Kapitel 7

Marie St. Jacques-Webb begrüßte den karibischen Morgen, indem sie sich im Bett streckte und zur Wiege hinüberschaute. Alison schlief tief und fest, im Gegensatz zu vier oder fünf Stunden zuvor. Ihr kleiner Liebling war schwierig gewesen, so sehr, daß Maries Bruder Johnny an die Tür geklopft hatte, zaghaft hereingekommen war und gefragt hatte, ob er irgend etwas tun könne, auch wenn er eigentlich überzeugt war, daß er es nicht konnte.

«Wie wäre es, wenn du ihr die Windel wechseln würdest?«

«Das dann doch lieber nicht«, lachte Johnny und verschwand wieder. Jetzt jedoch hörte sie seine Stimme von draußen durch die Jalousien. Es war verführerisch, wie er ihren Sohn Jamie in den Swimmingpool lockte und dabei so laut sprach, daß er auf der ganzen Insel gehört werden konnte. Marie kroch aus dem Bett, ging ins Badezimmer, und nachdem sie geduscht und ihr kastanienbraunes Haar gebürstet hatte, trat sie im Badeanzug hinaus in den Patio, von wo sie den Pool überblicken konnte.

«Oh, Marie, hallo. «schrie ihr braungebrannter, dunkelhaariger jüngerer Bruder neben ihrem Sohn im Wasser.»Ich hoffe, wir haben dich nicht aufgeweckt. Wir wollten nur unbedingt schwimmen.«

«Hallo, Mami. Onkel John hat mir gezeigt, wie man Haifische mit einem Stock vertreiben kann.«

«Dein Onkel weiß lauter so schreckliche Sachen, die du hoffentlich nie, nie zu wissen brauchst.«

«Auf dem Tisch steht eine Kanne mit Kaffee, Marie. Und Mrs. Cooper wird dir alles machen, was du zum Frühstück möchtest.«

«Kaffee ist prima, Johnny. Das Telefon hat in der Nacht geläutet — war es David?«

«Er«, antwortete der Bruder,»und du und ich, wir müssen miteinander reden… Komm, Jamie, raus mit dir. Faß die Leiter an.«

«Was ist denn mit den Haifischen?«

«Die bekommst du noch alle. Hol dir was zu trinken.«

«Johnny!«

«Orangensaft, in der Küche steht ein Krug voll. «John St. Jacques ging um den Pool herum und die Stufen zum Schlafzimmerpatio hinauf, während sein Neffe ins Haus rannte.

Marie sah ihren Bruder näher kommen, wobei sie die Ähnlichkeit zwischen ihm und ihrem Mann bemerkte. Beide waren groß und muskulös; beide hatten einen Mangel an Kompromißbereitschaft in ihrem Gang, während jedoch David gewöhnlich gewann, verlor Johnny meistens, ohne daß sie wußte, warum. Oder warum David solch ein Vertrauen in den jüngsten Schwager setzte, wo doch die beiden älteren St. Jacques' viel verantwortungsbewußter schienen. David — oder war es Jason Borowski? — diskutierte diese Frage niemals ausführlich. Er ging einfach mit einem Lachen darüber hinweg und sagte, daß Johnny etwas habe, was ihm — oder war es Borowski? gefalle.

«Nun mal raus mit der Sprache«, sagte der jüngste St. Jacques und setzte sich, während das Wasser von seinem Körper tropfte.»Was für eine Art Ärger hat David? Am Telefon konnte er nicht sprechen, und du warst vergangene Nacht ja nicht in der Lage zu einem längeren Gespräch. Was ist geschehen?«

«Der Schakal… der Schakal, das ist geschehen.«

«Oh, Gott!«brach es aus Johnny heraus.»Nach all den Jahren?«

«Nach all den Jahren«, wiederholte Marie mit schwacher Stimme.»Wie weit ist der Bastard gekommen?«

«David versucht, es in Washington herauszufinden. Alles, was wir mit Sicherheit wissen, ist, daß er Alex Conklin und Mo Panov im Zusammenhang mit den schrecklichen Ereignissen in Hongkong und Kowloon ausgegraben hat. «Sie erzählte ihm von den falschen Telegrammen und der Falle im Vergnügungspark in Baltimore.

«Ich denke, daß Alex alle unter seinen Schutz genommen hat, oder wie sie es nennen.«

«Rund um die Uhr, da bin ich sicher. Außer uns und McAllister sind Alex und Mo die einzigen noch lebenden Leute, die wissen, daß David — mein Gott, ich kann nicht einmal den Namen aussprechen!«Marie setzte die Kaffeetasse heftig auf den Tisch.

