Kapitel 25

Es war kurz nach Mitternacht, als Borowski aus der Metro in Argenteuil stieg. Er hatte sich die Zeit für die Vorbereitungen, die er treffen mußte, und die Suche nach Marie genau eingeteilt. Er war von einem Arrondissement zum anderen gefahren, hatte sie in Cafes gesucht, in jedem Laden, jedem Hotel, an das er sich erinnern konnte. Mehr als einmal hatte ihm der Atem gestockt, weil er ein Profil, einen dunkelroten Haarschopf im schummrigen Licht eines Cafes oder aus der Ferne für Marie gehalten hatte. Aber jedesmal hatte sich seine Vermutung als falsch herausgestellt.

Alex! Wo, zum Teufel, steckte Conklin? Er konnte ihn nicht erreichen! Er hatte auf Conklin gezählt, daß er sich um die Details kümmerte, in erster Linie die zügige Überweisung von Geld. Der Geschäftstag an der Ostküste der Vereinigten Staaten begann um vier Uhr Pariser Zeit. Da blieb nur eine Stunde, um eine Million amerikanische Dollar abzuheben und an einen Herrn Simon auf eine Bank seiner Wahl in Paris zu überweisen. Und das bedeutete, daß Mr. Simon sich bei eben dieser Bank vorstellen mußte. Bernardine war hilfreich gewesen. Hilfreich? Er hatte die Sache überhaupt erst möglich gemacht.

«Es gibt da eine Bank in der Rue de Grenelle, die häufig vom Deuxieme benutzt wird und wo man entgegenkommend ist, was Öffnungszeiten oder die eine oder andere fehlende Unterschrift angeht. Ist natürlich nicht umsonst, und darüber hinaus trauen sie niemandem, insbesondere dann nicht, wenn jemand mit unserer wohlwollenden sozialistischen Regierung zu tun hat.«

«Sie meinen, nur auf ein Telex oder ein Fax hin machen sie keinen Franc locker?«

«Nicht einen. Der Präsident persönlich könnte anrufen, und sie würden ihm sagen, er solle es sich lieber direkt aus Moskau holen, wo er, wie sie fest glauben, eindeutig hingehört.«

«Da ich Alex nicht erreichen kann, habe ich unseren Mann auf den Cayman-Inseln angerufen, wo Marie den größten Teil des Geldes angelegt hat. Er ist Kanadier, und auch die Bank ist kanadisch. Er wartet auf Anweisungen.«

«Ich werde anrufen. Sind Sie im Pont-Royal?«

«Nein. Ich rufe Sie zurück.«

«Wo sind Sie?«

«Ich denke, man könnte sagen, daß ich ein ängstlicher, konfuser Schmetterling bin, der von einem vage erinnerten Platz zum nächsten flattert.«

«Sie suchen nach ihr.«

«Ja.«

«In gewisser Weise hoffe ich, daß Sie sie nicht finden.«

«Danke. Ich rufe in zwanzig Minuten zurück.«

Er war dann zum Trocadero und dem Palais de Chaillot gegangen. Auf einer der Terrassen war damals auf ihn geschossen worden. Es hatte Gewehrschüsse gegeben und Menschen, die die endlosen Stufen hinabgerannt kamen, zwischendurch verdeckt durch die großen goldenen Skulpturen und die hohen Wasserfontänen, bis sie in den Gärten verschwanden und schließlich außer Sicht- und Reichweite waren. Was war geschehen? Warum erinnerte er sich an den Trocadero…? Marie war dort gewesen irgendwo. Wo in diesem enormen Komplex war sie gewesen? Wo? Eine Terrasse! Sie war auf einer Terrasse gewesen. In der Nähe einer Statue… Welcher Statue? Descartes? Racine? Talleyrand? Die Statue von Descartes fiel ihm zuerst ein.

Er fand sie, aber Marie war nicht dort. Er sah auf seine Uhr; es waren beinahe fünfundvierzig Minuten vergangen, seitdem er mit Bernardine gesprochen hatte. Er suchte eine Telefonzelle.

