert sieht es aus und hat lauter kleine dunkle Pünktchen auf der Schale.«

»Auch die kann man nicht essen. Es sind die Eier vom Steißfuß; das Fleisch dieser Vögel riecht und schmeckt nach Fisch, und die Eier auch. Legt sie beiseite«, sagte der Großvater.

Nachdem alle als unbrauchbar bezeichneten Eier herausgesucht waren, lagen im Korb noch die spitzen, grauweißen Eier, der wohlschmeckenden Stockente, auch Eier von Krickenten, Spießenten und von mancher anderen Entenart.

Der Großvater wußte nicht nur, wie die Eier der verschiedenen Vögel aussahen, er wußte noch manches andere und erzählte in seiner scherzenden, ein wenig prahlerischen Art den Kindern davon:

»Warum sind wohl fast alle diese Eier gelblichgrün, ungefähr so wie das Schilf, in dem ihr sie gefunden habt? Was meint ihr wohl? Unser zahmes Federvieh legt doch nur weiße Eier. Wie kommt das? Na, heraus mit der Sprache, ihr gelehrten Schüler!«

Asmik warf Armjon einen verstohlenen Blick zu und antwortete zögernd:

»Das Federvieh im Stall braucht seine Eier nicht zu verstecken. In der Freiheit ist das anders. Da müssen die Eier ebenso aussehen wie die Blätter und die Erde ringsherum, damit die Eierdiebe sie nicht sehen können.«


»Bravo, Töchterchen! « rief der Alte erfreut und strich Asmik über das Haar, »und Eierdiebe gibt es auch unter den Tieren.«

»Die großen Eier hier stammen wohl von der Rotente - sie ist doch so groß«, meinte Grikor und bereute diese vorschnelle Behauptung sogleich.

»Wenn mir die Schüler in der Stadt so was sagen«, rief der Großvater, »dann wäre es nicht weiter schlimm, aber ihr seid ja soviel draußen in der Natur - ihr müßtet wissen, daß die Rotente nicht in Sümpfen nistet!«

»Wo denn sonst?« fragte Kamo. »Alle Enten bauen doch ihre Nester im Schilf oder im Sumpf.«

»Das stimmt, du Schlaumeier, alle, nur nicht die Rotente.«

»Wie komisch. Wo nistet sie denn? «

»Na, zum Beispiel da drüben: auf den Felsen des Dali-Dagh.«

»Auf den Felsen? Eine Ente - auf Felsen? So weit vom Wasser weg?« wunderte sich Armjon.

Die anderen waren nicht weniger erstaunt.

»Warum nistet sie nicht am Wasser? Das wäre doch viel bequemer: dann können die Küken, wenn sie ausgebrütet sind, gleich ins Wasser, und zu fressen hätten sie auch«, meinte Kamo.

»Wie soll ich wissen, warum das so ist?« antwortete der Großvater. Er war offensichtlich bestrebt, seine Kenntnisse vor den Kindern ins richtige Licht zu setzen. »Bücher lese ich nicht - woher soll ich ungelehrter alter Mann die Weisheit schöpfen?«

»Auch ganz kluge Leute, die viel gelernt haben, wissen so was nicht«, rief Kamo, bemüht, der Eigenliebe des Großvaters ein wenig zu schmeicheln.

»Nein? Davon verstehen sie wohl nichts«, sagte der Alte überzeugt und selbstzufrieden. »Nach so etwas müßt ihr die Jäger fragen. Ist ja auch leicht zu verstehen. Wenn man sechzig Jahre lang durch Felder und Wälder streift und die Berge besteigt, dann ist das keine Kleinigkeit... Ihr alle habt solche Enten gesehen und wißt, daß sie vom Kopf bis zu den Füßen rot sind und außerdem viel scheuer als alle anderen Arten.«

»Ja«, sagte Kamo, »und mir ist aufgefallen, daß sich die Rotenten auf dem Sewan-See dem Ufer immer sehr fern halten.«

»Bravo, Kamo! Und was meinst du wohl, warum sie das tun? Ich will es dir sagen: weil Füchse, Wildkatzen oder Ottern sie sofort entdecken würden! Und nun frage ich euch: Kann die Rotente, die mehr als zwanzig Tage auf ihren Eiern sitzt, sie im Schilf ausbrüten?«

»Nein«, rief Asmik, »ihre Feinde würden sie gleich entdecken und auffressen.«

»Sehr gut, Asmik«, lobte der Großvater. »Wenn die Rotente ihre Eier nicht zwischen Felsspalten legte, gäbe es schon längst keine Rotenten mehr auf der Welt... Und wenn ihr für eure geplante Zucht Eier von Rotenten haben wollt, müßt ihr also auf die Felsen des Dali-Dagh klettern«, fügte er hinzu.