«Ruhig, Schwesterchen. «Johnny ergriff ihre Hand und legte seine auf die ihre.»Conklin weiß schon, was er tut. David hat mir gesagt, daß Alex der Beste war — der beste Mann im Außendienst, so nannte er ihn —, der je für die Amerikaner gearbeitet hat.«

«Du verstehst nicht, Johnny!«schrie Marie. Sie versuchte, ihre Stimme und ihre Emotionen unter Kontrolle zu bekommen, aber ihre weit aufgerissenen Augen straften ihren Versuch Lügen.»David hat das nie gesagt, David wußte es nicht einmal! Jason Borowski hat das gesagt, und er ist auch wieder da!.. Dieses eiskalt berechnende Monster, das sie geschaffen haben, ist wieder in Davids Kopf. Du weißt gar nicht, wie das ist. Ein Blick in diese in die Ferne gerichteten Augen, die Dinge sehen, die ich nicht sehe, oder der Ton in der Stimme, eine plötzlich ruhige, eisige Stimme, die ich nicht kenne, und plötzlich bin ich mit einem Fremden zusammen.«

St. Jacques hob seine freie Hand und bedeutete ihr aufzuhören.»Komm schon«, sagte er sanft.

«Die Kinder? Jamie…?«Sie sah sich gehetzt um.

«He, du. Was denkst du, wird David machen? In eine Vase der Wing- oder Ming-Dynastie klettern und so tun, als ob seine Frau und seine Kinder nicht in Gefahr seien, sondern nur er? Ob ihr Ladies es mögt oder nicht, wir Männer glauben immer noch, daß es unsere Aufgabe ist, die wilden Tiere von der Höhle fernzuhalten. Wir sind wirklich der Meinung, daß wir dafür besser gerüstet sind.«

«Seit wann ist mein kleiner Bruder so philosophisch?«fragte Marie.»Das ist keine Philosophie, Mädchen, das weiß ich einfach. Die meisten Männer wissen es — die feministische Menge möge es verzeihen.«

«Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Die meisten von uns wollen es auch gar nicht anders. Würdest du glauben, daß deine große, gebildete Schwester, die eine Menge Meriten in Wirtschaftswissenschaft in Ottawa errungen hat, immer noch schreit, wenn sie eine Maus in der Küche unseres Landhauses sieht und in Panik ausbricht, wenn es eine Ratte ist?«

«Sicherlich sind intelligente Frauen ehrlicher diesbezüglich.«

«Ich akzeptiere, was du sagst, Johnny, aber du verstehst nicht, was ich meine. David ist es so gutgegangen in den vergangenen fünf Jahren, jeden Monat ein bißchen besser als zuvor. Er wird niemals vollständig geheilt werden, das wissen wir alle, dazu war der Schaden zu groß, aber die Furien, seine persönlichen Furien, waren fast verschwunden. Die einsamen Spaziergänge im Wald, von denen er mit blutenden Händen nach Hause kam, weil er gegen Bäume angegangen war, die stillen, unterdrückten Tränen abends, wenn er sich nicht entsinnen konnte, was er einmal war oder was er getan hatte, wobei er von sich selbst das Schlimmste annahm — das war vorbei, Johnny! Es gab wirklich Hoffnung, verstehst du, was ich meine?«»Ja, sicher«, sagte der Bruder.

«Was jetzt passiert, das könnte alles wieder zurückkommen lassen, und das macht mir solche Angst!«»Dann laß uns hoffen, daß es schnell vorbei ist. «Marie hielt inne und sah wieder ihren Bruder an.»Halt meine Hand, kleiner Bruder, ich kenne dich zu gut. Du ziehst dich zurück.«»Kein bißchen.«

«Doch, du tust es… Du und David, ich hab das nie verstanden. Unsere beiden älteren Brüder sind so solide, haben alles so gut im Griff, vielleicht nicht intellektuell, aber pragmatisch. Dennoch hat er sich dir zugewandt. Warum, Johnny?«

«Laß das doch«, sagte St. Jacques und entzog seiner Schwester die Hand.

