Zweimal schon war Borowski an der dunklen, ruhigen Häuserzeile am Boulevard Lefebvre in der dichtbebauten Ödnis des fünfzehnten Arrondissements vorbeigegangen. Er machte nochmals kehrt bis zur Rue d'Alesia und fand ein Straßencafe. Die Tische draußen, mit Kerzen, die unter Glas flackerten, waren in der Hauptsache von gestikulierenden und diskutierenden Studenten von der nahe gelegenen Sorbonne und dem Montparnasse besetzt. Es ging auf zehn Uhr zu, und die Kellner mit ihren Schürzen wurden langsam ungeduldig. Jason wollte eigentlich nur einen starken Espresso, aber der finstere Blick des sich ihm nähernden garqon überzeugte ihn, daß es besser war, auch noch um einen teuren Cognac zu bitten.
Als der Kellner wieder hineingegangen war, zog Jason ein kleines Notizbuch und einen Kugelschreiber heraus, schloß seine Augen für einen Augenblick, öffnete sie wieder und begann eine Skizze von der Häuserzeile anzufertigen. Da waren drei Blocks von jeweils zwei miteinander verbundenen Häusern, die durch zwei schmalen Gassen voneinander getrennt wurden. Jeder der Doppelkomplexe war drei Stockwerke hoch, die Vordereingänge über steile Backsteintreppen zu erreichen, und zu Beginn und am Ende der Reihe lagen freie Grundstücke voller Schutt, den Überresten von abgerissenen Häusern. Das Telefon stand im letzten Block auf der rechten Seite, und es bedurfte keiner besonderen Vorstellungsgabe, um zu wissen, daß Carlos das ganze Haus, wenn nicht die ganze Reihe bewohnte. Sein Pariser Kommandoposten mußte eine Festung sein, mit allen erdenklichen menschlichen und elektronischen Sicherheitsanlagen — Ergebenheit und High-Tech. Und das scheinbar isolierte, aber keineswegs verlassene Viertel des äußeren fünfzehnten Arrondissements diente seinen Zwecken weit besser als jeder noch so betriebsame Teil der Stadt.
Borowski hatte für seinen ersten Erkundungsgang einem betrunkenen Tramp Geld gegeben, um mit ihm an den Häusern vorbeizugehen, wobei er selbst an seiner Seite heftig schwankte. Für seine zweite Besichtigung, ohne zu hinken oder zu stolpern, hatte er eine Hure mittleren Alters zur Tarnung benutzt. Er kannte jetzt das Gelände, und das beruhigte ihn: Das hier würde der Anfang vom Ende sein. Das schwor er sich.
Der Kellner kam mit dem Espresso und dem Cognac, und erst als Jason eine Hundert-Francs-Note auf den Tisch legte, begleitet von einem Winken der Hand, veränderte sich die feindliche Haltung des Mannes in eine neutralere Richtung.
«Mera.«
«Gibt es hier eine Telefonzelle in der Nähe?«fragte Borowski und legte noch zehn Francs dazu.
«Die Straße hinunter, fünfzig, sechzig Meter«, antwortete der Kellner mit den Augen auf dem Geld.
«Näher nicht?«Jason nahm noch eine Zwanzig-Francs-Note heraus.»Nur ein Ortsgespräch.«
«Kommen Sie mit mir«, sagte der Mann mit der Schürze, sammelte schnell das Geld ein und führte Borowski ins Cafe zur Kassiererin, die am anderen Ende des Lokals auf einem kleinen Podest saß. Die hagere Frau mit dem blassen Gesicht schaute gelangweilt. Sie nahm offenbar an, daß Borowski sich beschweren wollte.
«Laß ihn mal dein Telefon benutzen«, sagte der Kellner.
«Warum?«fauchte die alte Vettel.»Damit er in China anrufen kann?«
«Ein Ortsgespräch. Er bezahlt.«
Jason hielt ihr zehn Francs hin, wobei seine unschuldigen Augen die argwöhnische Frau offen anblickten.
«Nehmen Sie«, sagte sie und holte das Telefon unter der Kasse hervor. Sie nahm das Geld.»Es hat eine
Verlängerungsschnur, Sie können bis rüber zur Wand gehen. Männer! Geld und Ficken, das ist alles, woran ihr denkt!«
Er rief das Pont-Royal an und bat um seinen Apparat. Er nahm an, Bernardine würde beim ersten oder zweiten Läuten den Hörer abnehmen. Beim vierten Klingeln war er beunruhigt, beim achten zutiefst verwirrt. Bernardine war weg! Hatte Santos…? Nein, der Veteran vom Deuxieme war bewaffnet und wußte, wie er seine» Abschreckung «einzusetzen hatte. Bernardine hatte das Zimmer aus freien Stücken verlassen! Warum?
Es kann etliches bedeuten, dachte Borowski und gab das Telefon zurück. Dann ging er wieder zu seinem Tisch. Vielleicht Nachricht von Marie. Das mußte es sein, Jason war sich sicher… Doch jetzt mußte er sich auf etwas anderes konzentrieren, andere Erwägungen anstellen, die dringendsten in seinem ganzen Leben. Er wandte sich wieder seinem starken Kaffee und seinem Notizbuch zu; jedes Detail mußte stimmen.
