Der ärztliche Rettungshubschrauber ging vor dem Eingang nieder, der Rotor wurde abgestellt, und die Blätter schwangen langsam aus. Entsprechend der Regeln für das Ausladen von Patienten, ging anschließend erst die Ausgangstür auf, und die Metalltreppe wurde ausgefahren. Ein uniformierter Assistenzarzt ging Panov voraus, drehte sich um und half dem Doktor nach unten, wo ein zweiter Mann in Zivil ihn zu einem wartenden Wagen begleitete. Drinnen warteten Peter Holland, Direktor der CIA, und Alex Conklin. Der Psychiater setzte sich neben Holland; er atmete mehrmals tief durch, seufzte vernehmlich und ließ sich in die Polsterung sinken.
«Ich bin ein Verrückter«, stellte er fest und betonte jedes Wort.»Nachweisbar schwachsinnig, und ich werde selbst meine Einlieferungspapiere unterschreiben.«
«Sie sind in Sicherheit, das ist das Wichtigste, Doktor«, sagte Holland.
«Schön, dich zu sehen, verrückter Mo«, fügte Conklin hinzu.
«Habt ihr eine Ahnung, was ich gemacht habe?… Ich habe einen Wagen gegen einen Baum gesetzt, gezielt und mit mir drinnen. Nachdem ich dann endlos gelaufen bin, wurde ich von der einzigen mir bekannten Person mitgenommen, die mehr lockere Schrauben im Kopf hat als ich.
Ihre Libido ist zerrüttet, und sie ist ihrem Mann, einem Lkw-Fahrer davongelaufen — der ihr hart auf den Fersen war und der, wie ich dann erfuhr, den süßen Namen Bronk trägt. Meine verrückte Chauffeuse hielt mich als Geisel, indem sie drohte, mich in einem überfüllten Trucker-Restaurant als Vergewaltiger anzuprangern. Einer von denen war allerdings okay und hat mich da rausgeholt. «Panov hielt abrupt inne und griff in die
Tasche.»Hier«, fuhr er fort und drückte Conklin die fünf Führerscheine und beinahe sechstausend Dollar in die Hand.
«Was ist das?«fragte Alex verwundert.
«Ich habe eine Bank ausgeraubt und mich entschlossen, ein professioneller Fahrer zu werden… Was denkst du denn, was das ist? Ich hab das dem Kerl abgenommen, der mich bewacht hat. Ich habe der Crew des Hubschraubers, so gut es ging, beschrieben, wo der Unfall stattgefunden hat. Sie fliegen zurück, um ihn zu finden. Werden sie auch. Der läuft nirgendwohin.«
Peter Holland griff nach dem Telefon im Wagen und drückte drei Knöpfe. Nach zwei Sekunden sagte er:»Sagt der EMS-Arlington, Besatzung siebenundfünfzig, daß der Mann, den sie einsammeln, direkt nach Langley gebracht wird. In die Krankenabteilung. Und haltet mich über die Geschehnisse auf dem laufenden… Entschuldigung, Doktor, machen Sie weiter.«
«Weiter? Wieso weiter? Ich wurde gekidnappt, in einem Bauernhaus gefangengehalten und bekam, wenn ich nicht irre, genug Sodium Pentothal gespritzt, um mich zu einem Bewohner von Phantasia zu machen, wessen mich auch besagte Madame Scylla Charybdis beschuldigte.«
«Wovon reden Sie?«fragte Holland.
«Nichts, Admiral oder Mr. Direktor oder…«
«Peter reicht, Mo«, vervollständigte Holland.»Ich hab Sie einfach nicht verstanden.«
«Es gibt nichts zu verstehen außer den Tatsachen. Meine Andeutungen sind zwanghafte Versuche falscher Gelehrsamkeit. Wird Posttraumatischer Streß genannt.«
«Gut, jetzt sind Sie vollkommen verständlich.«
Panov wandte sich mit einem nervösen Lächeln an den DCI.»Jetzt muß ich mich entschuldigen, Peter. Ich bin immer noch aufgedreht. Dieser heutige Tag paßt nicht gerade zu meinem gewöhnlichen Lebensstil.«
«Ich glaube auch nicht, daß es der alltägliche Lebensstil von sonst irgend jemandem ist«, ergänzte Holland.
«Es eilt ja nicht, Mo«, fügte Conklin hinzu.»Setz dich nicht unter Druck. Du bist gestraft genug. Wenn du willst, verschieben wir das Gespräch um ein paar Stunden, und du ruhst dich erst mal aus.«
«Sei kein verdammter Idiot, Alex!«protestierte der Psychiater scharf.»Zum zweiten Mal habe ich Davids Leben aufs Spiel gesetzt. Das zu wissen, ist die größte Strafe. Wir dürfen keine Minute verlieren… Vergessen Sie Langley, Peter. Bringen Sie mich in eine Ihrer Kliniken. Ich will hemmungslos versuchen, mich an alles zu erinnern, egal, wie tief im Unbewußten es bei mir sitzt. Schnell. Ich sage den Ärzten, was sie tun müssen.«
«Sie machen wohl Witze«, sagte Holland und starrte Panov an.
«Ich scherze keinen Augenblick. Ihr beide müßt wissen, was ich weiß — ob ich mir dessen bewußt bin, daß ich es weiß, oder nicht. Könnt ihr das nicht verstehen?«
Der Direktor griff wieder zum Telefon und drückte einen Knopf. Auf dem Fahrersitz hinter der gläsernen Trennwand nahm der Chauffeur den Hörer neben seinem Sitz auf.
«Es gibt eine Änderung«, sagte Holland.»Fahren Sie zur Sterilabteilung Nummer fünf.«
Der Wagen wurde langsamer und bog an der nächsten Abzweigung nach rechts, Richtung der gewellten Hügel und grünenden Felder Virginias. Morris Panov schloß die Augen, als wäre er in Trance oder sähe einem schrecklichen Ereignis entgegen — seiner eigenen Hinrichtung vielleicht. Alex sah Peter Holland an. Beide äugten zu Mo hinüber und sahen dann wieder einander an. Was immer Panov tat, es gab einen Grund dafür. Bis sie ihr neues Ziel erreicht hatten, sprachen sie kein Wort.