«Aber ich muß es wissen. Dies ist mein Leben, er ist mein Leben! Es darf keine Geheimnisse geben, was ihn auch betrifft. Ich kann das nicht mehr ertragen! Warum du?«

St. Jacques lehnte sich in seinem Stuhl zurück und bedeckte mit seinen gestreckten Fingern die Stirn. Er hob den Blick, der eine unausgesprochene Bitte ausdrückte.»Erinnerst du dich, als ich vor sechs oder sieben Jahren die Farm verließ, weil ich meinen eigenen Weg gehen wollte?«

«Natürlich. Ich glaube, das hat damals unseren guten Eltern das Herz gebrochen. Es war nicht zu ändern, du warst immer eine Art Liebling…«

«Ich war immer das Kind!«unterbrach der jüngste St. Jacques.»Der immer seine schwachsinnige Bonanza-Rolle spielte, während meine dreißigjährigen Brüder ergeben Befehle vom allwissenden, bigotten französisch-kanadischen Vater entgegennahmen, dessen einzig angenehme Seite sein Geld und sein Land war.«

«Er hatte noch andere Seiten, aber ich will die Eindrücke eines >Kindes< nicht bestreiten.«

«Könntest du auch nicht, Marie. Du hast es genauso gemacht wie ich, und manchmal bist du ein Jahr lang nicht nach Hause gekommen.«

«Ich war beschäftigt.«

«Ich auch.«

«Was hast du gemacht?«

«Ich habe zwei Männer getötet. Zwei Schweine, die meine Freundin umgebracht hatten — vergewaltigt und umgebracht.«

«Was?«

«Sprich leise…«

«Mein Gott, was war passiert?«

«Ich wollte nicht zu Hause anrufen, also rief ich deinen Mann an… meinen Freund, der mich nicht wie ein Kind mit einem Hirnschaden behandelte. Damals schien es mir nur logisch zu sein, und es war die beste Entscheidung, die ich treffen konnte. Die Regierung schuldete ihm Dank, und ein ausgezeichnetes Team flog von Washington und Ottawa nach James Bay, und ich wurde freigesprochen. Notwehr, und das war's.«

«Er hat niemals nur ein Wort davon zu mir gesagt…«

«Darum habe ich ihn gebeten.«

«Also deswegen — aber ich verstehe es immer noch nicht.«

«Es ist nicht schwer, Marie. Ein Teil von ihm weiß, daß ich töten kann, töten werde, wenn ich glaube, daß es notwendig ist.«

Drinnen im Haus ging das Telefon. Marie starrte ihren Bruder an. Bevor sie ihre Stimme wiedergefunden hatte, kam eine ältere schwarze Frau durch die Tür von der Küche.

«Es ist für Sie, Mr. John. Es ist der Pilot von der großen Insel drüben. Er sagt, es sei sehr wichtig.«

«Danke, Mrs. Cooper«, sagte St. Jacques, stand auf und lief schnell zum Nebentelefon am Pool. Er sprach einige Augenblicke, sah dann Marie an, warf den Hörer auf die Gabel und kam zu seiner Schwester gerannt.»Pack ein, du mußt schnell weg!«

«Warum? War es der Mann, der uns geflogen hat?«

«Er ist aus Martinique zurück und hat erfahren, daß jemand in der vergangenen Nacht am Flughafen Fragen über eine Frau und zwei Kinder gestellt hat. Niemand von der Crew hat etwas gesagt, aber wer weiß, wie lange… Schnell.«

«Mein Gott, wo soll ich hin?«

«Rüber ins Hotel, bis wir uns etwas ausgedacht haben. Es gibt nur eine Straße dorthin, und meine eigenen >Tontons Macoutes< bewachen sie. Da kommt niemand rein oder raus. Mrs. Cooper wird dir mit Alison helfen. Beeil dich!«

Das Telefon klingelte schon wieder, und Marie rannte durch die Schlafzimmertür. St. Jacques stürzte die Treppe zum Nebentelefon am Pool hinunter, als Mrs. Cooper nochmals aus der Küche kam.»Es ist die Regierung drüben in Serrat, Mr. John.«

«Was, zum Teufel, wollen die denn?«

«Soll ich sie fragen?«

«Nein, nein, ich geh ran. Hilf meiner Schwester mit den Kindern, und pack alles, was sie mitgebracht haben, in den Rover. Sie fahren sofort ab!«

«Oh, wie furchtbar. Ich habe mich so über das kleine Baby gefreut.«

«Furchtbar, das stimmt«, murmelte St. Jacques, als er nach dem Hörer griff.»Ja?«

«Hallo, John?«sagte der Erste Assistent des Gouverneurs der Kronkolonie, ein Mann, der sich mit dem kanadischen Entwicklungshelfer angefreundet hatte und ihm behilflich gewesen war, sich durch den Paragraphendschungel der Kolonie hindurchzufinden.