Eine Stunde später verließ er das Cafe und die Rue d'Alesia, wandte sich nach rechts und lief langsam, wie ein viel älterer Mann gehen würde, in Richtung Boulevard Lefebvre. Je näher er der Ecke kam, um so mehr wurde er sich der auf- und abschwellenden, ziellosen Klänge bewußt, die aus verschiedenen Richtungen herüberschallten. Sirenen! Die Zwei-Ton-Sienen der Pariser Polizei. Was ist geschehen? Was ist los? Jason gab seine Gangart auf und rannte zur Ecke des Gebäudes gegenüber vom Boulevard Lefebvre und der Reihe der alten Steinhäuser. Was hatte das alles zu bedeuten. Wut und Erstaunen erfüllten ihn.
Fünf Polizeiautos trafen sich genau vor der Häuserreihe und kamen nacheinander mit quietschenden Reifen zum Stehen. Dann erschien ein großes, schwarzes Polizeifahrzeug, machte einen Schwenk und stand den beiden Gebäudeeingängen genau gegenüber. Suchlichter wurden angeschaltet, eine Einheit schwarzuniformierter Männer mit Automatic-Waffen sprang auf die Straße und nahm eine geduckte Angriffsstellung ein, nur teilweise von Polizeiwagen verborgen — ein Sturmangriff stand bevor!
Idioten. Verdammte Idioten! Carlos so gegenüberzutreten bedeutete, ihn zu verlieren! Töten war sein Beruf, Entkommen seine Leidenschaft. Vor dreizehn Jahren hatte Borowski erfahren müssen, daß der Schlupfwinkel von Carlos im hügeligen Vitry-sur-Seine außerhalb von Paris mehr falsche Wände und versteckte Treppen besaß als das Loire-Schloß eines Edelmannes zur Zeit von Ludwig XIV. Und bei drei scheinbar getrennten Gebäuden auf dem Boulevard Lefebvre konnte man sich nur zu gut vorstellen, daß es reichlich versteckte unterirdische Tunnel gab, die sie miteinander verbanden und ausgeklügelte Fluchtwege boten.
Wer hatte das nur veranlaßt? Hatten das Deuxieme oder Peter Hollands Pariser Büro der CIA sein Telefon im Pont-Royal angezapft? Doch es war beinahe unmöglich, kurzfristig ein Telefon in einem relativ kleinen Hotel anzuzapfen, ohne entdeckt zu werden. Santos? Wanzen, die vom Zimmermädchen oder einem Kellner im Zimmer angebracht worden waren? Unwahrscheinlich. Santos würde den Schakal nicht bloßstellen. Wer? Wie? Die Fragen brannten ihm auf den Lippen, als er mit Schrecken und Entsetzen die Szene beobachtete, die sich vor ihm auf dem Boulevard Lefebvre abspielte.
«Achtung, hier spricht die Polizei. Alle Bewohner haben das Gebäude zu räumen. «Ein metallisches Echo klang die Straße hinunter.»Sie haben eine Minute Zeit, bevor wir zu aggressiven Maßnahmen greifen.«
Was für aggressive Maßnahmen? schrie es in Borowski. Ihr habt ihn verloren. Ich habe ihn verloren. Wahnsinn! Wer? Warum?
Oben an der Treppe auf der linken Seite des Gebäudes ging eine Tür auf. Ein verschüchterter Mann, klein, beleibt, in Unterhemd und Hosen, die von Hosenträgern gehalten wurden, kam vorsichtig in das Flutlicht heraus, schützte seine Augen mit dem Unterarm vor dem Gesicht.»Was ist los, Messieurs?«schrie er mit zitternder Stimme.»Ich bin nur ein Bäcker, ein guter Bäcker, und ich weiß nichts über diese Straße, als daß die Mieten hier günstig sind! Ist das ein Verbrechen?«
«Wir sind nicht Ihretwegen hier, Monsieur«, fuhr die Lautsprecherstimme fort.
«Nicht meinetwegen, sagen Sie? Sie kommen hier an wie eine Armee, erschrecken meine Frau und die Kinder zu Tode, und dann sagen Sie, Sie kommen nicht wegen mir?«
Beeil dich! dachte Jason. Um Himmels willen, beeil dich. Jede Sekunde ist eine Minute Fluchtzeit, eine Stunde für den Schakal!
Oben auf der Treppe auf der linken Seite des Gebäudes öffnete sich eine Tür, und eine Nonne erschien im wallenden schwarzen Gewand ihres Ordens. Sie stand trotzig im Türrahmen und zeigte keinerlei Furcht. Mit beinahe befehlender Stimme rief sie:»Wie können Sie es wagen, sich hier zu dieser Stunde so aufzuführen? Beten Sie lieber um Vergebung für Ihre Sünden, als jene zu unterbrechen, die ihre gerade im Gebet an Gott richten.«
«Hübsch gesagt, Schwester«, tönte es unbeeindruckt über den Lautsprecher.»Aber wir haben andere Informationen, und mit allem Respekt bestehen wird darauf, Ihr Haus zu durchsuchen, notfalls mit Gewalt.«
«Dies ist ein geheiligter Ort Christus geweihter Frauen!«rief die Nonne.
«Wir respektieren Sie, Schwester, aber wir werden dennoch hineinkommen. Wir haben keine Wahl.«
Ihr verschwendet Zeit! schrie Borowski für sich. Er entkommt!
«Dann mögen eure Seelen verdammt sein… Kommt und entweiht diesen heiligen Boden!«
«Wirklich, Schwester?«fragte eine andere Stimme ebenfalls über Lautsprecher.»Ans Werk, Messieurs. Unter der Kutte trägt sie wahrscheinlich Wäsche, die eher zum Faubourg gehört.«
Er kannte diese Stimme! Es war Bernardine! Was war geschehen? War Bernardine nicht auf seiner Seite? War er ein Verräter? Wenn das stimmte, dann würde es noch in dieser Nacht einen Toten geben!
