Conklin brach in Schweiß aus, während seine Hand noch auf dem Apparat lag. Er ließ das Telefon los und stand vom Stuhl auf, humpelte weg vom Computer, schaute ihn wieder an, auf ihn hinunter, als wäre es ein monströses Ding, das ihn in ein verbotenes Land entführt hatte, wo nichts so war, wie es schien oder sein sollte. Was war geschehen? Wie konnte Randolph Gates irgend etwas über Montserrat wissen, über Marie und die Kinder? Warum?
Alex ließ sich langsam in den Sessel sinken, sein Puls raste, seine Gedanken waren in Aufruhr. Er war unfähig, sich ein Urteil zu bilden — sein Kopf war ein einziges Chaos. Er packte sein rechtes Handgelenk mit der Linken, und die Nägel gruben sich ins Fleisch. Er mußte sich beruhigen, er mußte denken — er mußte handeln. Für Davids Frau und die Kinder.
Assoziationen. Was war denkbar? Es war schwierig genug, sich Gates als unwissentliches Mitglied von Medusa vorzustellen, und völlig undenkbar, daß er mit Carlos, dem Schakal, in Verbindung stand. Unmöglich… Und doch schien es so zu sein. Die Verbindungen bestanden. War Carlos auch ein Teil von Swaynes Medusa? Alles, was sie über den Schakal wußten, würde dem entschieden widersprechen. Die Stärke des Mörders lag in seiner völligen Ungebundenheit von jeder strukturierten Einheit. Das hatte Jason Borowski vor dreizehn Jahren in Paris bewiesen. Niemand konnte ihn jemals erreichen. Sie konnten nur eine Botschaft hinausschicken, und er war es, der den Kontakt aufnahm. Die einzige Organisation, die der internationale Auftragsmörder zuließ, war seine Armee alter Männer, vom Mittelmeer bis zum Baltikum, verlorene Versager, arme Kriminelle, deren letzte Tage durch die Großzügigkeit des
Killers aufgebessert wurden. Eine Treue bis in den Tod. Wie und wo paßte da ein Mann wie Randolph Gates hinein?
Er paßte nicht hinein, schloß Alex, der mit äußerster Vorstellungskraft ein ehemals bekanntes Territorium zu erforschen suchte. Sei skeptisch in scheinbar sicheren Fällen. Der gefeierte Rechtsanwalt paßte genausowenig zu Carlos wie zu Medusa. Er war eine Abweichung, der Splitter im Auge, ein ansonsten ehrenwerter Mann mit einem einzigen Schwachpunkt, der von zwei völlig verschiedenen Parteien, die beide über außergewöhnliche Hilfsmittel verfügten, aufgedeckt worden war. Es war ein offenes Geheimnis, daß der Schakal seine Leute im französischen Geheimdienst und bei Interpol hatte. Und man brauchte auch nicht besonders hellsichtig zu sein, um anzunehmen, daß Medusa die G-2 der US-Armee infiltrieren konnte. Das war die einzig mögliche Erklärung. Gates war zu umstritten, zu lange zu mächtig. Wenn seine Verwundbarkeit leicht hätte entdeckt werden können, hätte er keine so spektakulären Erfolge feiern können. Nein, es waren Leute wie der Schakal und die Männer von Medusa nötig, um sein Geheimnis auszugraben, ein verheerendes Geheimnis, das ihnen Randolph Gates in die Hände gespielt hatte. Sicher war Carlos derjenige gewesen, der zuerst auf Gates gestoßen war.
Conklin dachte über eine Wahrheit nach, die sich immer wieder bestätigte: Die Welt der korrupten Leute war in Wirklichkeit eine kleine, wenn auch vielschichtige Gemeinde mit geometrischen Beziehungsmustern, wie eine Ansammlung auf den ersten Blick verwirrender Linien, die dann doch alle eine Struktur aufwiesen. Wie konnte es anders sein? Die Bewohner dieser tödlichen Gemeinde hatten Dienste anzubieten, und sie hatten Kunden einer ganz bestimmten Sorte — Desperados, den Abschaum der Menschheit. Ausquetschen, erpressen, killen. Der Schakal und die Leute von Medusa gehörten zum selben brüderlichen Orden. Die Bruderschaft des Was-ich-will-das-krieg-ich.
Der Durchbruch. Aber es war ein Durchbruch, den Jason Borowski nutzen mußte, nicht David Webb — und Webb war immer noch zu sehr Teil von Borowski. Die Schwierigkeit war, daß beide Teile desselben Mannes einige tausend Kilometer von Montserrat entfernt waren, den Koordinaten des Todes, die von Carlos bestimmt worden waren. Montserrat?… Johnny St. Jacques! Der» kleine Bruder«, der sich in einer kleinen Stadt in Nordkanada bewährt hatte, der dem Verständnis und der Begriffswelt seiner Familie, insbesondere seiner geliebten Schwester, entwachsen war, an den David aber glaubte — an den Jason Borowski glaubte, was viel wichtiger war.