«Kann ich dich zurückrufen, Henry? Ich bin im Moment ziemlich in Eile.«

«Ich fürchte, dafür ist keine Zeit, alter Junge. Das ist direkt vom Außenministerium. Sie wollen unsere sofortige Kooperation, und das wird dir bestimmt nicht schaden.«

«Oh?«

«Es scheint, daß da ein alter Bursche mit seiner Frau mit dem Ausschlußflug aus Antigua um zehn Uhr dreißig ankommt, und Whitehall wünscht einen Roten-Teppich-Empfang. Offenbar hat der alte Bursche tapfer im zweiten Weltkrieg gefochten und mit vielen unserer Jungs jenseits des Teiches zusammengearbeitet. Er hat jede Menge Auszeichnungen.«

«Henry, ich bin wirklich in Eile. Was hat das alles denn mit mir zu tun?«

«Na ja, ich habe halt gedacht, daß du darüber vielleicht besser Bescheid weißt als wir. Wahrscheinlich einer deiner reichen kanadischen Gäste, vielleicht ein Frenchie aus Montreal, der aus der Resistance kommt und an dich gedacht hat…«

«Beleidigungen werden dir nur eine Flasche Superieur eines französisch-kanadischen Weins einbringen. Was willst du?«

«Unseren Held und seine Dame in der schönsten Wohnung unterbringen, die du hast, mit einem Zimmer für die französischsprechende Krankenschwester, die wir ihnen zur Verfügung gestellt haben.«

«Innerhalb einer Stunde?«

«Alter Junge, wir sitzen in einem Boot, wenn du weißt, was ich meine, und das für dich so wichtige, wenn auch unzuverlässige Telefon hängt gewissermaßen von der Zustimmung der Krone ab — wenn du weißt, was ich meine.«

«Henry, du verstehst es wirklich. Und außerdem bist du so nett, einen genau da zu treffen, wo es weh tut. Wie heißt dein Held? Schnell bitte.«

«Unsere Namen sind Jean Pierre und Regine Fontaine, Monsieur le directeur, und hier sind unsere Pässe«, sagte der alte Mann mit der sanften Stimme im gläsernen Büro des Grenzoffiziers, neben dem der Adjutant des Gouverneurs saß.»Meine Frau ist dort drüben«, fügte er hinzu und deutete durch das Fenster.»Sie spricht mit der Mademoiselle in der weißen Uniform.«

«Ich bitte Sie, Monsieur Fontaine«, protestierte der schwarze Beamte mit betont britischem Akzent.»Dies ist nur eine Formalität, eine Stempelprozedur. Auch um sie von der Belästigung Ihrer vielen Bewunderer fernzuhalten. Das Gerücht hat sich schon auf dem ganzen Flughafen verbreitet, daß da ein großer Mann angekommen ist.«

«Wirklich?«Fontaine lächelte. Es war ein entzücktes Lächeln.

«Oh, machen Sie sich deswegen keine Sorgen, Sir. Die Presse hat keinen Zugang. Wir wissen, daß Sie vollständig zurückgezogen leben möchten, und das werden Sie können.«

«Wirklich?«Das Lächeln des alten Mannes verschwand.»Ich müßte jemanden hier treffen, einen Freund gewissermaßen, mit dem ich vertraulich zu reden habe. Ich hoffe, Ihre wohlüberlegten Vorbereitungen stehen dem nicht im Wege.«

«Eine kleine, ausgewählte Gruppe von ehrbaren und gutbeleumundeten Bürgern wird Sie in der Ehrenhalle von Blackburne begrüßen, Monsieur Fontaine«, sagte der Chefadjutant der Krone.»Können wir gehen? Der Empfang wird kurz sein, ich versichere es Ihnen.«

«Wirklich? So schnell?«

Es dauerte tatsächlich weniger als fünf Minuten, obwohl fünf Sekunden auch gereicht hätten. Die erste Person, der der Killer des Schakals begegnete, war der ordensgeschmückte Gouverneur persönlich. Als der Erste Repräsentant der Königin den Helden auf französische Weise umarmte, flüsterte er in das Ohr von Jean Pierre Fontaine:»Wir haben erfahren, wo sich die

Frau und die Kinder aufhalten. Wir schicken Sie dorthin. Die Krankenschwester hat Ihre Instruktionen. «Das übrige war für den alten Mann etwas enttäuschend, besonders die Abwesenheit der Presse. Noch niemals war von ihm ein Bild in der Zeitung gewesen, es sei denn als Verbrecher.