«Gehen Sie zur Banque Normandie, und fragen Sie nach einem Herrn Tabouri. Er weiß Bescheid und wird glücklich sein, wenn Sie sein Telefon benutzen — natürlich gegen Erstattung der Kosten.«

«Danke, Francois.«

«Wo sind Sie jetzt?«

«Am Trocadero. Es ist verrückt. Ich habe verdammt noch mal so ein unbestimmtes Gefühl, wie Vibrationen, aber sie ist nicht da.«

«Gehen Sie zur Bank.«

Das hatte er getan, und innerhalb von fünfunddreißig Minuten nach dem Anruf auf den Cayman-Inseln hatte der olivenhäutige, ständig lächelnde Monsieur Tabouri ihm bestätigt, seine Gelder seien da. Er verlangte siebenhundertfünfzigtausend Francs in so großen Scheinen wie möglich. Sie wurden ihm ausgehändigt. Und der grinsende, willfährige Banker nahm ihn vertraulich auf die Seite, weg vom Schreibtisch, was leicht idiotisch war, da sich niemand im Büro befand, und sprach am Fenster leise auf ihn ein.

«In Beirut gibt es einige ausgezeichnete Möglichkeiten, Grundstücke zu kaufen. Glauben Sie mir, ich weiß es. Ich bin Experte für den Vorderen Orient, und diese blödsinnigen Kämpfe können nicht mehr lange dauern. Mon Dieu, sonst wird niemand mehr am Leben sein. Es wird sich wieder zum Paris des Mittelmeers mausern. Grundstücke für den Bruchteil ihres Werts, Hotels zu einem lächerlichen Preis!«

«Klingt interessant. Lassen Sie uns in Kontakt bleiben.«

Er war aus der Banque Normandie geflohen, als gäbe es dort Bazillen einer tödlichen Krankheit, war zum Pont-Royal zurückgekehrt, wo er nochmals versuchte, Alex Conklin zu erreichen. Es war beinahe ein Uhr nachmittags in Vienna. Aber alles, was er zu hören bekam, war der Anrufbeantworter mit der irgendwie körperlosen Stimme von Alex, die dem Anrufer mitteilte, eine Nachricht zu hinterlassen. Aus einer Reihe von Gründen hatte Jason das nicht gemacht.

Und jetzt war er in Argenteuil und ging die Stufen der Metro hinauf zur Straße, wo er sich langsam und vorsichtig auf den Weg in die Nachbarschaft des Le Coeur du Soldat machte. Die Anweisungen waren eindeutig gewesen. Er solle nicht als der Mann der vergangenen Nacht kommen, kein Hinken, kein zerlumpter, abgelegter Armeeanzug, nichts, was irgend jemand wiedererkennen könnte. Gekleidet wie ein einfacher Arbeiter solle er zum Tor der alten, geschlossenen Schmelzfabrik gehen, Zigaretten rauchen und sich an eine Mauer lehnen — und zwar zwischen 0.30 Uhr und 1.00 Uhr. Nicht früher, nicht später. Warum all die Vorsichtsmaßnahmen? Die Boten von Santos nahmen bereitwillig mehrere Hundert Francs von ihm an, und der weniger Schüchterne von den beiden sagte:»Santos verläßt niemals das Le Coeur du Soldat.«

«Hat er gestern abend aber getan.«

«Nur für Minuten.«

«Ich verstehe. «Borowski nickte, aber er hatte nicht verstanden, er konnte nur spekulieren. War Santos ein Gefangener des Schakals, Tag und Nacht an die schäbige Kneipe gebunden? Das war eine faszinierende Frage — vor allem angesichts seiner außerordentlichen Qualitäten.