Die schwarzuniformierte Antiterroreinheit rannte mit ihren Automatic-Waffen im Anschlag zu den beiden Treppen, während Gendarmen den Boulevard im Norden und Süden ab sperrten. Die rot-blauen Lichter der Polizei wagen, die unaufhörlich blinkten, waren eine Warnung an alle außerhalb des Gebietes: Wegbleiben!
«Kann ich wieder hinein?«rief der Bäcker. Niemand antwortete. Der dicke Mann machte kehrt und hielt sich dabei an seinen Hosenträgern fest. Ein Beamter in Zivil, offenbar der Leiter des Sturmangriffs, gesellte sich zu seiner Truppe an Fuß der Treppe. Mit einem Kopfnicken stürmten er und seine Leute die steilen Stufen hinauf durch die Tür, die von der trotzigen Nonne aufgehalten wurde.
Jason blieb an seinem Platz an der Ecke des Gebäudes, den Körper an die Wand gepreßt. Ungläubig und gebannt zugleich beobachtete er die unverständliche Szene, die sich vor ihm abspielte. Stimmte es wirklich? War der Mann, dem Alex Conklin und er am meisten vertraut hatten, in Wirklichkeit nur ein weiteres Paar Augen und Ohren des Schakals? Gott, er wollte es nicht glauben!
Zwölf Minuten vergingen, und die schwarze Truppe tauchte mitsamt ihrem Leiter wieder aus dem Haus auf, wobei mehrere Mitglieder sich über die Hand der Äbtissin beugten und sie küßten. Da begriff Borowski, daß Conklin und er sich nicht getäuscht hatten.
«Bernardine!«schrie der Beamte und näherte sich dem ersten Polizeiwagen.»Du bist erledigt! Out! Du wirst bei uns nicht mal mehr die Toiletten putzen dürfen. Das war's, ein für allemal. Für Leute wie dich gehört die Guillotine neu erfunden… Ein internationaler Mörder am Boulevard Lefebvre! Ein Freund des Büros! Ein Agent, den wir schützen müssen!.. Ein verdammtes Kloster, du elender Hurensohn! Scheiße! Raus aus meinem Wagen, raus, bevor sich hier aus Versehen ein Schuß löst!«
Bernardine kroch aus dem Einsatzwagen. Seine alten, schwankenden Beine konnten kaum das Gleichgewicht halten. Jason wartete, obwohl er zu ihm hinwollte, doch er wußte, daß er warten mußte. Die Polizeiautos und der Mannschaftswagen rasten davon. Immer noch mußte Borowski warten, während seine Augen sowohl Bernardine als auch den Vordereingang zum Haus des Schakals beobachteten. Es war das Haus des Schakals', die Nonne bewies es! Carlos konnte niemals von seinem verlorenen Glauben lassen.
Bernardine stolperte in den Schatten eines lange aufgegebenen Ladens gegenüber von Carlos' Stützpunkt. Jason verließ seine Ecke, lief die Straße hinunter und packte den Veteran des Deuxieme, der dort schwer atmend gegen das Fenster gelehnt stand.
«Um Gottes willen, was ist geschehen?«fragte Borowski und stützte Bernardine an den Schultern.
«Ruhig, mon ami«, sagte Bernardine halb erstickt.»Das Schwein eben neben mir im Wagen — ein Politiker zweifelsohne, der ein Resultat sehen wollte — hat mir einen üblen Schlag versetzt, bevor er mich aus dem Wagen warf… Ich hab ja gesagt, ich kenne all die neuen Leute nicht mehr, die heute mit dem Büro zu tun haben. Ihr habt dieselben Probleme in Amerika. Also keine Lektion, bitte.«»Das wäre das letzte, was ich tun wollte… Es ist das Haus, Bernardine. Genau hier, genau uns gegenüber!«
«Und eine Falle.«
«Was?«
«Alex und ich haben es herausgefunden. Mit der Telefonnummer stimmt was nicht. Ich nehme an, Sie haben nicht mehr mit Carlos telefoniert.«
«Nein. Ich hatte die Adresse, und ich wollte ihn zur Strecke bringen. Was ist der Unterschied? Das da ist das Haus!«
«Nein, nein. Das ist der Ort, wo ein Mr. Simon hingehen sollte, und dann wäre er zu einem weiteren Rendezvous gebracht worden. Aber wäre es nicht der richtige Mr. Simon gewesen, sondern jemand anders, dann wäre er erschossen worden — baff! — , eine weitere Leiche auf der Suche nach dem Schakal.«
«Falsch!«bestand Jason, schüttelte den Kopf und sagte ganz leise:»Es mag ein Umweg sein, aber Carlos ist noch am Drücker. Er wird es nicht zulassen, daß mich sonst jemand erwischt.«
«Genau wie Jason Borowski den Schakal niemand anderem überlassen wird.«
«Ja. Er ist so weit gegangen, wie es für ihn möglich war. Der einzige Weg, auf dem er noch weiterkommt, ist der, der auf mein Territorium führt — auf David Webbs Territorium —, um Jason Borowski zu eliminieren.«
«Webb? David Webb? Wer in Gottes Namen ist das?«
«Ich«, antwortete Borowski mit einem verlorenen Lächeln und lehnte sich gegen das Fenster neben Bernardine.»So ein Quatsch, wie?«
«Quatsch?«rief der ehemalige Agent des Deuxieme.»Es ist völlig verrückt! Wahnsinnig, unglaublich!«
«Aber es ist so.«»Ein Familienvater mit Kindern macht diese Arbeit?«
«Alex hat Ihnen nichts erzählt?«
«Wenn er es getan hätte, hätte ich es nicht geglaubt, für eine Tarnung gehalten… Sie haben wirklich eine Familie?«
«Zu der ich so schnell wie möglich zurückwill. Es sind die einzigen Menschen auf Erden, die ich wirklich liebe.«
«Aber Sie sind Jason Borowski, das Killer-Chamäleon!