Morris Panov, Doktor der Medizin, war sehr erregt, aber er versuchte immer, solche Momente zu kontrollieren, denn sie halfen weder ihm noch seinen Patienten. In diesem Augenblick jedoch, als er an seinem Schreibtisch saß, hatte er Schwierigkeiten, seine Emotionen in den Griff zu bekommen. Er hatte nichts von David Webb gehört. Er mußte etwas von ihm hören, er mußte mit ihm sprechen. Was jetzt passierte, das konnte dreizehn Jahre Therapie zunichte machen, konnten die das nicht begreifen? Nein, natürlich konnten sie das nicht. Es gehörte nicht zu dem, was sie interessierte, sie hatten andere Prioritäten und wollten nicht mit Problemen jenseits ihres Horizontes belastet werden. Aber er mußte sich darum kümmern. Das geschädigte Gehirn war so fragil, so anfällig für Rückschläge, daß die Schrecken der Vergangenheit jederzeit wiederkehren konnten. David konnte nichts passieren! Er war so normal, wie er nur sein konnte, er konnte als Lehrer ausgezeichnet funktionieren, er hatte eine fast perfekte Erinnerung, wenn es um seine wissenschaftliche Arbeit ging, und er erinnerte sich immer mehr, je mehr Jahre ins Land gingen. Aber es konnte alles durch eine einzige Gewalthandlung zerstört werden, denn Gewalt war der Lebensinhalt von Jason Borowski. Verdammt! Es war schon schlimm genug, daß sie David erlaubten, sich hier aufzuhalten. Er hatte versucht, Alex die potentielle Gefahr zu erklären, aber Conklin hatte eine unwiderlegbare Antwort:»Wir können ihn nicht stoppen. Aber auf diese Weise können wir ihn wenigstens beobachten und beschützen. «Vielleicht.»Sie «knauserten nicht, wenn es um Schutz ging — die Wachen unten in der Halle seines Büros und auf dem Dach des Gebäudes, ganz zu schweigen von der bewaffneten Empfangsdame und dem merkwürdigen Computer… Dennoch wäre es für David sehr viel besser, wenn er abgeschoben würde, einfach auf seine Zufluchtsinsel geflogen würde und man die Jagd auf den Schakal den Profis überließe… Panov ertappte sich allerdings selbst bei dem Gedanken, daß es keinen besseren Profi als Jason Borowski gab. Die Gedanken des Doktors wurden durch einen Telefonanruf unterbrochen, aber er konnte das Telefon nicht aufnehmen, bevor nicht alle Sicherheitsmaßnahmen aktiviert worden waren. Eine Fangschaltung untersuchte, ob die Leitung abgehört wurde, und die Identität des Anrufers mußte erst von Panov persönlich bestätigt werden. Die Gegensprechanlage summte. Er drückte den Knopf.

«Ja?«

«Alle Systeme sind klar, Sir«, verkündete die Empfangsdame, die als einzige Person im Büro Bescheid wußte.»Der Mann sagt, sein Name sei Treadstone, Mr. D. Treadstone.«

«Ich nehme es an«, sagte Mo Panov entschlossen.»Und Sie können alle Systeme, die Sie da draußen eingeschaltet haben, ausschalten. Dies fällt unter das Arztgeheimnis.«

«Ja, Sir. Der Monitor ist abgeschaltet.«

«Was?… Schon gut. «Der Psychiater griff zum Hörer und konnte sich nicht enthalten zu schreien:»Warum hast du mich nicht schon früher angerufen, du Hundesohn?«

«Damit du keinen Herzkollaps bekommst, genügt das?«

«Wo bist du, und was macht du?«

«Im Augenblick?«

«Ja, das reicht.«

«Mal sehen. Ich habe ein Auto gemietet und bin gerade einen halben Block von einem Haus in Georgetown entfernt, das dem Vorsitzenden der Bundeshandelskommission gehört. Und ich spreche zu dir von einem Münzgerät aus.«

«Um Himmels willen, warum?«

«Alex wird dich aufklären, aber ich möchte, daß du Marie auf der Insel anrufst. Ich habe es schon mehrmals versucht, seit ich das Hotel verlassen habe, aber ich komme nicht durch. Sag ihr, daß es mir gutgeht, sehr gut sogar, und daß sie sich keine Sorgen machen soll. Hast du begriffen?«

«Ich habe verstanden, aber ich nehme es dir nicht ab. Du klingst nicht einmal wie du selbst.«

«Das kannst du ihr nicht sagen, Doktor. Wenn du mein Freund bist, dann kannst du ihr nichts dergleichen sagen.«

«Hör auf, David. Dieses Versteckspiel bringt nichts mehr.«

«Sag ihr das nicht — nicht, wenn du mein Freund bist.«

«Du windest dich, David. Laß es nicht geschehen. Komm zu mir und sprich mit mir.«

«Keine Zeit, Mo. Die Limousine der fetten Katze parkt vor seinem Haus, und ich muß an die Arbeit.«

«Jason!«

Die Leitung war tot.