Es war erst 0.37 Uhr, als Jason mit Bluejeans, Kappe und einem dunklen Pullover mit V-Ausschnitt am Tor der alten Fabrik anlangte. Er holte eine Packung Gauloises aus der Tasche, lehnte sich an die Mauer und zündete sich eine Zigarette an, wobei er das Feuerzeug länger als notwendig brennen ließ. Seine Gedanken kehrten zu dem rätselhaften Santos zurück, dem wichtigsten Kontaktmann in Carlos' Armee, dem vertrauenswürdigsten Satelliten im Dunstkreis des Schakals, einem gebildeten Mann, einem Südamerikaner — Venezolaner, wenn Borowski seinen Instinkten vertrauen konnte. Faszinierend. Und Santos wünschte ihn» mit Frieden im Herzen «zu sehen. Bravo, amigo, dachte Jason. Santos hatte in London einen zu Tode erschrockenen Botschafter erreicht, und Atkinson hatte keine andere Wahl gehabt, als nachhaltig zu bestätigen, daß jedwede Anweisung der Schlangenlady ausgeführt werden mußte. Die Macht der Schlangenlady war der einzige Schutz des Botschafters, seine einzige Zuflucht.

Folglich konnte Santos nachgeben. Der Kontaktmann wollte aus seinem Gully herauskriechen, und mit den ihm gebotenen drei Millionen Francs könnte er… zumindest zuhören und ein paar Dinge erwägen. Es gab Alternativen im Leben, und eine war Santos angeboten worden, dem Vasallen von Carlos, dessen Treue seinem Herrn gegenüber sich möglicherweise erschöpft hatte. Diese instinktive Ahnung war es, die Borowski in seine Bitte — ruhig, aber fest — Worte wie» reisen«,»verschwinden«,»reicher Mann«,»frei von Sorgen und unangenehmer Schufterei «einflechten ließ. Die Schlüsselworte waren» frei «und» verschwinden«, und die Augen von Santos hatten geantwortet. Er war bereit, den Drei-Millionen-Köder zu schnappen, und Borowski würde glücklich sein, ihn die Schnur zerreißen und schwimmen zu lassen.

Jason sah auf die Uhr. Fünfzehn Minuten waren vergangen. Zweifellos prüften die Günstlinge von Santos die Straßen, eine abschließende Inspektion, bevor der Hohepriester der Kontakte erscheinen würde. Borowski dachte kurz an Marie, an die Gefühle, die er am Trocadero gehabt hatte, und er erinnerte sich an die Worte des alten Fontaine, als sie die Wege von Tranquility beobachtet und auf Carlos gewartet hatten.»Er ist in der Nähe. Ich fühle es. Wie das Nahen eines fernen Gewitters.«

Jasons Uhr zeigte eins, und die beiden Boten kamen aus der Gasse und überquerten die Straße zum Tor der alten Fabrik.

«Santos will Sie jetzt sehen«, sagte der eifrigere der beiden.

«Ich sehe ihn nicht.«

«Sie sollen mit uns kommen. Er wird das Coeur du Soldat nicht verlassen.«

«Warum finde ich das nicht nach meinem Geschmack?«

«Ohne jeden Grund: Er hat Frieden im Herzen.«

«Und was ist mit seinem Messer?«

«Er trägt nie eine Waffe bei sich.«

«Das ist schön zu hören. Gehen wir.«

«Er braucht keine Waffen«, fügte einer der Boten beunruhigenderweise hinzu.

Er wurde die Gasse hinunter, am neonbeleuchteten Eingang vorbei zu einem kaum wahrnehmbaren Spalt zwischen den Häusern eskortiert. Einer nach dem anderen gingen sie zur rückwärtigen Seite der Kneipe, wo Jason etwas sah, was er hier in dieser verkommenen Gegend zuallerletzt erwartet hätte — einen englischen Garten. Es war ein Grundstück, vielleicht zehn Meter breit und zwanzig tief, mit Spalieren, die verschiedene, blühende Kletterpflanzen stützten — prächtige Farben im Mondlicht.