«DCI und Begleitung«, verkündete der Fahrer dem Wächter in der Uniform einer privaten Wachfirma, die aber in
Wirklichkeit der CIA gehörte. Der Wagen fuhr die lange, mit Bäumen bestandene Einfahrt hinunter.
«Danke«, sagte Mo, als er die Augen öffnete und blinzelte.»Ich bin sicher, ihr habt verstanden, daß ich einen klaren Kopf gewinnen und meinen Blutdruck senken mußte.«
«Das muß doch nicht hier sein«, insistierte Holland.
«Doch, doch«, sagte Panov.»Vielleicht könnte ich nach und nach die Dinge auch so einigermaßen klar auf die Reihe bringen, aber das würde dauern, und wir haben keine Zeit. «Mo wandte sich an Conklin.»Was kannst du mir sagen?«
«Peter weiß alles. Um deines Blutdrucks willen möchte ich dich jetzt nicht mit Details belasten, aber das Wesentliche ist, daß es David gutgeht. Zumindest haben wir nichts Gegenteiliges gehört.«
«Marie? Die Kinder?«
«Auf der Insel«, antwortete Alex, ohne Holland in die Augen zu sehen.
«Wie steht's mit dieser Anstalt?«fragte Panov und sah Peter Holland an.»Ich nehme an, daß es da einen oder mehrere Spezialisten gibt, wie ich sie brauche.«
«Im Schichtwechsel rund um die Uhr. Wahrscheinlich kennen Sie sogar einige von ihnen.«
«Lieber nicht.«
Das lange, schwarze Fahrzeug bog in die runde Auffahrt und hielt vor den Steinstufen einer georgianischen Villa mit Säulenentree, die das Zentrum der Anlage bildete.
«Gehen wir«, sagte Mo ruhig und stieg aus.
Die geschnitzten weißen Türen, der rosige Marmorboden und das elegante Treppenhaus in der geräumigen Eingangshalle lieferten eine wunderbare Tarnung für die in dieser Abteilung geleistete Arbeit. Überläufer, Doppel- und Dreifachagenten, CIA-Agenten, die von komplizierten Aufträgen zurückkehrten, wurden hier einquartiert, um Ruhe zu finden oder den nächsten Einsatz zu besprechen. Das Personal, das insgesamt der VierNull-Geheimhaltung unterlag, bestand in den verschiedenen Abteilungen aus jeweils zwei Ärzten und drei Schwestern. Die Köche und Hausangestellten wurden aus dem Personal im Auslandsdienst — hauptsächlich Botschaften in Übersee — rekrutiert, und die Wächter hatten alle eine Rangerausbildung. Sie bewegten sich unauffällig durch Haus und Gelände, mit ständig wachem Blick, jeder entweder mit einer versteckten oder offen getragenen Waffe, außer den Ärzten natürlich. Besuchern wurden ausnahmslos von ihrem Begleiter im dunklen Anzug kleine Namensschilder angeheftet, auf denen Zweck und Ziel ihrer Besuche vermerkt waren.
Ihr Begleiter heute war ein grauhaariger früherer Dolmetscher der CIA, aber er machte sich so gut in seiner neuen Aufgabe, daß er auch von einer der großen Rundfunkanstalten hätte kommen können. Der Anblick von Peter Holland erstaunte ihn. Er rühmte sich, das gesamte Programm der Abteilung im Kopf zu haben.
«Ein Überraschungsbesuch, Sir?«
«Schön, Sie zu sehen, Frank. «Der DCI schüttelte dem ehemaligen Dolmetscher die Hand.»Sie erinnern sich vielleicht an Alexander Conklin…«
«Guter Gott, bist du es, Alex? Es muß Jahre her sein!«Wieder Händeschütteln.»Wann war das letztemal?… Diese verrückte Frau aus Warschau, oder?«
«Der KGB lacht immer noch drüber«, sagte Conklin.»Das einzige Geheimnis, das sie kannte, war das Rezept für die schlimmste golumpki, die ich jemals gegessen habe… Immer noch dabei, Frank?«
«Hin und wieder«, antwortete der Begleiter und machte eine scherzhafte Grimasse.»Diese jungen Übersetzer können doch keine quiche von einer kluski unterscheiden.«
«Ich auch nicht«, sagte Holland,»aber kann ich trotzdem vielleicht kurz mit Ihnen reden, Frank?«Die beiden Männer gingen auf die Seite, um leise miteinander zu sprechen, während Mo Panov und Alex warteten. Mo runzelte die Stirn und atmete sporadisch tief durch. Der Direktor kam mit zwei Ansteckschildchen zurück und gab sie seinen Kollegen.
«Ich weiß, wo wir hinmüssen«, sagte er.»Frank wird schon anrufen. «Die drei gingen eine gewundene Treppe hinauf und dann einen Flur mit einer reichverzierten Tapete hinunter zum rückwärtigen Teil des riesigen Gebäudes. In der rechten Wand war eine Tür, ganz verschieden von den anderen, an denen sie bis dahin vorübergekommen waren. Sie war aus massiver, gefirnißter Eiche mit vier kleinen Fenstern, die oben in sie eingelassen waren, und zwei schwarzen Knöpfen in einem Kästchen neben dem Griff. Holland steckte einen Schlüssel hinein, drehte ihn und drückte den unteren Knopf. Ein rotes Licht an der kleinen Deckenkamera leuchtete auf. Zwanzig Sekunden später war das vertraute metallische Klirren eines Aufzugs zu hören, der zum Halten kam.
«Hinein, meine Herren«, befahl der DCI. Die Tür schloß sich, und der Fahrstuhl fuhr nach unten.
«Wir sind hoch, um dann wieder runterzufahren?«fragte Conklin.
«Sicherheit«, antwortete der Direktor.»Es ist die einzige Möglichkeit, dorthin zu gelangen, wohin wir wollen. Unten und im ersten Stock gibt es keinen Fahrstuhl.«
«Und warum nicht, wenn man fragen darf?«sagte Alex.