Brendan Patrick Pierre Prefontaine ging die Stufen der Metalltreppe des Jets hinunter in die heiße karibische Sonne von Montserrat. Es war kurz nach drei Uhr nachmittags, und er wäre sich verloren vorgekommen, hätte er nicht die vielen tausend Dollar bei sich gehabt. Es war bemerkenswert, wie leicht ein Vorrat an Hundert-Dollar-Noten in verschiedenen Taschen ein sicheres Gefühl vermitteln konnte. Er mußte sich sogar daran erinnern, daß das Wechselgeld — Fünfziger, Zwanziger und Zehner — in der rechten Hosentasche steckte, um nicht den Fehler zu begehen, das große Bündel herauszuziehen und angeberisch zu erscheinen oder einem prinzipienlosen Dieb aufzufallen. Es war vor allem wichtig, möglichst unauffällig zu bleiben, bis an den Rand der Bedeutungslosigkeit. Unauffällig mußte er wichtige Fragen stellen, betreffs einer Frau und zweier kleiner Kinder, die in einem Privatflugzeug am vergangenen Nachmittag hier eingetroffen waren. Um so erstaunter und alarmierter war er, als er die wirklich wunderbare schwarze Grenzbeamtin, nachdem sie das Telefon aufgelegt hatte, zu ihm sagen hörte:»Würden Sie so freundlich sein, Sir, und bitte mit mir kommen?«

Ihr hübsches Gesicht, ihre fröhliche Stimme und ihr perfektes Lächeln konnten die Befürchtungen des Richters auch nicht zerstreuen. Viel zu viele richtige Verbrecher verfügten ebenfalls über solche Kennzeichen.

«Stimmt etwas nicht mit meinem Paß, junge Dame?«

«Nicht, daß ich wüßte, Sir.«

«Warum also der Aufschub? Warum können Sie ihn nicht einfach stempeln und mich durchlassen?«

«Oh, er ist gestempelt, und die Einreiseerlaubnis haben Sie. Das ist kein Problem.«

«Warum dann also…?«

«Kommen Sie bitte mit mir, Sir.«

Sie näherten sich einem großen gläsernen Bürowürfel mit der Aufschrift» Stellvertretender Direktor für den Grenzverkehr «auf dem linken Fenster. Die attraktive Angestellte öffnete die Tür und machte dem älteren Herrn lächelnd ein Zeichen einzutreten. Prefontaine tat, wie ihm geheißen, wobei er maßlose Angst bekam, daß er untersucht werden könnte, daß man das Geld finden und alle möglichen Anklagen gegen ihn erheben würde. Er wußte nicht, welche Inseln am Drogenhandel beteiligt waren, aber wenn diese dazugehörte, dann wären mehrere tausend Dollar natürlich gleich suspekt. Erklärungen rasten durch sein Gehirn, während die Angestellte zu einem Tisch ging und dem kurzen, untersetzten stellvertretenden Direktor seinen Paß überreichte. Die Frau lächelte Brendan nochmals gewinnend an, ging zur Tür hinaus und schloß sie hinter sich.

«Mr. Brendan Patrick Pierre Prefontaine«, begann der Beamte, während er im Paß las.

«Nicht, daß es darauf ankäme«, sagte Brendan freundlich mit aller Autorität.»Das >Mr.< wird jedoch gewöhnlich durch >Richter< ersetzt — wie ich schon sagte, ich glaube nicht, daß es unter diesen Umständen von Wichtigkeit wäre, oder vielleicht doch, ich weiß es nicht. Hat einer meiner Angestellten einen Fehler gemacht? Sollte das der Fall sein, fliege ich das ganze Büro ein, um sich zu entschuldigen.«

«Keineswegs, Sir — Richter«, antwortete der uniformierte, weißgegürtete schwarze Mann, als er sich vom Stuhl erhob und seine Hand über den Tisch ausstreckte.»Vielleicht habe ich sogar einen Fehler gemacht.«

«Und wenn schon, Oberst, das tun wir alle mal. «Brendan ergriff die Hand des Beamten.»Dann kann ich vielleicht gehen? Es gibt jemanden, den ich treffen muß.«

«Das hat er auch gesagt.«

Brendan ließ die Hand los.»Verzeihung?«

«Vielleicht muß ich Sie darum bitten… Die Vertraulichkeit natürlich.«

«Die was? Können wir vielleicht auf den Punkt kommen? Bitte?«

«Ich bin mir der Geheimhaltung bewußt«, fuhr der Beamte fort,»sie ist von äußerster Wichtigkeit — so ist es uns erklärt worden —, aber wann immer wir behilflich sein können, versuchen wir, uns der Krone erkenntlich zu zeigen.«