Alex blickte zum Telefon hinüber und schnellte aus seinem Stuhl hoch. Er rannte zum Tisch und spulte das Band zurück. Er wollte eine bestimmte Stelle nochmals hören. Vor und zurück, bis er Gates' panische Stimme hörte.
«Guter Gott, ich habe fünfzehntausend bezahlt…«
Nein, nicht das, dachte Conklin. Danach.
«… Ich kann Ihnen die Bankauszüge zeigen…«
Danach.
«… Ich habe einen ehemaligen Richter angeheuert, der Kontakte hat… «
Das ist es. Ein Richter.
«… Sie sind nach Montserrat geflogen…«
Alex öffnete eine Schublade, in der ein Zettel mit allen Nummern lag, die er in den vergangenen drei Tagen angerufen hatte. Er hatte sie griffbereit, weil er annahm, daß er die eine oder andere schnell wieder brauchen könnte. Er wählte die Nummer vom Tranquility Inn. Nach endlosem Läuten hörte er eine schläfrige Stimme.
«Tranquility…«
«Es ist dringend«, unterbrach Conklin.»Ich muß sofort mit John St. Jacques sprechen. Schnell, bitte.«
«Tut mir leid, Sir, Mr. St. Jacques ist nicht hier.«
«Ich muß ihn finden. Ich wiederhole, es ist dringend. Wo ist er?«
«Auf der großen Insel…«
«Montserrat?«
«Ja…«
«Wo?… Mein Name ist Conklin. Er möchte mit mir sprechen — er muß mit mir sprechen. Bitte!«
«Ein starker Wind kam von Basse-Terre auf, deshalb wurden alle Flüge bis morgen eingestellt.«
«Ein was?«
«Ein tropischer Tiefdruck…«
«Oh, ein Sturm.«
«Wir sagen TT, Sir. Mr. St. Jacques hat aber eine Telefonnummer in Plymouth hinterlassen.«
«Wie ist Ihr Name?«unterbrach Alex plötzlich. Der Angestellte antwortete:»Pritchard«:, und Conklin fuhr fort:»Ich werde Ihnen eine sehr heikle Frage stellen, Mr. Pritchard. Es ist wichtig, daß Sie die richtige Antwort haben… wenn sie falsch ist, dann müssen Sie tun, was ich Ihnen sage. Mr. St. Jacques wird alles bestätigen, was ich sage, sobald ich ihn erreiche. Ich kann jedoch jetzt keine Zeit verschwenden. Verstehen Sie mich?«
«Was ist Ihre Frage?«sagte der Angestellte würdevoll.»Ich bin kein Kind, Sir.«
«Tut mir leid, ich wollte Sie nicht…«
«Die Frage, Mr. Conklin. Sie sind in Eile.«
«Ja, natürlich… Die Schwester von Mr. St. Jacques und ihre Kinder, sind sie an einem sicheren Ort? Hat Mr. St. Jacques gewisse Vorsichtsmaßregeln ergriffen?«»Meinen Sie die bewaffneten Wachen rund um die Villa und unsere Leute unten am Strand?«sagte der Angestellte.»Dann lautet die Antwort: Ja.«
«Es ist die richtige Antwort. «Alex atmete tief durch, aber sein Atem ging immer noch unregelmäßig.»Nun, wie ist die Nummer, unter der ich Mr. St. Jacques erreichen kann?«
Der Angestellte gab sie ihm und fügte hinzu:»Viele Telefone sind außer Betrieb, Sir. Es wäre gut, wenn Sie eine Nummer hinterließen. Der Wind ist immer noch stark, aber Mr. St. Jacques wird, wenn es geht, zweifellos beim ersten Licht losfliegen.«
«Gewiß. «Alex rasselte die Nummer seines Appartements in Vienna herunter und ließ sie von dem Mann in Montserrat wiederholen.»So ist es«, sagte Conklin.»Jetzt werde ich Plymouth probieren.«
«Ihr Name wird geschrieben C-o-n-c-h…«
«C-o-n-k«, unterbrach Alex, legte auf und wählte sofort die Nummer in Plymouth, der Hauptstadt von Montserrat. Wieder antwortete eine erschrockene, träge Stimme. Ein kaum verständlicher Gruß.»Wer ist da?«fragte Conklin ungeduldig.
«Wer, zum Teufel, ist dort — wer sind Sie?«antwortete ein erboster Engländer.