«Alle Zugänge zu den Kellergewölben sind versiegelt«, sagte der DCI,»außer zwei Fahrstühlen, die am Parterre und am ersten Stock vorüberfahren und für die man einen Schlüssel braucht. Dieser hier bringt uns dorthin, wohin wir wollen, und der andere führt in die Heizungsräume, die Küchen, Belüftungsanlagen und was es da sonst noch gibt. Nebenbei bemerkt, wenn der Schlüssel nicht zu einer bestimmten Zeit in sein Schloß zurückkehrt, dann gibt es Alarm.«
«Das kommt mir alles unnötig kompliziert vor«, sagte Panov.»Teures Spielzeug.«
«Nicht unbedingt, Mo«, unterbrach ihn Conklin.»Bomben können leicht in Heizröhren versteckt werden. Und hast du etwa gewußt, daß in Hitlers letzten Tagen in seinem Bunker einige seiner vernünftigeren Adjutanten versuchten, Giftgas in die Luftfilteranlage zu leiten? Das alles sind einfach Vorsichtsmaßnahmen.«
Der Fahrstuhl hielt, und die Tür öffnete sich.
«Nach links, Doktor«, sagte Holland. Der Flur war in hellem, einfachem Weiß gehalten, antiseptisch. Dieser unterirdische Komplex beherbergte ein außerordentliches medizinisches Zentrum, das nicht nur den Zweck hatte, kranken Frauen und Männern zu helfen, sondern auch, sie zu zerbrechen, ihren Widerstand zu zerstören, um Informationen zu enthüllen, Wahrheiten zu gewinnen — was nicht selten etliche Leben retten half.
Sie betraten ein Zimmer, das in starkem Widerspruch zu dem antiseptischen Flur stand. Da gab es schwere Sessel und indirektes Licht und eine Kaffeemaschine auf einem Tisch mit Tassen und Löffeln. Auf anderen Tischen lagen säuberlich geordnet Zeitungen und Zeitschriften bereit, alle Bequemlichkeiten einer Lounge für Leute, die auf etwas oder jemanden warteten. In einer Tür erschien ein Mann in weißem Arztkittel. Er runzelte die Stirn.
«Direktor Holland?«fragte er und ging mit ausgestreckter Hand auf Peter zu.»Ich bin Dr. Walsh, zweite Schicht. Ich brauche nicht zu sagen, daß wir Sie nicht erwartet haben.«
«Ich fürchte, es handelt sich um einen Notfall und nicht um einen, den ich mir ausgesucht habe. Darf ich Ihnen Dr. Morris Panov vorstellen — falls Sie ihn nicht kennen.«
«Ja, natürlich. «Walsh streckte erneut seine Hand aus.»Ein Vergnügen, Doktor, und eine Ehre.«
«Vielleicht nehmen Sie beides wieder zurück, bevor wir die Geschichte hinter uns gebracht haben, Doktor. Kann ich Sie privat sprechen?«
«Gewiß, mein Büro ist da drinnen. «Die beiden Männer verschwanden durch die Tür.
«Solltest du nicht mit hineingehen?«fragte Conklin.
«Warum du nicht?«
«Verdammt, du bist der Direktor. Du solltest darauf bestehen!«
«Du bist sein engster Freund. Du hättest es tun sollen.«
«Hier habe ich keinen rechten Mumm.«
«Und meiner ist verschwunden, als Mo uns beiseite schob. Trinken wir einen Kaffee. An diesem Ort bekomme ich die sprichwörtliche Gänsehaut. «Holland ging zum Kaffeetisch und schenkte zwei Tassen ein.»Wie willst du ihn?«
«Mit mehr Milch und Zucker, als ich eigentlich haben dürfte. Ich mach's schon.«
«Ich nehme ihn immer noch schwarz«, sagte der Direktor, kam vom Tisch zurück und holte eine Schachtel Zigaretten hervor.»Meine Frau sagte, die Säure wird mich eines Tages umbringen.«
«Andere wieder sagen, es sei der Tabak.«
«Was?«
«Sieh mal. «Alex zeigte auf ein Schild an der Wand gegenüber:»Danke, daß Sie nicht rauchen.«
«Dafür habe ich noch den Mumm«, meinte Holland ruhig und zündete sich seine Zigarette an.
Es vergingen beinahe zwanzig Minuten. Hin und wieder griff einer von ihnen nach einer Zeitung oder einem Magazin, nur um
es ein paar Augenblicke später wieder hinzulegen und auf die Tür zu starren. Schließlich, achtundzwanzig Minuten nachdem er mit Panov verschwunden war, kam der Arzt mit Namen Walsh zurück.
«Er sagt, Sie wissen, was er verlangt, und daß Sie keine Einwände haben, Direktor Holland.«
«Ich habe reichlich Einwände, aber es scheint, daß er sich darüber hinwegsetzen möchte… Oh, entschuldigen Sie, Doktor, dies ist Alex Conklin. Er ist einer von uns und ein enger Freund von Panov.«
«Wie denken Sie, Mr. Conklin?«fragte Walsh, nachdem er den Gruß von Alex erwidert hatte.
«Ich hasse das, was er vorhat, doch er meint, daß es etwas bringen wird. Und wenn es so ist, dann ist es gut für ihn, und ich verstehe, warum er darauf besteht. Hat es einen Sinn, Doktor? Und wie groß ist das Risiko eines Schadens?«
«Ein Risiko ist immer gegeben, wenn Drogen im Spiel sind, besonders wenn es auf die chemische Balance ankommt, aber das weiß er. Deshalb hat er eine intravenöse Spritze angeordnet, was den eigenen psychologischen Schmerz verlängert, aber das Risiko in gewisser Weise vermindert.«
«In gewisser Weise?«schrie Alex.
«Ich bin aufrichtig. Er ist es auch.«
«Das Fazit, Doktor«, sagte Holland.
«Wenn es schiefläuft, zwei oder drei Monate Therapie, nicht auf Dauer.«
«Und der Sinn?«insistierte Conklin.»Ist es sinnvoll?«
«Ja«, antwortete Walsh.»Was ihm widerfahren ist, ist nicht nur ganz frisch, sondern es frißt ihn auch auf. Sein Bewußtsein ist förmlich davon besessen, was nur bedeuten kann, daß sein Unterbewußtsein in völligem Aufruhr ist. Er hat ohne Frage recht… er besteht darauf, daß wir anfangen, und nach allem, was er mir sagte, werde ich es tun — das würde jeder von uns hier.«
«Wie ist es mit der Sicherheit?«fragte Alex.