«Außerordentlich löblich, Brigadegeneral, aber ich fürchte, ich verstehe nicht.«

Der Beamte senkte unnötigerweise die Stimme.»Ein großer Mann ist heute früh hier angekommen, wußten Sie das?«

«Ich bin sicher, daß viele bedeutende Männer auf Ihre wunderschöne Insel kommen. Auch mir ist sie aufs wärmste empfohlen worden.«

«Ah, ja, die Abgeschiedenheit und Geheimhaltung.«

«Natürlich die Geheimhaltung«, stimmte der Richter zu und fragte sich, ob der Beamte wohl alle Tassen im Schrank hatte.»Könnten Sie sich deutlicher ausdrücken?«

«Nun gut, er sagte, daß er hier jemanden treffen wolle, einen Geschäftsfreund, mit dem er konferieren müsse, aber nach dem sehr bescheidenen Empfang, ohne Presse, versteht sich, wurde er direkt zu einem Charterflugzeug gebracht, das ihn auf eine der äußeren Inseln geflogen hat, so daß er die Person offenbar nicht treffen konnte, wie er wollte. Ist das jetzt klar genug?«

«Wie der Hafen von Boston im Nebel, General.«

«Sehr gut, ich verstehe. Geheimhaltung. Deshalb wurde unser ganzes Personal darüber informiert, daß der Freund des großen Mannes ihn hier auf dem Flughafen suchen könnte — vertraulich natürlich.«

«Natürlich. «Nicht eine Tasse, dachte Brendan.»Dann habe ich an eine andere Möglichkeit gedacht«, sagte der Beamte und kostete seinen Triumph aus.»Angenommen, der Freund des großen Mannes fliegt auch hierher auf die Insel zu einem Rendezvous mit ihm.«

«Brillant.«

«Nicht ohne Logik. Dann hatte ich die Idee, die Passagierlisten aller ankommenden Flüge durchzugehen, wobei ich mich natürlich auf die der ersten Klasse konzentriert habe, wo die Freunde eines großen Mannes zu vermuten sind.«

«Hellsichtig«, murmelte der ehemalige Richter.»Und da haben Sie mich ausgesucht?«

«Der Name, Sir! Pierre Prefontaine!«

«Meine fromme verstorbene Mutter wäre sicher beleidigt, weil Sie >Brendan Patrick< weggelassen haben. Wie die Franzosen sind auch die Iren in diesen Dingen sehr empfindlich.«

«Aber es war eine Familie. Das hatte ich sofort begriffen!«

«Haben Sie?«

«Pierre Prefontaine! Jean Pierre Fontaine. Ich bin Experte in Grenzformalitäten und habe die Methoden in vielen Ländern studiert. Ihr eigener Name ist ein faszinierendes Beispiel, sehr verehrter Richter. Welle auf Welle von Einwanderern flutete in die Vereinigten Staaten, den Schmelztiegel der Nationen, Rassen und Sprachen. Bei diesem Prozeß haben die Namen sich verändert, wurden zusammengezogen oder einfach mißverstanden von zahllosen unbedarften und überarbeiteten Schreibern. Aber die Wurzeln haben häufig überlebt, und so war es auch bei Ihnen. Die Familie Fontaine wurde zu Prefontaine in Amerika, und der Freund des großen Mannes war in Wirklichkeit ein geschätztes Mitglied des amerikanischen Zweiges!«

«Gewiß beeindruckend«, murmelte Brendan und schaute den Beamten an, als befürchtete er, daß gleich eine Horde Pfleger mit Zwangsjacken hereinstürmen würde.»Aber ist es nicht möglich, daß es sich um einen bloßen Zufall handelt? Fontaine ist in Frankreich ein häufiger Name, und soweit ich herausgefunden habe, waren die Prefontaines besonders in Elsaß-Lothringen zu Hause.«

«Ja, natürlich«, sagte der Stellvertreter und senkte die Stimme, statt einfach zu flüstern.»Aber ohne vorherige Warnung ruft plötzlich der Quai d'Orsay aus Paris an, dann das Außenministerium von Großbritannien mit näheren Instruktionen, daß bald ein großer Mann vom Himmel herabgleiten werde. Beachtet ihn, ehrt ihn, bringt ihn auf eine entfernte Insel, die für ihre Zurückgezogenheit bekannt ist. Denn das sei wichtig — der große Mann wünsche totale Zurückgezogenheit… Aber gleichzeitig ist der große Krieger ängstlich und möchte sich vertraulich mit einem Freund treffen, den er nicht findet. Vielleicht hat der große Mann Geheimnisse. Das haben alle großen Männer, wissen Sie.«