«Ich versuche, John St. Jacques zu erreichen. Es ist äußerst dringend, und vom Empfang des Tranquility Inn wurde mir diese Nummer gegeben.«
«Allmächtiger, ihre Telefone sind intakt…?«
«Offensichtlich. Bitte, ist John da?«
«Ja, ja, natürlich. Er ist drüben in der Lobby. Ich hole ihn. Wen soll ich melden?«
«Alex, das reicht.«
«Einfach Alex?«
«Schnell, bitte!«Sekunden später war John zu hören.
«Conklin. Bist du's?«
«Hör zu. Sie wissen, daß Marie und die Kinder nach Montserrat geflogen sind.«
«Wir hörten, daß jemand drüben am Flughafen Fragen über eine Frau mit zwei Kindern gestellt hat.«
«Deshalb hast du sie also aus ihrem Haus in das Hotel umquartiert?«
«Richtig.«
«Wer hat die Fragen gestellt?«
«Wissen wir nicht. Es geschah telefonisch… Ich wollte sie nicht verlassen, nicht einmal für ein paar Stunden, aber ich wurde zum Gouverneur befohlen, und bis sich dieser verfluchte Knabe zeigte, hatte der Sturm schon begonnen.«
«Ich weiß. Ich hab mit dem Empfang gesprochen.«
«Das ist ein Trost. Die Telefone funktionieren noch. Bei diesem Wetter tun sie es gewöhnlich nicht, deshalb sind wir so abhängig vom Gouverneur.«
«Ich hörte, daß du Wachen hast…«
«Da hast du verdammt recht!«sagte St. Jacques.»Das Dumme ist nur, daß ich nicht weiß, wonach ich Ausschau halten soll. Außer nach Booten und Fremden am Strand. Wenn sie nicht stehenbleiben und sich ausreichend identifizieren, lautet mein Befehl zu schießen!«
«Vielleicht kann ich helfen.«
«Na los!«
«Wir haben einen Hinweis, frag nicht, wie, außerirdisch, aber das spielt keine Rolle. Der Mann, der Maries Spuren nach Montserrat verfolgt hat, benutzte einen Richter, der Kontakte hatte, wahrscheinlich zu den Inseln.«
«Einen Richter?«explodierte Johnny.»Mein Gott, er ist dort! Verdammt, er ist dort! Ich kille diesen dreckigen Bastard.«»Stop, Johnny. Faß dich — wer ist dort?«
«Ein Richter, und er bestand darauf, einen anderen Namen zu benutzen! Ich habe mir nichts dabei gedacht — ein paar abgehalfterte alte Männer mit ähnlichen Namen.«
«Alte Männer?… Halt, Johnny, das ist wichtig. Welche alten Männer?«
«Der eine, von dem du sprichst, ist aus Boston.«
«Ja«, bestätigte Conklin betont.
«Der andere ist aus Paris gekommen…«
«Paris? Um Gottes willen! Die alten Männer aus Paris!«
«Was…?«
«Der Schakal! Carlos hat seine alten Männer vor Ort!«
«Nun mach mal langsam, Alex«, sagte St. Jacques und atmete hörbar.»Jetzt werde mal deutlicher.«
«Es gibt keine Zeit zu verlieren, Johnny. Carlos hat eine ganze Armee von alten Männern, die für ihn sterben, für ihn töten. Es werden keine Fremden am Strand sein, sie sind bereits im Hotel! Kannst du zurück auf die Insel kommen?«
«Ja, irgendwie! Ich werde sofort meine Leute drüben anrufen. Diese beiden Dreckskerle werden in die Zisterne geworfen!«
«Beeil dich, John!«
St. Jacques drückte den schmalen Hebel des alten Telefons herunter, ließ los und hörte das Freizeichen. Er wählte die Nummer des Hotels auf Tranquility Island.
«Tut uns leid«, sagte eine Stimme auf Band.»Wegen der Wetterbedingungen sind die angewählten Leitungen nicht in Betrieb. Die Regierung bemüht sich, die Kommunikation wiederherzustellen. Versuchen Sie es später wieder. Guten Tag.«
John St. Jacques warf den Hörer mit solcher Gewalt auf die Gabel, daß er auseinanderbrach.»Ein Boot!«schrie er.»Gebt mir ein Patrouillenboot.«
«Du bist verrückt«, warf der Adjutant des Gouverneurs quer durch den Raum ein.»Bei diesem Wetter?«
«Einen Flitzer, Henry!«sagte der zu allem bereite Bruder, faßte in seinen Gürtel und zog langsam seine Automatic heraus.»Oder ich bin gezwungen, etwas zu tun, woran ich nicht einmal denken möchte. Aber ich brauche ein Boot!«
«Das kann ich einfach nicht glauben, Kumpel.«
«Ich auch nicht, Henry… Aber es ist mir ernst.«
Die Krankenschwester von Jean Pierre Fontaine saß an ihrem Schminktisch vor dem Spiegel und steckte ihr fest geknotetes, blondes Haar unter die schwarze Regenkappe. Sie sah auf ihre Uhr und dachte an den ungewöhnlichen Telefonanruf, den sie vor einigen Stunden aus Argenteuil in Frankreich erhalten hatte, von dem großen Mann, der alle Dinge möglich machte.