«Die Schwester wird vor der Tür warten. Es wird nur ein batteriegetriebenes Aufnahmegerät geben und mich… und einer von Ihnen oder Sie beide. «Der Doktor ging wieder zur Tür.»Wenn es soweit ist, werde ich nach Ihnen schicken.«
Conklin und Peter Holland sahen sich an. Die zweite Warteperiode begann.
Zu ihrem Erstaunen dauerte sie nur zehn Minuten. Eine Schwester kam in das Wartezimmer und bat sie, ihr zu folgen. Sie liefen durch einen wahren Irrgarten von anti septischen weißen Wänden, und nur einmal auf ihrem Weg begegneten sie einem anderen menschlichen Wesen. Es war ein Mann in einem weißen Kittel und mit einer weißen Operationsmaske, der aus einer der weißen Türen kam, und sie mit einem scharfen, intensiven Blick musterte, der irgendwie anklagend wirkte. Sie fühlten sich wie Fremde aus einer anderen Welt.
Die Schwester öffnete eine Tür, über der eine rote Lampe blinkte. Sie legte ihren Zeigefinger auf die Lippen. Holland und Conklin traten leise in einen dunklen Raum mit einem Vorhang, hinter dem sich ein Bett oder ein Untersuchungstisch verbarg. Ein kleiner Kreis intensiven Lichts schien durch den Stoff. Sie hörten die sanften Worte von Dr. Walsh.
«Sie gehen zurück, Doktor, nicht weit zurück, nur einen Tag oder so, als dieser dumpfe, ständige Schmerz in Ihrem Arm begann… Ihrem Arm, Doktor. Warum fügten die Ihrem Arm Schmerzen zu, Doktor? Sie waren in einem Bauernhaus, einem kleinen Bauernhaus mit Feldern vor dem Fenster, und dann verband man Ihnen die Augen und tat Ihnen am Arm weh. Ihrem Arm, Doktor.«
Plötzlich das gedämpfte Aufleuchten eines grünen Lichtes, das von der Decke reflektiert wurde. Der Vorhang wurde elektronisch einige Handbreit geöffnet, wodurch das Bett, der Patient und der Arzt zu sehen waren. Walsh nahm den Finger von einem Knopf an der Bettkante und machte langsame Bewegungen mit der Hand, um damit zu fragen, ob niemand sonst im Raum sei. Richtig?
Beide Zeugen nickten. Sie waren wie hypnotisiert und wurden dann abgestoßen von Panovs grimassierendem blassen Gesicht und den Tränen, die langsam aus seinen weit geöffneten Augen zu fließen begannen. Dann sahen sie die Bänder, die unter dem Laken hervorkamen, um Mo festzuhalten. Sicher auf seine Anordnung hin.
«Der Arm, Doktor. Wir müssen mit der physisch in Sie dringenden Prozedur beginnen, nicht wahr? Weil wir wissen, was sie bewirkt, nicht wahr, Doktor? Sie führt zu einer anderen Prozedur, die ebenfalls in Sie dringen will, die Sie aber nicht zulassen dürfen. Sie müssen ihr Vordringen verhindern.«
Ein ohrenbetäubender Schrei wurde zu einem langgezogenen Ton des Schreckens und des Sträubens.»Nein, nein! Ich werde euch nichts sagen. Ich habe ihn einmal getötet, ich will ihn nicht noch mal töten! Laßt mich in Ruuuuuuhe…!«
Alex klappte zusammen. Peter Holland packte ihn, und sanft brachte der starke, breitschultrige Veteran Conklin durch die Tür zur Schwester.»Bringen Sie ihn bitte weg von hier.«
«Ja, Sir.«
«Peter«, keuchte Alex und versuchte zu stehen, mußte sich aber von der Schwester helfen lassen.»Tut mir leid, tut mir so leid!«
«Warum denn?«flüsterte Holland.
«Ich wollte zuschauen, aber ich kann es nicht.«
«Ich verstehe. Er steht dir zu nahe. Wenn ich du wäre, könnte ich es wahrscheinlich auch nicht.«
«Nein, du verstehst nicht! Mo sagte, er hat David getötet, aber das hat er natürlich nicht getan. Ich! Ich hatte die Absicht, ich wollte ihn töten! Ich war im Unrecht, aber ich versuchte mit all den Möglichkeiten, die mir zur Verfügung standen, ihn zu töten! Und jetzt habe ich es wieder getan. Indem ich ihn nach Paris gelassen habe… Nicht Mo, ich!«
«Setzen Sie ihn gegen die Wand, Schwester, und lassen Sie uns bitte allein.«
«Ja, Sir!«Die Schwester tat, wie ihr geheißen, und verschwand durch die nächste Tür.
«Jetzt höre mir mal gut zu, mein alter Agent«, flüsterte der grauhaarige Direktor der CIA und kniete vor Conklin nieder,»dieser dämliche Ringelreigen von wegen Schuld und so, das hört jetzt auf, das muß aufhören, sonst wird niemand für irgend jemanden von Nutzen sein. Ich scheiß darauf, was du oder Panov vor dreizehn Jahren getan habt oder vor fünf Jahren oder jetzt! Wir sind vernünftige, gutmeinende Menschen, und wir haben getan, was jeder von uns getan hätte, weil wir zu dem Zeitpunkt dachten, das es das richtige wäre… Stell dir mal vor, heiliger Alex! Ja, den Ausdruck habe ich schon gehört. Wir machen Fehler. Verdammt komisch, nicht? Vielleicht sind wir am Ende gar nicht so großartig? Vielleicht ist Panov gar nicht der größte Verhaltensforscher oder was er auch immer ist. Vielleicht bist du eben auch nicht der gewitzteste Hurensohn draußen vor Ort, und vielleicht tauge ich nicht zur grauen Eminenz der Strategie, zu der sie mich gemacht haben. Und was heißt das? Wir schnüren unser Bündel und ziehen dorthin, wohin wir müssen.«
«Um Himmels willen, halt die Klappe!«bellte Conklin.