Plötzlich fühlten sich die vielen Dollars in Prefontaines Taschen sehr schwer an. Washingtons Four-Zero-Abfertigung in Boston, der Quai d'Orsay in Paris, das Außenministerium in London — Randolph Gates, der ohne Grund aus reiner Panik eine große Summe Geldes rausrückte. Da gab es ein Muster seltsamer Übereinstimmungen, deren seltsamste der verschreckte skrupellose Staatsanwalt mit Namen Gates war. Gehörte er dazu, oder war es ein Irrtum? Was hatte das alles zu bedeuten?

«Sie sind ein außergewöhnlicher Mann«, sagte Brendan schnell und verdrängte seine Gedanken, indem er schnell sprach.»Ihre Beobachtungen sind geradezu brillant. Aber Sie verstehen doch, daß Geheimhaltung das allerwichtigste ist?«

«Ich will nichts weiter hören, verehrter Richter!«rief der Beamte aus.»Nur hinzufügen, daß Ihre Einschätzung meiner Fähigkeiten hoffentlich nicht an meinen Vorgesetzten vorübergeht.«

«Das geht in Ordnung, das versichere ich Ihnen… Wohin genau ist mein nicht allzu entfernter und verehrter Cousin geflogen?«

«Eine kleine äußere Insel, wo die Flugzeuge auf dem Wasser landen müssen. Sie heißt Tranquility Island, und das Hotel ist das Tranquility Inn.«

«Ihnen wird persönlich von Ihren Vorgesetzten gedankt werden, seien Sie dessen sicher.«

«Und ich werde Sie persönlich durch den Zoll bringen.«

Brendan Patrick Pierre Prefontaine, in der Hand seinen Koffer aus poliertem Leder, trat als verwirrter Mann auf das Gelände des Flughafens von Blackburne. Verwirrt? Zum Teufel, er war überwältigt! Er konnte sich nicht entscheiden, ob er den nächsten Flug zurück nach Boston nehmen sollte oder… Aber seine Füße nahmen ihm die Entscheidung ab. Er merkte, wie er zu einem Schalter unter einem großen dunkelblauen Schild mit der Aufschrift Inter-Island-Airways schritt. Es konnte ja nicht schaden, ein bißchen nachzuforschen, dachte er, und anschließend würde er ein Ticket zurück nach Boston kaufen.

An der Wand hinter dem Schalter befand sich eine Liste der nahe gelegenen äußeren Inseln neben einer größeren Liste der bekannteren Inseln» unter dem Winde «und»über dem Winde«, von St. Kitts und Nevis bis Grenada im Süden. Tranquility lag eingeklemmt zwischen Canada Cay und Turtle Rock. Zwei Angestellte, eine schwarze junge Frau und ein blonder junger Mann, sprachen in aller Ruhe miteinander. Die Frau kam zu ihm.»Kann ich Ihnen behilflich sein?«

«Ich bin mir nicht sicher«, sagte Brendan zögernd.»Mein Plan steht noch nicht richtig fest, aber es sieht so aus, als ob ich einen Freund auf Tranquility Island habe.«

«Im Hotel, Sir?«

«Ja, offenbar. Dauert es lange, dorthin zu fliegen?«

«Wenn das Wetter klar ist, nur fünfzehn Minuten. Mit einem Amphibien-Flugzeug. Aber ich glaube nicht, daß vor morgen früh noch eines abgehen wird.«

«Doch, meine Süße«, unterbrach der junge Mann, der auf seinem weißen Hemd kleine goldene Flügel trug.»Ich werde bald losfliegen und Johnny St. Jacques Proviant bringen«, fügte er hinzu.

«Das steht nicht im Flugplan.«

«Doch, seit einer Stunde.«

In diesem Augenblick und bei diesen Worten fiel Prefontaines erstaunter Blick auf zwei große Kartons, die sich langsam auf dem Inter-Island-Gepäcklaufband in Richtung Ladezone draußen bewegten. Obwohl er noch genug Zeit hatte, es sich zu überlegen, war seine Entscheidung schon gefallen.

«Ich würde gerne ein Ticket für diesen Flug haben. Wenn es geht«, fügte er hinzu und sah den Kartons von Gerbers Babynahrung und Pampers-Medium-Windeln nach.

Er hatte die unbekannte Frau mit dem kleinen Jungen und dem Baby gefunden.

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