Die abgebrühtesten Elemente der Unterwelt zittern vor Ihrem Namen! Borowski, nur vom Schakal übertroffen…«
«Nein! Er ist kein Problem für mich! Ich greife ihn mir! Ich töte ihn!«
«Schon gut, schon gut, mon ami«, sagte Bernardine ruhig und begütigend. Er starrte den Mann an, den er nicht verstehen konnte.»Was soll ich tun?«
Jason Borowski drehte sich um, und gegen die Scheibe gestützt, atmete er einige Augenblicke lang tief durch. Aus dem Nebel der Unentschlossenheit bildete sich eine Strategie heraus. Er schnellte herum und studierte die Gebäude auf der anderen Seite der dunklen Straße.»Die Polizei ist weg«, sagte er ruhig.
«Gut bemerkt.«
«Haben Sie auch bemerkt, daß niemand aus den beiden anderen Häusern herausgekommen ist? Obwohl in einer ganzen Anzahl von Fenstern Licht brennt?«
Bernardine hob die Augenbrauen, plötzlich konzentriert.»Aber es gab Gesichter an den Fenstern, mehrere Gesichter, ich habe sie gesehen.«
«Dennoch ist niemand herausgekommen.«
«Sehr verständlich. Die Polizei… Männer mit Waffen, die herumrennen. Am besten, sich zu verbarrikadieren. Nicht?«
«Selbst nachdem die Polizei und die Waffen und Wagen weg sind? Sie setzen sich alle ganz einfach wieder vor ihren
Fernseher, als wäre nichts passiert? Niemand kommt heraus, um sich mit seinen Nachbarn zu besprechen? Das kann nicht sein, Francois. Das ist gesteuert worden.«
«Und wie?«
«Ein Mann kommt heraus und brüllt in das Flutlicht. Die Aufmerksamkeit wird auf ihn gelenkt, und wertvolle Sekunden vergehen. Dann erscheint eine Nonne auf der anderen Seite, gehüllt in heilige Entrüstung — noch mehr Zeit geht verloren, mehr Zeit für Carlos. Der Sturm findet statt, und das Deuxieme hat null in der Hand… Und dann ist alles vorbei, alles wieder normal… Das war ein Job nach einem genau festgelegten Plan. Kein Grund für aufgeregte Gespräche, kein Versammeln in der Straße, nicht einmal eine gemeinsame Empörung im nachhinein. Einfach Leute drinnen, ganz ruhig, die ihre Erfahrungen austauschen. Was kann das heißen?«
«Eine von Profis durchdachte Strategie«, sagte der alte Agent.
«Das ist es, was auch ich denke, und Carlos wird seinen Laden hier dichtmachen, und er wird es schnell tun. Er hat keine andere Wahl. Irgend jemand in seiner Prätorianergarde hat den Ort seines Pariser Hauptquartiers verraten, und Sie können Ihre Rente verwetten — wenn Sie jetzt noch eine bekommen —, daß er die Wände hochgehen und mit allen Mitteln versuchen wird herausfinden, wer ihn betrogen hat…«
«Zurück!«schrie Bernardine und schnappte Jason an seiner schwarzen Jacke und stieß ihn in die dunkelste Ecke des Ladeneingangs.»Aus der Sicht! Flach auf den Boden!«
Beide Männer warfen sich auf den bröckligen Zement. Borowskis Gesicht lag an der niedrigen Mauer unter der Schaufensterscheibe, und er verrenkte den Kopf, um auf die Straße zu schauen. Ein zweiter dunkler Mannschaftswagen erschien von rechts, aber es war kein Polizeiwagen. Er war glänzender, kleiner, etwas breiter, mit geringerer Bodenfreiheit und mit stärkerem Motor. Nur etwas hatte er mit dem
Polizeifahrzeug gemein, das war das Suchlicht… Nein, nicht eins, sondern zwei Suchlichter, eins auf jeder Seite der Windschutzscheibe. Beide leuchteten hin und her, um die Flanken des Fahrzeugs zu kontrollieren. Jason langte nach der Waffe in seinem Gürtel — die Pistole, die er von Bernardine geliehen hatte —, als er merkte, daß sein Genosse ebenfalls bereits seine Automatic gezogen hatte. Der Strahl des Suchlichts glitt über ihre Körper hinweg.
«Einen Moment lang habe ich schon geglaubt, mein ehemaliger Kollege sei zurückgekehrt, um mich tatsächlich ins Jenseits zu befördern«, flüsterte Francois.»Mein Gott, sehen Sie nur.«
Das Fahrzeug fuhr an den ersten beiden Gebäuden vorbei, machte dann plötzlich einen Bogen und hielt vor dem letzten Haus, etwa siebzig Meter von ihrem Versteck entfernt. Es war das Haus, das am weitesten vom Telefon des Schakals entfernt lag. Kaum war das Fahrzeug zum Stehen gekommen, öffnete sich die hintere Tür, und vier Männer sprangen mit automatischen Feuerwaffen in den Händen heraus. Zwei rannten jeweils zu den Ecken des Hauses, einer zum Eingang, und der vierte stand drohend mit seiner schußbereiten MAC-10 an der geöffneten Wagentür. Ein gelber Lichtschein wurde oben auf der Treppe sichtbar, die Tür ging auf, und ein Mann in einem schwarzen Regenmantel trat heraus. Er sah kurz den Boulevard Lefebvre hinauf und hinunter.