«Psst!«
«Ach, Scheiße! Das letzte, was mir jetzt gerade fehlt, ist so ein Sermon von dir! Wenn ich meinen Fuß noch hätte, würde ich ihn jetzt benutzen!«
«Sollen wir handgreiflich werden?«
«Ich hatte den Schwarzen Gürtel. Erster Klasse, Admiral.«
«Donnerwetter! Ich kann nicht einmal ringen.«
Sie sahen sich an, und Alex war der erste, der leise zu lachen begann.»Du bist unmöglich, Peter. Aber ich habe verstanden. Hilf mir auf die Beine, ja? Ich gehe zurück ins Wartezimmer und warte auf dich. Komm schon, hilf mir.«
«Den Teufel werde ich tun«, sagte Holland.»Hilf dir selbst. Man hat mir erzählt, daß der heilige Alex sich über zweihundert Kilometer durch feindliches Gebiet geschlagen hat, durch Flüsse, Ströme und Dschungel, und im Basislager Foxtrot angekommen ist und als erstes gefragt hat, ob jemand eine Flasche Bourbon habe.«
«Tja, richtig, aber da war ich ein ganzes Stück jünger, und ich hatte noch einen Fuß mehr.«
«Stell dir vor, du hast ihn immer noch. «Holland winkte ihm zu.»Ich gehe wieder hinein. Einer von uns muß dabeisein.«
«Bastard!«
Eine Stunde und siebenundvierzig Minuten saß Conklin im Wartezimmer. Sein Bein mit der Fußprothese pochte. Oh, wie er sich gewünscht hatte, die Welt zu verändern, als er noch jung war und beide Füße hatte. Und wie gut er sich gefühlt hatte, der jüngste Student in der Geschichte der Schule geworden zu sein, der die Abschiedsrede hielt, der jüngste, der je in Georgetown angenommen worden war, ein helles, helles Licht, das am Ende des akademischen Tunnels leuchtete. Sein Abstieg hatte begonnen, als jemand irgendwo herausfand, daß sein Geburtsname nicht Alexander Conklin, sondern Aleksej Nikolaj Konsolikow war. Beiläufig war ihm eine Frage gestellt worden, und die Antwort darauf hatte Conklins Leben verändert.
«Sprechen Sie zufällig russisch?«
«Natürlich«, hatte er geantwortet, amüsiert, daß sein Besucher überhaupt etwas anderes annehmen konnte.»Wie Sie offensichtlich wissen, waren meine Eltern Einwanderer. Ich bin nicht nur in einem russischen Elternhaus aufgewachsen, sondern auch in einem russischen Viertel — zumindest in den ersten Jahren. Ohne Russisch konnte man da nicht mal einen Laib Brot kaufen. Und in der Schulkirche hielten die älteren Priester und Nonnen eisern, genau wie die Polen, an der Sprache fest… Ich bin sicher, daß das dazu beigetragen hat, daß ich den Glauben verloren habe.«
«Das war also in den ersten Jahren, so haben Sie sich doch ausgedrückt.«
«Ja.«
«Was also hatte sich geändert?«
«Ich bin sicher, daß es irgendwo in Ihren Regierungsberichten steht und Ihren bösartigen Senator McCarthy kaum befriedigen wird.«
Mit der Erinnerung an diese Worte sah er auch das Gesicht wieder vor sich. Es war das Gesicht eines Mannes in mittleren Jahren, das plötzlich ausdruckslos wurde, in dem sich die Augen vor unterdrücktem Ärger verfinsterten.»Ich versichere Ihnen, Mr. Conklin, daß ich in keiner Weise mit dem Senator verbunden bin. Sie nennen ihn bösartig, ich würde es anders ausdrücken, aber das würde sich hier nicht schicken… Was hatte sich verändert?«
«Ziemlich spät in seinem Leben wurde mein Vater das, was er schon in Rußland gewesen ist: ein sehr erfolgreicher Händler, ein Kapitalist. Er besitzt sieben Supermärkte in großen Ladenpassagen. Sie werden Conklin's Corners genannt. Er ist jetzt über achtzig, und obwohl ich ihn sehr Liebe, bedaure ich, sagen zu müssen, daß er ein eifriger Anhänger des Senators ist. Ich denke einfach an sein Alter, seine Kämpfe, seinen Haß auf die Sowjets und vermeide das Thema.«
«Sie sind sehr diplomatisch.«
«Diplomatisch«, hatte Alex zugestimmt.
«Ich habe des öfteren in Conklin's Corners eingekauft. Ziemlich teuer.«
«Oh, ja.«
«Woher stammt das Conklin?«
«Von meinem Vater. Meine Mutter erzählt, er hätte es auf einer Reklametafel gesehen, auf der Motorenöl angepriesen wurde, vier oder fünf Jahre nachdem sie hier waren. Und natürlich mußte Konsolikow abtreten. Wie mein sehr bigotter Vater einmal sagte: Nur die Juden mit russischen Namen können hier Geschäfte machen. Auch dieses Thema vermeide ich.«
«Sehr diplomatisch.«
«Es ist nicht schwierig. Er hat auch seine guten Seiten.«
«Selbst wenn er sie nicht hätte, bin ich sicher, daß Sie in Ihrer Diplomatie überzeugend wären — es würde Ihnen nichts von Ihrer Fähigkeit nehmen, Ihre wahren Gefühle zu verbergen.«
«Wie komme ich eigentlich darauf, daß dies hier ein wichtiges Gespräch ist?«
«Weil es tatsächlich so ist, Mr. Conklin. Ich vertrete eine Abteilung der Regierung, die an Ihnen äußerst interessiert ist, eine, in der Ihre Zukunft ebenso unbegrenzt wäre wie die jedes Kandidaten, mit dem ich in den vergangenen zehn Jahren gesprochen habe…«
Diese Unterhaltung liegt beinahe dreißig Jahre zurück, dachte Alex, während seine Augen wieder zur Tür des Wartezimmers hinüberwanderten. Und wie verrückt die dazwischenliegenden Jahre gewesen sind. Ohne Rücksicht auf sich selbst hatte sein Vater sich zu einer unrealistischen Expansion entschlossen und sich übernommen. Er jonglierte mit ungeheuren Geldsummen, die nur in seiner Phantasie existierten — und in den Köpfen geiziger Bankiers. So verlor er sechs seiner sieben Supermärkte, und der letzte ihm verbliebene ermöglichte ihm lediglich einen Lebensstil, den er unerträglich fand. Folglich bekam er einen Schlaganfall. Er starb an einem Schlaganfall, als das erwachsene Leben von Alex gerade begann.