«Es gibt da einen amerikanischen Rechtsanwalt, der sich selbst Richter nennt, in eurer Nähe.«
«Eine solche Person kenne ich nicht, Monseigneur.«
«Aber er ist da. Unser Held beschwert sich zu Recht über seine Gegenwart, und ein Anruf in Boston hat mir bestätigt, daß er tatsächlich dort ist.«
«Seine Anwesenheit hier ist also nicht erwünscht?«
«Seine Anwesenheit dort ist für mich abscheulich. Er behauptet, in meiner Schuld zu stehen — eine enorme Schuld, ein Ereignis, das ihn vernichten könnte, aber seine Aktionen sagen mir, daß er undankbar ist, daß er beabsichtigt, seine Schulden zu streichen, indem er mich betrügt, und indem er mich betrügt, betrügt er dich.«
«Er ist tot.«
«Genau. In der Vergangenheit war er mir sehr wertvoll, aber das ist vorbei. Finde ihn, töte ihn. Laß seinen Tod als tragischen Unfall erscheinen… Noch etwas: Da wir uns nicht mehr sprechen werden, bevor du nicht nach Martinique zurückgekehrt bist — sind die Vorbereitungen für deine letzte Tat für mich abgeschlossen?«
«Sind sie, Monseigneur. Die beiden Spritzen wurden von dem Chirurgen im Krankenhaus von Fort-de-France vorbereitet. Er läßt Ihnen seine Ergebenheit übermitteln.«
«Sollte er auch. Er lebt, im Gegensatz zu mehreren seiner Patienten.«
«Ja, sie wissen nichts von seinem neuen Leben in Martinique.«
«Das ist mir bewußt… Verabreiche die Dosen in achtundvierzig Stunden, wenn das Chaos anfängt. Wenn sie erfahren, daß der Held meine Erfindung ist — und dafür werde ich sorgen —, werden sie abwechselnd rot und blaß werden.«
«Alles wird geregelt. Werden Sie bald hier sein?«
«Rechtzeitig zum Totentanz. Ich werde sehr bald abfahren und in Antigua sein, bevor es in Montserrat Mittag ist. Alles läuft planmäßig. Ich werde dasein, um zu sehen, wie Borowski sich vor Angst windet, bevor ich mein Zeichen hinterlasse, eine Kugel durch seine Kehle. Die Amerikaner werden dann wissen, wer gewonnen hat. Adieu.«
Die Krankenschwester senkte vor dem Spiegel ihren Kopf wie eine demütige Bittstellerin, als sie an die mystischen Worte ihres allwissenden Meisters dachte. Es ist bald Zeit, dachte sie, zog die Schublade heraus und holte zwischen ihren Halsketten eine Drahtschlinge mit diamantenbesetzten Griffen heraus, die ihr von ihrem Mentor geschenkt worden war. Es würde ganz einfach sein. Sie hatte leicht herausgefunden, wer der Richter war und wo er wohnte — der alte, schrecklich dünne Mann. Jetzt kam es auf Präzision an. Der» tragische Unfall «würde jedoch nur das Vorspiel für die schrecklichen Dinge sein, die sich in weniger als einer Stunde in Villa zwanzig abspielen würden. Alle Villen auf Tranquility hatten Kerosinlampen für den Fall, daß der Strom ausfiel oder die Generatoren nicht funktionierten. Ein alter Mann, der entweder zur Toilette mußte oder einfach Angst hatte vor einem Sturm, wie er im Moment tobte, konnte sehr wohl versuchen, in Panik die Lampe anzuzünden. Tragisch, wenn er dabei in ausfließendes Kerosin fiel und sein Oberkörper zu schwarzer Kohle verbrannte — ebenso sein Genick, das zuvor garottiert worden war. Tu es, drängte ihre innere Stimme, du mußt gehorchen. Ohne Carlos wärst du eine Leiche in Algerien.
Sie würde es tun — sie würde es jetzt tun.
Das heftige Rauschen des Regens auf dem Dach und an den Fenstern und der pfeifende, heulende Wind draußen wurden von einem grellen Blitz unterbrochen, dem ein ohrenbetäubender Donnerschlag folgte.
Jean Pierre Fontaine weinte leise, als er neben dem Bett seiner Frau kniete, nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt, und seine Tränen fielen auf das kalte Fleisch ihres Armes. Sie war tot, und der Zettel neben ihrer steifen rechten Hand sagte alles: Maintenant nous deux sommes libres, man amour.