«Ist er das?«flüsterte Frangois.
«Nein, es sei denn, er trägt hohe Schuhe und eine Perücke«, antwortete Jason und griff in seine Jackentasche.»Ich erkenne ihn, sobald ich ihn sehe — weil ich ihn jeden Tag in meinem Leben sehe!«Borowski nahm eine der Granaten heraus, die er von Bernardine hatte. Er überprüfte den Abzug, legte seine Pistole hin, packte mit der einen Hand das pockennarbige Stahloval und zog mit der anderen am Griff, um sicherzugehen, daß sie nicht korrodiert war.
«Was, zum Teufel, soll das werden?«fragte der alte Veteran vom Deuxieme.
«Der Mann dort oben ist ein Lockvogel«, antwortete Jason, und seine Stimme wurde kalt und monoton.»In wenigen Sekunden wird ein anderer seinen Platz einnehmen, die Stufen hinunterrennen und in den Wagen springen, entweder auf den Vordersitz oder durch die Hintertür — ich hoffe auf letzteres, obwohl es keinen großen Unterschied macht.«
«Sie sind verrückt! Man wird Sie töten! Was nützt Ihrer Familie eine Leiche?«
«Denken Sie nach, Francois. Die Wächter werden zurück nach hinten rennen, weil vorne kein Platz ist. Und es ist ein großer Unterschied, ob man in einen Lastwagen hineinklettert oder herausspringt. Das geht viel langsamer. Und wenn der letzte Mann drinnen ist und die Tür hinter sich schließt, wird meine gezündete Granate im Wagen liegen… Ich habe überhaupt nicht die Absicht, eine Leiche zu werden. Sie bleiben hier.«
Bevor Bernardine irgendwelche Einwände machen konnte, kroch Delta one auf den dunklen Boulevard; die grellen Lichtkegel der Suchscheinwerfer beleuchteten Seiten des Fahrzeugs und erhöhten so Borowskis Schutz. Das grelle weiße Licht um den Wagen herum machte die alles umgebende Finsternis noch dunkler. Das einzig wirkliche Risiko bildete die Wache an der rückwärtigen Tür. Indem er die Schatten der aufeinanderfolgenden Geschäfte nutzte, als würde er im Mekongdelta durch hohes Gras zu einem in Flutlicht getauchten Gefangenenlager robben, kroch Jason bei jedem abschweifenden Blick der Wache langsam weiter, wobei er gleichzeitig auch den Mann oben an der Tür auf der Treppe im Blick behielt.
Plötzlich tauchte eine weitere Figur auf, eine Frau, die einen kleinen Koffer in der einen Hand hielt, eine große Geldbörse in der anderen. Sie sprach mit dem Mann in dem schwarzen
Regenmantel und lenkte so die Aufmerksamkeit der Wachen auf sich. Borowski schob sich auf Ellbogen und Knien weiter über das Pflaster vor, bis er jenen dem Wagen am nächsten gelegenen Punkt erreichte, der ihm noch ausreichend Schutz bot. Seine Position konnte unter den gegebenen Umständen nicht günstiger sein. Jetzt kam alles auf sein Tuning an, auf Präzision und auf die Erfahrungen, die er in den Zeiten hatte sammeln können, die zum Teil nur bruchstückhaft in seiner Erinnerung existierten. Er mußte sich erinnern! Sein Instinkt mußte ihn durch den Nebel führen. Jetzt. Das Ende des Alptraums war in Sicht.
Da passierte es! Plötzlich gab es eine heftige Aktivität an der Tür, als eine dritte Figur herausgelaufen kam und sich zu den beiden anderen gesellte. Der Mann war kleiner, trug eine Baskenmütze und eine Aktentasche. Offenbar erteilte er Befehle, die auch die rückwärtige Wache angingen, die nach vorne zum Bürgersteig rannte. Der neu Angekommene schleuderte ihm die Aktentasche entgegen. Instinktiv klemmte die Wache ihre Waffe unter den linken Arm und fing die Tasche auf.
«Allez, allez! Novs partons! Vite!« schrie der zweite Mann und machte den anderen beiden ein Zeichen. Er ging neben der Frau, während der Mann im Regenmantel ihnen mit dem Wächter von der Tür her folgte… Der Schakal? War es Carlos? Wirklich?
Borowski wünschte verzweifelt, daß er es war — deshalb war er es! Auf das Geräusch vom Zuschlagen der Seitentür folgte das Starten des starken Motors — das Signal für die drei anderen Wächter, von ihren Posten zur rückwärtigen Tür des Wagens zu rennen. Einer nach dem anderen kletterten sie hinter dem Mann im Regenmantel her, indem sie zunächst die Waffen hineinwarfen, sich auf die Zehenspitzen stellten, mit ausgestreckten Armen den Türrahmen ergriffen, um sich daran in den Wagen zu schwingen. Dann griffen zwei Hände nach dem inneren Türgriff…
Jetzt! Borowski packte den Griff der Granate und schnellte auf die Füße, rannte, wie er nie in seinem Leben gerannt war, zu der zuschwingenden rückwärtigen Tür. Er hechtete vorwärts, machte im Flug eine Drehung, landete auf dem Rücken, ergriff die linke Türfüllung und warf die Granate hinein, den Abzug der Bombe in seiner Hand. Sechs Sekunden, dann würde sie explodieren. Jason kam mit ausgestreckten Armen auf die Knie und donnerte die Tür zu. Ein Feuerstoß war die Antwort. Aber welch ein unbeabsichtigter Umstand! Der Wagen des Schakals war kugelsicher, und das galt natürlich auch für Schüsse von drinnen! Der Stahl drang nicht nach draußen. Es gab nur die dumpfen Aufschläge und das Pfeifen der Querschläger… und die Schreie der Verwundeten drinnen.