Berlin, Ost und West, Moskau, Leningrad, Taschkent und Kamtschatka. Wien, Paris, Lissabon und Istanbul. Dann auf der anderen Seite der Welt in Tokio, Hongkong, Seoul, Kambodscha, Laos und schließlich Saigon und die Tragödie, die Vietnam war. Über die Jahre, durch sein Sprachgenie und seine Erfahrung, war er der Spitzenmann der CIA für verdeckte Operationen geworden und oft der Ad-hoc-Stratege für spezielle, meist schnelle getarnte Aktivitäten. Dann eines Morgens, als der Nebel noch über dem Mekongdelta hing, erschütterte eine Tretmine sein Leben, und er verlor seinen Fuß. Für einen Mann der Praxis, der bei seiner Arbeit vor allem mobil sein mußte, war das praktisch das Ende. Dann schied er aus dem Außendienst aus, und es ging bergab. Sein übermäßiges Trinken akzeptierte er und erklärte es als genetisch bedingt. Der russische Winter der Depression ging in Frühling, Sommer und Herbst über. Das zum Skelett abgemagerte, zitternde Wrack eines Mannes, der dabei war unterzugehen, erhielt eine Galgenfrist. David Webb — Jason Borowski — kam zurück in sein Leben.
Die Tür ging auf und unterbrach gnädig seine Träumereien. Peter Holland kam langsam herein. Sein Gesicht war blaß und verzerrt, sein Blick glasig, und in seiner Linken hielt er zwei Plastikhüllen, wahrscheinlich Kassetten.
«Solange ich lebe«, sagte Peter mit leiser und hohler Stimme, fast ein Flüstern,»hoffe ich, so etwas niemals mehr miterleben zu müssen, niemals mehr Zeuge einer solchen Sache werden zu müssen.«
«Wie geht es Mo?«
«Ich hab nicht geglaubt, daß er es überleben würde… Ich dachte, er würde sich umbringen. Walsh war immer wieder nahe daran, es abzubrechen. Ich kann dir sagen, ihm saß die Angst im Nacken.«
«Und warum hat er es nicht getan, in Gottes Namen?«
«Er sagte, Panovs Anweisungen seien nicht nur sehr detailliert, sondern daß er sie zudem niedergeschrieben und unterzeichnet habe und erwarte, daß sie wörtlich eingehalten würden. Vielleicht gibt es so etwas wie einen ungeschriebenen Kodex zwischen Ärzten, ich weiß es nicht. Aber ich weiß, daß Walsh ihn an ein EKG anschloß, was er nicht aus den Augen ließ. Ich auch nicht. Das war leichter, als Mo anzuschauen. Laß uns hier weggehen!«
«Einen Moment noch. Was ist mit Panov?«
«Er ist noch nicht soweit, um eine Party zur Feier seiner Rückkehr zu veranstalten. Er wird für ein paar Tage unter Beobachtung bleiben. Walsh wird mich morgen früh anrufen.«
«Ich würde ihn gerne sehen. Ich will ihn sehen.«
«Es gibt nichts zu sehen. Glaube mir, du würdest es nicht wollen und er auch nicht. Laß uns gehen.«
«Wohin?«
«Zu dir nach Vienna — zu uns nach Vienna. Ich nehme an, du hast ein Kassettendeck.«
«Ich habe alles außer einer Mondrakete. Das meiste kann ich nicht bedienen.«
«Ich möchte eine Pause und eine Flasche Whisky.«
«Es gibt alles, was du willst, im Appartement.«
«Stört es dich nicht?«fragte Holland und sah Alex scharf an.»Würde es was machen, wenn es das täte?«
«Nicht im geringsten… Wenn ich mich recht erinnere, gibt es da auch noch ein extra Schlafzimmer.«
«Ja.«
«Gut. Wahrscheinlich sind wir die halbe Nacht auf, um uns das anzuhören. «Der Direktor hielt die Kassetten hoch.»Die ersten Male bringen nichts. Weil wir da nur seine Schmerzen mitbekommen, nicht die Informationen.«
Es war kurz nach fünf Uhr nachmittags, als sie das Gelände verließen. Die Tage wurden kürzer, der September stand vor der Tür, und die untergehende Sonne kündete die bevorstehende Veränderung mit einer Farbintensität an, die nur den Tod der einen Jahreszeit und die Geburt der nächsten bedeuten konnte.»Das Licht ist immer am hellsten, wenn wir sterben müssen«, sagte Conklin und lehnte sich im Wagen neben Holland zurück, wobei er zum Fenster hinausblickte.»Ich finde das äußerst unpassend«, erklärte Peter ärgerlich.»Wer hat das gesagt?«
«Jesus, glaube ich.«
«Die Schrift wurde niemals ordentlich herausgegeben. Zu viele Lagerfeuer und zu wenig Bestätigung durch Augenzeugen.«
Alex lachte leise und nachdenklich.»Hast du sie jemals gelesen? Die Schrift, meine ich.«
«Das meiste, ja.«
«Weil du mußtest?«
«Zum Teufel, nein. Mein Vater und meine Mutter waren so agnostisch, wie es zwei Leute nur sein konnten. Sie schickten mich und meine beiden Schwestern in der einen Woche in einen protestantischen Gottesdienst, in der nächsten in einen katholischen und dann in eine Synagoge. Nicht so regelmäßig. Ich glaube, sie wollten, daß wir alles kennenlernten. Das bringt Kinder zum Lesen. Natürliche Neugier, in Mystizismus gehüllt.«
«Unwiderstehlich«, pflichtete Conklin bei.»Ich habe meinen Glauben verloren, und jetzt, nach all den Jahren, durch die ich
meine geistige Unabhängigkeit behauptet habe, frage ich mich, ob mir nicht was fehlt.«
«Was denn?«
«Trost, Peter. Ich habe keinen Trost.«
«Wozu?«
«Ich weiß nicht. Dinge, die ich nicht kontrollieren kann, vielleicht.«
«Du meinst, dir fehlt der Trost einer metaphysischen Entschuldigung. Tut mir leid, Alex, aber da kann ich dir nicht folgen. Wir sind verantwortlich für das, was wir tun. Und daran kann keine Absolution etwas ändern.«
Conklin wandte sich Holland zu und sah ihn mit weit geöffneten Augen an.