Sie beide waren frei. Sie von dem furchtbaren Schmerz, er von dem Preis, den Monseigneur verlangte. Auch wenn sie nie erfahren hatte, welches der Preis für ein paar Jahre Glück gewesen war, hatte sie doch gewußt, daß es zu furchtbar gewesen wäre, ihn zu zahlen. Seit Monaten wußte er, daß seine Frau Pillen besaß, mit denen sie ihr Leben beenden konnte, sollte es unerträglich werden. Er hatte sie oft, manchmal wie ein Besessener, gesucht, hatte sie aber nie finden können. Jetzt wußte er, warum, als er die kleine Schachtel mit ihren Lieblingspastillen entdeckte, harmloses Lakritz, die sie sich vor Jahren oft lachend in den Mund geschoben hatte.
«Du hast Glück, man seher, daß ich nicht auf Kaviar oder teure Drogen versessen bin!«Nein, kein Kaviar, aber Drogen, tödliche Drogen.
Schritte. Die Schwester! Sie durfte seine Frau nicht sehen!
Fontaine erhob sich vom Bett, wischte sich rasch über die
Augen und eilte zur Zimmertür. Er öffnete und war beim Anblick der Frau verblüfft. Sie stand direkt vor ihm, mit erhobenem Arm und wollte eben anklopfen.
«Monsieur!.. Haben Sie mich erschreckt!«
«Ich glaube, wir haben uns gegenseitig erschreckt. «Jean Pierre schlüpfte hinaus und schloß rasch die Tür hinter sich.»Regine ist endlich eingeschlafen«, flüsterte er und legte seinen Zeigefinger an die Lippen.»Dieser furchtbare Sturm hat sie die ganze Nacht wach gehalten.«
«Aber er wurde uns vom Himmel gesandt — für Sie —, nicht wahr? Manchmal denke ich, daß Monseigneur solche Dinge bestellen kann.«
«Dann bezweifle ich, daß sie vom Himmel kommen. Dort liegt nicht die Quelle seines Einflusses.«
«An die Arbeit«, unterbrach die Schwester ihn ziemlich barsch.»Sind Sie bereit?«
«Gleich, in wenigen Minuten«, antwortete Fontaine und lief zum Tisch hinüber, in dessen verschlossenem Schubfach seine Killer-Ausrüstung lag. Er griff in die Tasche und holte den Schlüssel heraus.
«Möchten Sie noch mal die Prozedur mit mir durchgehen?«fragte sie und drehte sich um.
«Meinetwegen, natürlich. In meinem Alter vergißt man leicht die Details.«
«Ja, gut, auch weil es eine kleine Veränderung gibt.«
«Ach ja?«fragte der alte Franzose mit hochgezogenen Brauen.»In meinem Alter sind plötzliche Veränderungen nicht mehr sehr willkommen.«
«Es ist nur eine Frage des Timings, nicht mehr als eine Viertelstunde, vielleicht weniger.«
«Eine Ewigkeit bei diesem Geschäft«, sagte Fontaine, als ein weiterer Donnerschlag, nur Millisekunden vom Blitz getrennt, das Prasseln des Regens auf Scheiben und Dach unterbrach.»Es ist gefährlich genug, draußen zu sein. Der Schlag war gefährlich nahe.«
«Wenn Sie das meinen — stellen Sie sich vor, wie sich die Wachen fühlen mögen.«
«Die kleine Veränderung? Könnten Sie das erklären?«
«Ich gebe Ihnen keine Erklärung, außer daß es ein Befehl aus Argenteuil ist und Sie schuld daran sind.«
«Der Richter!«
«Ziehen Sie Ihre eigenen Schlußfolgerungen.«
«Dann wurde er also nicht geschickt, um…«
«Ich sage nicht mehr. Die Änderung ist folgende. Statt von hier den Weg hochzurennen zu den Wachen vor Villa zwanzig und dringende Hilfe für Ihre Frau zu verlangen, werde ich sagen, daß ich vom Empfang komme, wo ich mich über das Telefon beschweren wollte, und daß ich ein Feuer in der Villa vierzehn gesehen hätte. Dann wird zweifellos ein ziemliches Tohuwabohu entstehen: der Sturm, der Feueralarm, Schreie… Das wird Ihr Signal sein. Nutzen Sie die Konfusion. Sie schlängeln sich durch und erledigen jeden, der sich noch vor der Villa der Frau befindet — achten Sie auf Ihren Schalldämpfer. Dann gehen Sie hinein und machen die Arbeit, zu der Sie sich verpflichtet haben.«
«Ich warte also auf das Feuer, auf das Geschrei der Wachen und auf Ihre Rückkehr zur Nummer elf.«
«Genau. Bleiben Sie unter dem Vordach stehen, bei geschlossener Tür natürlich.«
«Natürlich.«
«Es kann fünf Minuten dauern, vielleicht auch zwanzig.«
«Natürlich… Darf ich fragen, Madame — oder vielleicht Mademoiselle, obwohl ich keinen Grund sehe…«
«Was denn?«
«Sie werden fünf oder zwanzig Minuten brauchen, um was zu tun?«
«Sie sind ein Rindvieh, Alter. Zu tun, was getan werden muß.«
«Natürlich.«
Die Schwester hüllte sich fester in den Regenmantel, zog den Gürtel stramm und verließ die Villa.