Das glitzernde Fahrzeug schoß auf dem Boulevard Lefebvre vorwärts. Borowski sprang geduckt hoch und raste zu den verlassenen Geschäften auf der Ostseite der Straße. Er hatte die Straße fast überquert, als das Unmögliche geschah. Das Unmögliche!
Der Wagen des Schakals flog in die Luft, und die Explosion erhellte den dunklen Himmel von Paris. Im selben Moment kam eine braune Limousine um die nächste Ecke gerast, mit quietschenden Reifen, geöffneten Fenstern, Gesichtern in den schwarzen Vierecken und Warfen in den Fäusten, die das ganze Gebiet mit krachenden, ungezielten Schüssen bedeckten. Jason hechtete in den nächsten Eingang und nahm eine Fötusposition ein. Dies konnten die letzten Sekunden seines Lebens sein! Er hatte versagt. Versagt vor Marie und den Kindern!.. Aber nicht auf diese Weise! Er schnellte vom Zement hoch, die Waffe in der Hand. Er würde töten! Töten! Wie es sich für Jason Borowski ziemte.
Dann geschah es, das Unglaubliche. Das Unglaubliche! Eine Sirene? Die Polizei? Die braune Limousine raste davon, umfuhr die Flammen des zerstörten Fahrzeugs und verschwand im Dunkel der Straße, als ein Polizei wagen aus der gegenüberliegenden Dunkelheit mit heulender Sirene und ebenfalls quietschenden Reifen auftauchte und nur wenige Meter vor den Flammen des brennenden Wracks stehenblieb. Das macht alles keinen Sinn! dachte Jason. Wo vorher fünf Polizeifahrzeuge gewesen waren, kehrte nur einer zurück. Warum? Aber auch diese Frage war überflüssig. Carlos arbeitete nicht nur mit einem Lockvogel, sondern mit sieben, womöglich acht Männern, die alle verzichtbar waren, alle von dem vollendeten Selbstprotektor in einen furchtbaren Tod geschickt wurden. Der Schakal war aus der Falle gesprungen, die er für seinen verhaßten Gegner aufgestellt hatte, für Delta, das Produkt von Medusa, eine Schöpfung des amerikanischen Geheimdienstes. Wieder einmal hatte der Mörder ihn ausgetrickst, aber ohne ihn töten zu können. Es würde einen anderen Tag geben, eine andere Nacht.
«Bernardine!«schrie der Beamte vom Deuxieme, der vor weniger als dreißig Minuten seinen Kollegen offiziell entlassen hatte. Er sprang aus dem Polizeiwagen und schrie nochmals:»Bernardine! Wo bist du… Mein Gott, wo bist du? Ich bin zurückgekommen, alter Freund. Mein Gott, du hast recht gehabt, jetzt kann ich es selbst sehen! Sag mir, daß du lebst! Antworte mir!«
«Mich hat's noch nicht erwischt«, kam die Antwort von Bernardine, als seine hagere Gestalt langsam und unter Mühen aus dem Eingang eines Geschäfts sechzig Meter weiter nördlich von Borowski herauskam.
«Ich hab versucht, euch das zu erklären, aber ihr wolltet ja nicht auf mich hören…«
«Ich war vielleicht zu überstürzt!«rief der Beamte, rannte auf den alten Mann zu und umarmte ihn, während die anderen Polizisten aus dem Wagen das brennende Fahrzeug in beträchtlicher Entfernung umstanden, die Arme zum Schutz vor ihre Gesichter gehoben.
«Ich hab den Leuten über Funk befohlen, zurückzukehren!«fügte der Beamte hinzu.»Du mußt mir glauben, alter Freund, ich bin wieder hergekommen, weil ich dich nicht im Zorn zurücklassen wollte, nicht meinen alten Kameraden… Ich hatte keine Ahnung, daß dieses Politikerschwein dich geschlagen hat. Er hat's mir erzählt, und ich hab ihn rausgeworfen… Ich bin zu dir zurückgekommen, siehst du das? Aber, mein Gott, ich habe nicht erwartet, so was zu sehen!«
«Es ist entsetzlich«, sagte der alte Frangois, während er wachsam den Boulevard hinauf- und hinunterblickte und alles genau beobachtete. Er legte besonderes Augenmerk auf die vielen erschrockenen Gesichter in den Fenstern der drei verdächtigen Gebäude. Mit der Explosion des Fahrzeugs und dem Verschwinden der braunen Limousine hatte sich das Szenario verändert. Die Günstlinge waren ohne ihren Führer und voller Angst.