»Na, wie ist es, wollen wir so eine Farm gründen?« fragte Kamo ungeduldig.

»Ich gebe alle Eier her, die ich gesammelt habe«, rief Asmik begeistert.

»Das ist fein. Aber die reichen nicht. Wenn schon, dann soll es eine richtige große Geflügelfarm sein, und mindestens ein paar Hundert Vögel müssen wir haben.«

»Da werden ja die Hühner lachen! Hat man je was von einer Farm mit wilden Vögeln gehört?« spottete Grikor.

»Was nicht ist, kann noch werden«, erklärte Kamo entschlossen. »Wir werden so schöne Vögel züchten, daß alle Welt staunen wird, nicht wahr, Großväterchen?« Kamo wurde unterbrochen, denn in diesem Augenblick erscholl wieder das unheimliche Drachengebrüll.

Deutlich klangen die langgezogenen, dumpfen Laute vom See her.

Den Kindern lief es kalt über den Rücken. Sie waren ernst geworden und schauten nachdenklich drein.

»Wir müssen rauskriegen, was das für ein Gebrüll ist«, sagte Kamo mißmutig. Entschlossen wandte er sich dann den Kameraden zu und sagte: »Wir müssen das Geheimnis aufdecken, um jeden Preis. Meint ihr nicht auch?« Und als die Freunde lebhaft zustimmten, schlug Kamo vor: »Wir wollen zu der Stelle rudern, wo die Laute herkommen. Vorwärts, los! «

Wenn Kamo sich etwas vorgenommen hatte, war er nicht zu halten. Dem Alten gefiel der Mut seines Enkels. Nicht umsonst fließt mein Blut in seinen Adern, dachte er und blickte den Jungen zärtlich an. Doch die abergläubische Furcht, die er von seinen Vorfahren geerbt hatte, hemmte ihn noch. So sagte er warnend zu den Kindern:

»Laßt euch nicht mit diesem verteufelten See ein. Das sind Dinge, die euch nichts angehen.«

Doch Armjon und Kamo hörten nicht auf ihn. Sie gingen schon zum Ufer, um das Boot loszumachen.

Grikor zögerte etwas. Aber Kamo rief ihm zu:

»Kommst du nicht mit?«

Grikor machte ein klägliches Gesicht.

»Ich kann doch die Kälber nicht im Stich lassen... Der Hirt hat sie mir anvertraut«, rief er.

»Da kommt er ja gerade«, sagte Armjon und wies auf den Pfad, der zum Dorf führte.

Grikor lief ihm entgegen.

»Du kommst wie gerufen!« rief er dem Hirten zu.

Asmik sah die Jungen flehend an:

»Nehmt mich auch mit!« bat sie. »Ich habe bestimmt keine Angst.«

Kamo warf dem Großvater einen fragenden Blick zu, doch dann entschied er:

»Komm nur mit, Asmik.«

Schließlich sprang noch Tschambar hinter den Jungen ins Boot. Nur Grikor fehlte.

Kamo und Armjon hielten die Ruder schon in den Händen und warteten ungeduldig. Grikor verhandelte mit Großvater Assatur und bat sich eine Ente als Wegzehrung aus.

»Nimm sie schon, du Freßsack«, sagte der Alte. »Du hast ja doch nur das Futtern im Sinn.«

»Großväterchen«, rief Kamo dem Jäger schmeichelnd zu, »sorge dich nicht, wir werden bald zurück sein! Und bestelle Tante Anaid, daß Asmik mit uns gekommen ist. Vergiß auch den Korb mit den Eiern nicht.«

Der Alte blickte vom Ufer aus den Kindern nach. Er machte eine sorgenvolle Miene und bekreuzigte sich.

Die Kinder lachten.

»Nun kann uns der Teufel bestimmt nichts mehr anhaben«, versuchte Grikor zu scherzen.

Doch unversehens beschlich auch die Kinder geheime Angst. Tschambar winselte ungeduldig — er bildete sich wohl ein, es gehe zur Jagd.

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