«Packen Sie Ihre Ausrüstung zusammen und seien Sie in drei Minuten draußen«, befahl sie.
«Natürlich. «Der Wind riß ihr die Haustür aus der Hand, sie ging hinaus in den strömenden Regen und zog die Tür wieder hinter sich zu. Erstaunt und verwirrt blieb der alte Mann regungslos stehen. Er versuchte einen Sinn in das Unerklärliche zu bringen. Die Dinge ereigneten sich zu schnell für ihn und wurden durch den Tod seiner Frau noch unschärfer. Es blieb keine Zeit zu trauern, keine Zeit zu fühlen… Nur denken, schnell denken mußte er. Eine Enthüllung folgte auf die andere und hinterließ unbeantwortete Fragen, die aber beantwortet werden mußten, damit das Ganze verständlich würde — damit Montserrat einen Sinn machte!
Die Schwester war mehr als nur eine Überbringerin der Befehle aus Argenteuil. Der Engel des Erbarmens war ein Engel des Todes, sie war selbst eine Mörderin. Warum also wurde er Tausende Kilometer weit geschickt, um eine Arbeit zu tun, die ein anderer genausogut tun konnte? Ohne eine so ausgeklügelte
Inszenierung? Ein alter Held Frankreichs, wahrlich… es war alles so überflüssig. Und wo er an sein Alter dachte, da war noch ein anderer alter Mann, der keineswegs ein Killer war. Vielleicht, dachte der falsche Jean Pierre Fontaine, habe ich einen furchtbaren Fehler gemacht. Vielleicht ist der andere nicht gekommen, um mich zu töten, sondern um mich zu warnen!
«Mon Dieu«, flüsterte der Franzose.»Die alten Männer von Paris, die Armee des Schakals! Zu viele Fragen!«Fontaine lief schnell zur Tür des Zimmers, in dem die Schwester untergebracht war, und öffnete sie. Mit einer Geschwindigkeit, die er in lebenslanger Praxis erworben hatte, begann er, den Raum methodisch auseinanderzunehmen — Koffer, Schrank, Kleider, Kissen, Matratze, Sekretär, Toilettentisch, Schreibtisch… der Tisch! Ein verschlossenes Schubfach — ein verschlossenes Schubfach im Nebenzimmer. Die Ausrüstung. Jetzt kam es darauf nicht mehr an! Seine Frau war tot, und es gab zu viele Fragen! Eine schwere Lampe auf dem Tisch mit einem massiven Messingständer, er nahm sie und schleuderte sie gegen das Schubfach. Wieder und wieder und immer wieder, bis das Holz splitterte und das Schloß zerbrach. Er zerrte das Fach auf und starrte gleichermaßen mit Entsetzen und Verstehen auf das, was er sah.
In einer gepolsterten Plastikschachtel lagen zwei Spritzen nebeneinander, deren Ampullen mit einer identischen gelblichen Flüssigkeit gefüllt waren. Die chemische Zusammensetzung brauchte er nicht zu wissen. Es gab zu viele, die er nicht kannte, die aber effektiv waren. Flüssiger Tod in die Venen.
Ihm mußte nicht gesagt werden, für wen sie vorgesehen waren. Cöte a cote dans le lit. Zwei Körper nebeneinander im Bett. Er und seine Frau in endgültiger Hingabe vereint. Wie sorgfältig hatte Monseigneur alles ausgeklügelt! Er selbst tot! Ein toter alter Mann aus der Armee der alten Männer des Schakals, der alle Sicherheitsvorkehrungen überlistet und die liebsten Angehörigen von Carlos' letztem Feind, Jason
Borowski, getötet und verstümmelt hatte. Und hinter all diesen brillanten Manipulationen stand natürlich der Schakal. Persönlich! Ce n'est le contrat! Ich, ja, aber nicht meine Frau! Das hast du mir versprochen!
Die Schwester. Kein Engel des Erbarmens, sondern des Todes! Der Mann, der im Tranquility Inn als Jean Pierre Fontaine bekannt war, ging, so schnell er konnte, in das andere Zimmer. Zu seiner Ausrüstung.