«Danke«, sagte er.
«Wofür?«
«Daß du genauso sprichst wie ich, vielleicht mit etwas anderen Worten… Ich kam vor fünf Jahren aus Hongkong zurück, mit dem Banner der Verantwortlichkeit an meiner Lanze.«
«Da komme ich nicht mit.«
«Vergiß es. Es geht schon wieder… Hüte dich vor den Fallgruben ecklesiastischer Mutmaßungen und selbstverzehrender Gedanken.«
«Wer hat das wieder gesagt?«
«Entweder Savonarola oder Salvador Dali, ich weiß nicht mehr, wer.«
«Laß uns damit aufhören«, lachte Peter.
«Warum denn? Wir können wenigstens wieder lachen. Und was ist mit deinen beiden Schwestern? Was ist aus denen geworden?«
«Das ist ein noch besserer Witz«, antwortete Peter. Er legte das Kinn auf die Brust, und seine Lippen umspielte ein boshaftes Lächeln.»Eine ist Nonne in Neu-Delhi und die andere Präsidentin ihrer eigenen Werbefirma in New York, und sie kann besser jiddisch als ihre meisten Kollegen in der Branche. Vor ein paar Jahren erzählte sie mir, daß sie aufgehört haben, sie ein Schickse zu nennen. Sie liebt ihr Leben, genau wie meine Schwester in Indien.«
«Trotzdem bist du zum Militär.«
«Nicht trotzdem, Alex… Und ich habe es ganz bewußt getan. Ich war ein zorniger junger Mann, der glaubte, dieses Land verwahrlose vollkommen. Ich stamme aus einer privilegierten Familie — Geld, Einfluß, eine teure Privatschule —, das garantierte mir — mir, nicht dem schwarzen Kind in den Straßen von Philadelphia oder Harlem automatisch den Zugang zur Uni in Annapolis. Ich dachte einfach, daß ich diese Privilegien auch verdienen müsse. Ich mußte zeigen, daß Leute wie ich nicht einfach nur ihre Vorteile ausnutzten, ihren Verantwortungen aber aus dem Weg zu gehen.«
«Noblesse oblige — Adel verpflichtet.«
«Das ist ungerecht«, protestierte Holland.
«Doch ist es so, in einem ganz realen Sinn. Auf griechisch heißt aristo der Beste, und kratia ist das Wort für Herrschaft. Im alten Athen führten solche jungen Männer ihre Armeen mit hocherhobenen Schwertern an, standen nicht hinten, sondern in erster Reihe, um ihren Truppen zu beweisen, daß sie sich zusammen mit den Niedrigsten unter ihnen opfern würden, denn die Niedrigsten standen unter ihrem Befehl, dem Befehl der Edelsten.«
Peter Holland lehnte den Kopf nach hinten und schloß halb die Augen.»Vielleicht gehörte das auch dazu, ich bin mir nicht sicher — gar nicht sicher. Wir stellten so viele Fragen: Wofür? Pork Chop Hill? Irgendein unbekanntes, nutzloses Gelände im
Mekongdelta? Warum? Um Himmels willen, warum? Männer wurden erschossen, ihre Bäuche und Köpfe weggeblasen von einem Feind zwei Schritt vor ihnen, einem, der den Dschungel kannte, wie sie ihn nicht kannten. Was für eine Art Krieg war das?… Wenn nicht Männer wie ich zu den Jungs hingegangen wären und gesagt hätten, > Schaut her, hier bin ich, ich bin bei euchc, wie lange glaubst du wohl, hätte das Ganze gedauert? Es hätte Massenrevolten gegeben, und vielleicht hätte es welche geben sollen. Diese Jungs waren das, was manche Leute Nigger und Puertos und Schwachköpfe nennen. Die Privilegierten hatten Druckposten, bei denen sie sich nicht die Hände schmutzig machen mußten — oder Jobs, die gewährleisteten, daß sie nicht in irgendwelche Kämpfe verwickelt wurden. Das hatten die anderen nicht. Und wenn mein Mit-ihnen-Sein etwas bedeutete, dann das, daß es das Gescheiteste war, was ich je getan habe.«
«Tut mir leid, Peter, ich wollte keine alten Geschichten aufrühren, wirklich nicht. Es ist schon verrückt, wie alles sich ineinanderfügt und das eine das andere gebiert, nicht wahr? Wie hast du es genannt? Den Ringelreigen der Schuld. Wo hört er auf?«
«Hier und jetzt«, sagte Holland und richtete sich in seinem Sitz auf, Rücken und Schultern gestreckt. Er griff zum Autotelefon, gab zwei Nummern ein und sagte:»Lassen Sie uns bitte in Vienna heraus. Und danach fahren Sie ins nächste China-Restaurant und bringen uns das Beste, was sie haben…«
Hollands Prophezeiung erwies sich zumindest zur Hälfte als richtig. Das erste Anhören von Panovs Sitzung war quälend, seine Stimme niederschmetternd, wobei der emotionale Gehalt die Informationen überlagerte, besonders für denjenigen, der den Psychiater kannte. Das zweite Anhören rief eine unmittelbare Konzentration hervor, die zweifelsfrei durch den Schmerz, den sie mit anhörten, gefördert wurde. Es gab keine Zeit, persönlichen Gefühlen nachzugeben, die Information wurde plötzlich alles. Beide Männer machten sich auf ihren Blöcken ausführliche Notizen, wobei sie das Band oft anhielten und einzelne Passagen wiederholten. Nach dem vierten Mal hatten Alex und Peter Holland jeder seine dreißig bis vierzig Seiten Notizen; Sie verbrachten noch eine Stunde schweigend, in der jeder seine Analyse durchging.