«Es ist nicht allein dein Fehler — mein alter Kamerad«, fuhr er mit einem leichten Bedauern in der Stimme fort.»Ich hatte das falsche Gebäude erwischt.«
«Aha«, rief der Kollege vom Deuxieme, erfreut über den kleinen Triumph.»Das falsche Gebäude? Das ist in der Tat ein Fehler mit Konsequenzen, nicht wahr, Francois?«
«Die Konsequenzen wären weit weniger tragisch gewesen, hättest du nicht so überstürzt alles abgeblasen. Statt auf einen alten Mann mit Erfahrung zu hören, hast du dich, ohne nachzudenken, aus dem Staub gemacht.«
«Wir haben getan, was du verlangt hast, und das Gebäude — das falsche Gebäude — durchsucht!«
«Wärst du geblieben, und wenn auch nur für eine kurze Besprechung, hätte das alles vermieden werden können. Ich werde das in meinem Bericht erwähnen müssen…«
«Bitte, alter Freund«, unterbrach sein Kollege.»Laß uns gemeinsam zum Besten des Büros überlegen…«Er wurde durch das Auftauchen eines Löschzuges unterbrochen. Bernardine hielt seine Hand hoch und führte seinen protestierenden Kollegen über den Boulevard, offensichtlich, um den Feuerwehrleuten Platz zu machen, in Wirklichkeit aber, um in Hörweite von Jason Borowski zu gelangen.
«Wenn unsere Leute kommen«, fuhr der Beamte vom Deuxieme fort, seine Stimme gebieterisch erhebend,»werden wir die Gebäude leeren und jeden Bewohner gründlichst verhören!«
«Mein Gott«, rief Bernardine aus,»füge deiner Inkompetenz nicht noch eine weitere Eselei hinzu!«
«Was?«
«Die Limousine, die braune Limousine — sicher hast du sie gesehen.«
«Ja, natürlich. Der Fahrer sagte, sie raste davon.«
«Das ist alles, was er sagte?«
«Nun, der Lastwagen in Flammen und die ganze Verwirrung mit dem Herbeifunken der Leute…«
«Schau dir das zerbrochene Glas überall an!«befahl Francois und deutete auf die Schaufensterscheiben, weg vom Versteck von Jason Borowski.
«Schau dir die Einschußlöcher auf dem Bürgersteig und der Straße an. Gewehrfeuer, mein Freund. Diejenigen, die das gemacht haben, sind auf und davon und glauben, sie hätten mich erwischt!.. Sag nichts, tu nichts. Laß die Leute in Ruhe.«
«Warum das?«
«Du bist ein Idiot! Wenn es aus irgendeinem Grund nur die leiseste Möglichkeit gibt, daß einer der Mörder hierher zurückkehrt, dann darf das nicht verhindert werden.«
«Das verstehe, wer will.«
«Großer Gott«, protestierte Bernardine, während die Feuerwehr die Schläuche auf das Feuer richtete.»Schick deine
Leute in das Haus, laß fragen, ob alles in Ordnung ist, und erklären, die Krise sei überwunden, es gebe keinen Grund mehr zur Beunruhigung.«
«Aber stimmt denn das?«
«Das wollen wir sie glauben machen. «Eine Ambulanz kam in die Straße gerast, gefolgt von zwei weiteren Polizeiwagen mit voll aufgedrehten Sirenen. Überall standen Schaulustige, viele mit hastig übergeworfenen Straßenkleidern, andere in ihren Schlafanzügen, abgewetzten Bademänteln und Unterhosen. Bernardine sah, daß der Lieferwagen des Schakals nur noch eine rauchende Masse aus verbogenem Stahl und geborstenem Glas war. Zu seinem Kollegen sagte er:»Gib der Menge Zeit, ihre morbide Neugierde zu befriedigen, dann schick sie nach Hause. Wenn alles unter Kontrolle ist und die Leichen abtransportiert sind, wirst du deinen Leuten lauthals erklären, der Einsatz sei vorüber, und dann befiehlst du alle bis auf einen in ihre Stationen zurück. Der Mann soll hier aufpassen, bis die Trümmer vom Boulevard beseitigt sind. Er soll auch den Befehl erhalten, niemanden, der aus den Häusern kommt oder hinein will, aufzuhalten. Ist das klar?«
«In keiner Weise. Du hast gesagt, daß sich hier vielleicht noch jemand versteckt…«
«Ich weiß, was ich gesagt habe«, drängte der ehemalige Berater des Deuxieme.»Doch das ändert nichts.«
«Du wirst also hierbleiben?«
«Ja. Ich werde mich gemütlich und unverdächtig hier herumtreiben.«
«Ich verstehe… Was ist mit deinem Report? Und meinem?«
«Du hast einen Hinweis erhalten — der Informant wird nicht genannt —, daß im Zusammenhang mit einer Rauschgiftgeschichte Gewalttätigkeiten zu genau dieser Zeit auf dem Boulevard Lefebvre stattfinden würden. Du hast ein Polizeiaufgebot herbeordert und nichts gefunden. Aber kurz danach hat dich dein enorm professioneller Instinkt noch einmal hergeführt, unglücklicherweise zu spät, um die Schlachterei zu verhindern.«
«Ich könnte sogar ausgezeichnet werden«, sagte der Kollege und runzelte bedrückt die Stirn.»Und dein Bericht?«
«Wir werden sehen, ob der überhaupt notwendig ist, nicht wahr?«antwortete der neu eingesetzte Berater des Deuxieme.
Die Krankenwärter wickelten die Körper der Opfer in Decken ein und legten sie in die Ambulanz. Ein Räumfahrzeug lud die Überreste des Fahrzeugs in einen riesigen Container. Die Leute fegten die Straße, wobei einer anmerkte, daß sie nicht zu gründlich fegen sollten, weil man den Boulevard sonst nicht wiedererkennen würde. Eine Viertelstunde später war der Job erledigt. Das Räumfahrzeug fuhr weg und nahm auch den letzten Polizisten mit, um ihn am nächsten Polizeifunk, ein paar Blocks weiter, abzusetzen. Es war gut vier Uhr früh, und bald würde das Licht der Dämmerung den Himmel von Paris überziehen. Die einzigen Lebenszeichen am Boulevard Lefebvre bestanden aus fünf erleuchteten Fenstern in der Häuserreihe, die von Carlos, dem Schakal, kontrolliert wurde. In jenen Zimmern saßen Männer und Frauen, denen es nicht erlaubt war zu schlafen. Sie hatten für ihren Monseigneur Arbeiten zu erledigen.