Das gewaltige silberne Rennboot mit seinen beiden enormen Maschinen krachte durch die Brecher und war ebenso häufig über den Wellen wie mittendrin. Auf der kurzen niedrigen Brücke manövrierte John St. Jacques das Patrouillenboot der Drogenpolizei durch die gefährlichen Riffe, die er aus langer Erfahrung kannte, wobei ihm der starke Suchscheinwerfer half, der die turbulenten Wasser bis zu dreißig Meter vor dem Bug erhellte. Er schrie pausenlos in sein Funkgerät, das Mikro vor seinem völlig nassen Gesicht; gegen alle Vernunft hoffte er, jemanden im Tranquility Inn wach zu bekommen. Er war noch vier Kilometer von der Insel entfernt. Diese buschbestandene, vulkanische Erhebung über dem Wasser war seine Landmarke. Die Insel Tranquility lag, in Kilometern gerechnet, viel näher bei Plymouth als am Flughafen Blackburne, und wenn man die Untiefen kannte, war sie fast genauso schnell mit einem Patrouillenboot zu erreichen wie mit einem Wasserflugzeug, das östlich von Blackburne einen Bogen fliegen mußte, um die vorherrschenden Westwinde ausnutzen und auf dem Wasser landen zu können. Johnny wußte nicht, warum er sich von diesen Berechnungen ablenken ließ. Er wußte nur, daß er sich irgendwie besser fühlte, wenn er sein möglichstes gab. Verdammt! Warum immer nur sein Möglichstes, warum konnte es nie das Beste sein? Er durfte nichts mehr falsch machen, nicht jetzt, nicht heute nacht! Großer Gott, er verdankte Marie und David alles! Vielleicht dem verrückten Bastard von einem Schwager sogar mehr als seiner eigenen Schwester. David, der wilde, verrückte David, ein Mann, bei dem er sich manchmal fragte, ob Marie sich je sicher war, daß es ihn gab.
«Du hältst dich raus, kleiner Bruder, ich mache das.«
«Kannst du nicht, David. Ich habe es getan. Ich habe sie getötet!«
«Ich sagte: Halt dich da raus.«
«Ich bat dich um Hilfe, nicht, meinen Platz einzunehmen!«
«Aber versteh doch, ich bin du. Ich hätte dasselbe getan, und deshalb bin ich — in meinen Augen — du.«
«Das ist verrückt!«
«Das gehört dazu. Eines Tages werde ich dir zeigen, wie man sauber tötet, im Dunklen. Unterdessen hör besser auf die Rechtsanwälte.«
«Und wenn sie verlieren?«
«Ich bring dich da raus. Ich bring dich weg.«
«Wie?«
«Ich werde wieder töten.«
«Ich kann dir nicht glauben! Ein Lehrer, ein Professor ich glaube dir nicht, ich will dir nicht glauben. Du bist der Mann meiner Schwester.«
«Dann glaube mir eben nicht, Johnny. Und vergiß alles, was ich gesagt habe, und sage deiner Schwester nie etwas darüber.«
«Das ist jene andere Person in dir, nicht wahr?«
«Marie liebt dich sehr.«
«Das ist keine Antwort! Hier, jetzt, bist du Borowski, nicht wahr? Jason Borowski!«
«Wir werden niemals, unter keinen Umständen, über diese Unterhaltung sprechen, Johnny. Hast du mich verstanden?«
Nein, er hatte niemals verstanden, dachte St. Jacques, als Wirbelwinde und Blitze das Boot einhüllten. Selbst als Marie und David an sein schnell sich auflösendes Ego appellierten und
ihm vorschlugen, daß er auf den Inseln ein neues Leben beginnen könne. Du mußt Geld anlegen, hatten sie gesagt. Bau uns ein Haus und sieh zu, wohin du von dort aus gehen willst. In gewissen Grenzen werden wir dich unterstützen. Warum sollte er das tun? Warum tat er es?
Johnny St. Jacques hatte es erst an dem Morgen verstanden, als er das Telefon am Swimmingpool abgehoben hatte und ihm gesagt wurde, daß jemand am Flughafen Fragen über eine Frau mit zwei Kindern gestellt hatte.
Eines Tages werde ich dir zeigen, wie man sauber tötet, im Dunklen. Jason Borowski.
Lichter! Er sah die Lichter am Strand von Tranquility. Er war nur noch gut eine Seemeile von der Küste entfernt!
Es goß in Strömen, und die Windstöße brachten den alten Mann fast aus dem Gleichgewicht, als er den Weg zur Villa vierzehn entlanglief. Er beugte sich den tobenden Elementen entgegen, kniff die Augen zusammen und wischte sich mit der Linken übers Gesicht, während er mit der Rechten die Waffe hielt, eine durch einen zylinderförmigen Schalldämpfer verlängerte Pistole. Er hielt sie schützend auf dem Rücken, wie er es vor vielen Jahren gemacht hatte, als er die Eisenbahnschienen entlanggerannt war, Dynamit-Stangen in der einen Hand und eine deutsche Luger in der anderen, bereit, beides fallen zu lassen, falls Nazi-Patrouillen auftauchen sollten.