«Bist du fertig?«fragte der CIA-Direktor von der Couch her mit dem Bleistift in der Hand.
«Sicher«, sagte Conklin, der am Tisch saß, neben sich die Schreibmaschine.
«Irgendwelche einleitenden Bemerkungen?«
«Ja«, meinte Alex.»Neunundneunzig Komma vierundvierzig Prozent von dem, was wir gehört haben, sind unergiebig, außer, daß sie uns zeigen, was für ein außerordentlicher Mann dieser Walsh ist.«
«Stimmt«, sagte Holland.»Walsh ist gut.«
«Mehr als das, aber darum geht es uns hier nicht, sondern nur darum, was er aus Mo rausgeholt hat… Und dabei ist es nicht so wichtig, was Panov enthüllt hat, weil wir davon ausgehen müssen, daß er fast alles enthüllt hat, was ich ihm gesagt habe, sondern wichtig ist, was er gehört hat. «Conklin zog einige Seiten heraus.»Hier ist ein Beispiel: >Die Familie wird erfreut sein… Unser supremo wird uns segnenc. Da wiederholt er die Worte von jemand anderem, nicht seine eigenen. Nimm das Wort supremo capo supremo, wahrlich kein himmlisches höheres Wesen. Plötzlich ist die Familie Lichtjahre von Norman Rockwell entfernt, und der Segen ist eine Art Bonus oder Belohnung.«
«Mafia«, sagte Peter mit festem und klarem Blick, obwohl er schon etliche Drinks zu sich genommen hatte.»Ich habe das noch nicht richtig durchdacht gehabt, aber ich habe es instinktiv angekreuzt… Okay, hier ist noch etwas in derselben Richtung. Auch mir sind Sätze aufgefallen, die nicht zu Panov passen.«
Holland ging seinen Block durch.»Hier: >New York will alles.<«Peter blätterte weiter.»Oder hier: >Die Wall Street ist schon was.<«Noch einmal blätterte der DCI.»Und dies hier. >Blondie Früchtchen…< — der Rest ist unverständlich.«
«Ist mir entgangen, machte für mich wohl keinen Sinn.«
«Wie könnte es auch, Mr. Aleksej Konsolikow?«Holland lächelte.»Unter Ihrem angelsächsischen Äußeren schlägt das Herz eines Russen. Du hast einfach nicht das Gespür für das, was einige von uns erleiden müssen.«
«He?«
«Ich bin Angelsachse, und >Blondie Früchtchen< ist eine der pejorativen Beschreibungen, die uns von, das muß ich zugeben, ebenfalls getretenen Minoritäten verpaßt wurden. Denk mal nach. Armbruster, Swayne, Atkinson, Burton, Teagarten — alles Blondies. Und die Wall Street paßt da auf jeden Fall auch rein.«
«Medusa«, sagte Alex und nickte.»Medusa und die Mafia… Du lieber Gott.«
«Wir haben eine Telefonnummer!«Peter beugte sich vor.»Sie war in dem Heft, das Borowski aus dem Haus von Swayne mitgebracht hat.«
«Ich hab sie schon probiert, erinnerst du dich nicht? Es ist ein Anrufbeantworter, das ist alles.«
«Und das reicht. Wir können ihn lokalisieren.«
«Wozu? Wer immer sich die Botschaften holt, wird sie von weit weg abrufen. Und wenn er oder sie nur einigermaßen sauber im Kopf ist, werden er oder sie es von einem Münztelefon aus machen. So ist er/sie nicht nur nicht aufzuspüren, sondern auch in der Lage, alle anderen Botschaften zu löschen und damit Platz für neue zu schaffen.«
«In der Technik bist du nicht besonders gut bewandert, wie?«
«Sagen wir mal so«, antwortete Conklin.»Ich habe mir schon vor ziemlich langer Zeit ein Videogerät gekauft, um mir die
alten Filme ansehen zu können, aber ich habe bis heute nicht herausgefunden, wie man diese verdammte blinkende Uhr abstellt. Ich hab den Händler angerufen, und der sagte nur: >Lesen Sie die Anweisung auf der Innenklappec. Aber jetzt finde mir mal die Innenklappe.«
«Dann will ich dir erklären, was man mit einem Telefonbeantworter machen kann… wir können ihn extern blockieren.«
«Papperlapapp. Wozu soll das gut sein, verflucht? Außer die Quelle zu zerstören?«
«Du vergißt etwas. Wir wissen, wo die Nummer ist.«
«Oh.«
«Dann muß jemand kommen und das Ding reparieren.«
«Oh.«
«Wir greifen ihn uns und fragen, wer ihn geschickt hat.«
«Na ja, Peter, du hast einfach Möglichkeiten. Ein Neophyt in einer solchen Position, die er in keiner Weise verdient.«
«Schade, daß ich dir keinen Drink anbieten kann.«
Bryce Ogilvie von der Anwaltsfirma Ogilvie, Spofford, Crawford und Cohen diktierte gerade eine sehr komplexe Antwort an die Antitrust-Abteilung des Justizministeriums, als sein geheimes Privattelefon klingelte. Er nahm den Hörer ab und drückte den grünen Knopf.
«Bleiben Sie dran«, befahl er und sah zu seiner Sekretärin hinüber.»Würden Sie mich bitte einen Moment entschuldigen?«
«Gewiß, Sir. «Die Sekretärin stand auf, lief durch das große, beeindruckende Büro und verschwand durch die Tür.
«Ja, was gibt's?«fragte Ogilvie.
«Die Maschine arbeitet nicht«, sagte die Stimme auf der geheiligten Leitung.
«Was ist passiert?«»Weiß ich nicht. Ist ständig besetzt.«
«Es ist ein Top-Gerät. Wie oft haben Sie es probiert?«
«Ich habe es die ganzen vergangenen zwei Stunden über versucht. Da stimmt was nicht. Selbst die besten Geräte gehen mal kaputt.«
«Schicken Sie jemanden, um es zu prüfen, einen von den Niggern.«
«Na klar. Ein Weißer würde da nicht hingehen.«