Borowski saß mit ausgestreckten Beinen auf dem Bürgersteig, den Rücken an die Wand eines Geschäftseingangs gelehnt, der dem Gebäude gegenüberlag, wo der erschrockene, aber beredte Bäcker und die äußerst indignierte Nonne der Polizei entgegengetreten waren. Bernardine saß in einem ähnlichen Eingang etwa hundert Meter weit entfernt, gegenüber dem ersten Haus, wo der Lieferwagen des Schakals mit seiner zum Tode verurteilten Ladung gehalten hatte. Ihre Verabredung war eindeutig: Jason würde dem ersten Menschen, der eines der Häuser verließ, folgen und ihn mit Gewalt ergreifen. Der alte Veteran des Deuxieme würde der zweiten Person folgen, aber keinen Kontakt herstellen, sondern nur seinen oder ihren Bestimmungsort feststellen. Nach Borowskis Urteil würde entweder der Bäcker oder die Nonne der Bote des Mörders sein, weswegen er das Nordende der steinernen Häuser gewählt hatte.
Er sollte zumindest teilweise recht behalten, hatte aber die Situation dennoch unterschätzt. Um 5.17 Uhr kamen zwei Nonnen in vollem Habit und weißen Hauben mit zwei Fahrrädern die Straße vom Südende her hochgefahren und klingelten mit ihren Fahrradglocken, als sie vor dem Haus hielten, das angeblich der Sitz der Barmherzigen Schwestern war. Die Tür ging auf, und weitere drei Nonnen, von denen jede ein Fahrrad trug, kamen heraus und gingen die Stufen hinunter, um sich zu ihren Barmherzigen Schwestern zu gesellen. Gemeinsam fuhren sie die Straße wieder hinauf. Der einzige Trost für Jason war, daß die indignierte Nonne am Ende der Prozession fuhr. Ohne zu wissen, wie es anzufangen war, nur, daß er es irgendwie schaffen mußte, sprang er aus seinem Versteck und rannte über die dunkle Straße. Als er den Schatten des Trümmergrundstücks neben dem Haus des Schakals erreicht hatte, öffnete sich eine weitere Tür. Er hockte sich hin und beobachtete den dicken Bäcker, wie er schnell die Stufen hinunterwatschelte und Richtung Süden ging. Bernardine hat also auch eine Aufgabe zu erledigen, dachte Jason, sprang wieder hoch und rannte der Prozession der radelnden Nonnen hinterher.
Der Pariser Verkehr ist ein endloses Rätsel, unabhängig von der Tageszeit. Er liefert Entschuldigungen für jeden, der zu früh oder zu spät kommen möchte oder der am richtigen oder verkehrten Ziel angekommen ist. Und so erging es auch den Barmherzigen Schwestern, besonders der offiziellen Oberhenne, die allein am Ende radelte. An einer Kreuzung der Rue Lecourbe am Montparnasse hinderte sie eine Verstopfung mit Lastwagen daran, ihren frommen Kolleginnen zu folgen. Sie winkte ihnen gnädig zu und bog abrupt in eine enge Seitenstraße ein, wo sie schneller als zuvor radelte. Borowski, dessen Wunde im Nacken plötzlich einen stechenden Schmerz verursachte, beschleunigte sein Tempo nicht, das brauchte er nicht. Auf dem blauen Schild mit den weißen Buchstaben am Eingang der Straße stand IMPASSE, Sackgasse.
Er fand das Fahrrad an eine erloschene Straßenlaterne gekettet und wartete in der Dunkelheit eines Torwegs nur fünf Meter weiter. Mit der Hand tastete er die feuchte Bandage an seinem Hals ab. Es war nur ein leichtes Bluten. Mein Gott, wie müde seine Beine waren! Sie schmerzten vor Anstrengung. Er lehnte sich gegen die Wand, sein Atem ging schwer, und er beobachtete das Fahrrad, wobei er versuchte, seinen Gedanken zu unterdrücken, der mit scheußlicher Regelmäßigkeit immer wiederkehrte: Vor wenigen Jahren nur hätte er die Ermüdung seiner Beine nicht gespürt — falsch: Es hätte sie gar nicht gegeben.
Das Geräusch vom Öffnen eines Schlosses unterbrach die Stille in der dämmrigen, engen Gasse, gefolgt vom Knarren einer schweren Tür. Es war der Eingang zur Wohnung gegenüber dem angeketteten Fahrrad. Mit dem Rücken an der Wand löste Jason die Pistole aus seinem Gürtel und beobachtete die Nonne, die über die Gasse zu ihrem Fahrrad lief. Sie fummelte mit dem Schlüssel im dämmrigen Licht herum und versuchte ungeschickt, ihn ins Schloß zu stecken. Borowski trat auf den Bürgersteig und machte ein paar schnelle, leise Schritte.
«Sie werden zu spät zur Frühmesse kommen«, sagte er.
Die Frau schnellte herum, die Schlüssel flogen zu Boden, und blitzschnell griff sie zwischen die Falten ihres Nonnenrocks. Doch Jason kam ihr zuvor, packte ihren Arm mit der Linken und riß ihr die große, weite Haube herunter. Beim Anblick ihres Gesichts schnappte er nach Luft.
«Mein Gott«, flüsterte er.»Sie!«