Er hatte lang genug vor anderen gebuckelt! Seine Frau war tot, und jetzt würde er sein eigener Herr sein. Jetzt gab es nur noch seine eigenen Entscheidungen, seine eigenen Gefühle, seinen eigenen ganz privaten Sinn für das, was Recht und was Unrecht war… Und der Schakal war im Unrecht! Der Apostel von Carlos konnte das Töten der Frau verstehen, das war eine alte Rechnung, das konnte er unter Umständen noch verstehen. Aber nicht die Kinder. Und dann die Verstümmelungen. Solche Handlungen waren gegen Gott, und er und seine Frau würden bald vor Seinem Angesicht stehen. Und dann wird es ein paar mildernde Umstände geben. Den Engel des Todes stoppen! Was hatte sie vor? Was bedeutete das Feuer, von dem sie gesprochen hatte?… Dann sah er es — eine gewaltige Stichflamme aus Villa vierzehn. Aus einem Fenster! Dem Fenster, das zum Schlafzimmer der luxuriösen Villa gehören mußte.
Fontaine erreichte den Weg, der zur Eingangstür führte. Ein ungeheurer Blitz schlug so nahe ein, daß die Erde unter ihm bebte. Er fiel zu Boden, rappelte sich wieder hoch und kroch auf den Knien zum Eingang, der durch ein flackerndes Licht erhellt wurde. Er kam auf die Füße. Aber wie er auch drehte, zog und drückte, das Schloß ging nicht auf. Er griff nach der Pistole, drückte zweimal ab und schoß das Schloß weg. Dann ging er hinein.
Dort. Die Schreie kamen aus dem Schlafzimmer. Der alte Franzose eilte halb taumelnd vorwärts, die Waffe in der rechten Hand schwenkend. Mit all seiner Kraft stieß er die Tür auf und sah eine Szene vor sich, die, so wußte er, nur eine Ausgeburt der Hölle sein konnte.
Die Schwester, den Kopf des alten Richters in einer Metall schlinge, versuchte mit aller Gewalt ihr Opfer in das lodernde Kerosinfeuer auf dem Boden zu drücken.
«Arretez!« schrie der alte Franzose. »Assez, maintenant!«
Durch die auflodernden, sich ausbreitenden Flammen krachten Schüsse, und Körper polterten zu Boden.
Die Lichter der Bucht von Tranquility kamen näher. John St. Jacques brüllte ins Mikrofon:»Ich bin es! Es ist St. Jacques, der kommt! Nicht schießen!«
Aber das schlanke, silberne Patrouillenboot wurde von Staccato-Gewehrfeuer aus automatischen Waffen begrüßt. St. Jacques warf sich auf Deck und schrie weiter.»Ich komme rein
— ich lande. Hört mit dem verdammten Feuer auf!«
«Bist du es, John?«kam eine panische Stimme über Funk.
«Willst du nächste Woche auch noch Lohn bekommen?«
«Na klar, Mister!«Die Strandlautsprecher bellten durch den Sturm und den Donner von Basse-Terre her.»Alle Leute unten am Strand, aufhören mit dem Schießen! Das Boot ist okay! Es ist unser Boß, Mr. St. Jacques!«
Das Patrouillenboot schoß aus dem Wasser und auf den weißen Sand. Die Maschinen heulten auf, der Propeller grub sich ein, und der spitze Bug zerbrach durch den Aufprall. St. Jacques sprang aus seiner Schutzstellung und hechtete über Bord.
«Villa zwanzig!«brüllte er und rannte durch den Wolkenbruch zu den steinernen Stufen, die zum Weg hochführten.»Alle Leute, dorthin!«Als er die harten, regenfeuchten Treppen hinauf jagte, schnappte er plötzlich nach Luft. Gewehrschüsse! Einer und noch einer. Auf der Ostseite! Seine Beine sprangen noch schneller, nahmen zwei, drei Stufen auf einmal. Er erreichte den Weg und rannte wie ein Besessener zur Villa zwanzig, während er sich in wilder Konfusion umschaute. Leute — Männer und Frauen von seinem Stab — drängten sich um den Eingang zur Villa vierzehn!.. Wer war dort?… Mein Gott, der Richter!
Seine Lungen drohten zu bersten, jeder Muskel, jede Sehne zum Zerreißen gespannt, so erreichte er das Haus seiner Schwester. Er brach durch das Tor, rannte zur Eingangstür, warf sich dagegen und flog krachend nach drinnen. Zuerst traten ihm die Augen vor Schreck aus dem Kopf, dann fühlte er einen unsagbaren Schmerz, und er sank auf die Knie, schreiend. Auf der weißen Wand sah er mit furchtbarer Klarheit in dunkelroter Farbe die Worte:
Jason Borowski, Bruder des Schakals.