«Das ist ein Anblick«, kommentierte Jason.»Das erfordert viel Mühe.«

«Eine Leidenschaft von Santos! Niemand versteht es, aber niemand berührt auch nur eine Blume.«

Faszinierend.

Borowski wurde zu einem kleinen Außenfahrstuhl geführt, dessen Stahlrahmen an der Steinmauer des Gebäudes befestigt war. Ein anderer Zugang war nicht in Sicht. Der Fahrstuhl faßte gerade sie drei, und als die eiserne Tür geschlossen war, drückte der schweigsame Bote in der Dunkelheit einen Knopf und sagte:»Wir sind hier, Santos. Kamelie. Hol uns hoch.«

«Kamelie?«fragte Jason.

«So weiß er, daß alles in Ordnung ist. Wenn nicht, hätte mein Freund Lilie oder Rose gesagt.«

«Was wäre dann passiert?«

«Daran möchten Sie bestimmt nicht einmal denken. Ich jedenfalls nicht.«

Der Fahrstuhl hielt mit einem doppelten Hopser, und der schweigsame Bote öffnete eine dicke Eisentür, was zu tun sein volles Gewicht erforderte. Borowski wurde in das ihm schon vertraute Zimmer geführt. Santos saß in einem übergroßen Lehnstuhl.

«Ihr könnt gehen, meine Freunde«, sagte er.»Holt euch das Geld vom Kellner und sagt ihm, daß er Rene und diesem Amerikaner, diesem Ralph, jedem fünfzig Francs geben soll und sie nach draußen befördert. Sie pissen in die Ecken… Sag ihnen, das Geld sei von ihrem Freund von neulich, der sie vergessen hat.«

«Oh, Scheiße!«kam es aus Jason heraus.

«Haben Sie doch, oder?«Santos grinste.

«Ich habe an andere Dinge denken müssen.«

«Ja, Sir!«Die beiden Boten, statt nach hinten zum Fahrstuhl zu gehen, öffneten eine Tür in der linken Wand und verschwanden. Borowski sah ihnen verwirrt hinterher.

«Da ist eine Treppe, die in die Küche führt«, sagte Santos und beantwortete Jasons unausgesprochene Frage.»Die Tür kann von dieser Seite geöffnet werden, nicht unten von den Stufen her, außer von mir… Setzen Sie sich, Monsieur Simon. Wie geht es Ihrem Kopf?«

«Die Schwellung ist zurückgegangen, danke. «Borowski setzte sich auf die Couch und versank in den Kissen.

«Wie ich höre, haben Sie Frieden im Herzen.«

«Und den Wunsch nach drei Millionen Francs.«

«Dann waren Sie also mit dem Anruf in London zufrieden?«

«Niemand kann den Mann so programmiert haben, derartig zu reagieren. Es gibt eine Schlangenlady, und sie flößt eine außerordentliche Zuneigung und Furcht ein, auch höheren Orts — was bedeutet, daß sie nicht ohne Macht sein kann.«

«Das hatte ich Ihnen zu erklären versucht.«

«Ihr Wort ist akzeptiert. Jetzt lassen Sie mich Ihre Forderung rekapitulieren… Sie, und nur Sie allein, müssen die Amsel treffen, richtig?«

«Das ist ein Muß.«

«Ich darf noch einmal fragen, warum?«

«Offen gesagt, wissen Sie bereits so schon zuviel, mehr als meine Kunden ahnen — aber schließlich hat auch keiner von ihnen im zweiten Stock einer Kneipe in Argenteuil beinahe sein Leben verloren. Sie wollen nichts mit Ihnen zu tun haben, sie wollen keine Spuren, keine Verwundbarkeit.«

«Wie haben Sie mich gefunden?«Santos schlug mit der Faust auf die Stuhllehne.

«Ein alter Mann in Paris, mit einem einschlägigen Vorstrafenregister, der versuchte, ein Parlamentsmitglied zu warnen, daß es ermordet werden sollte. Er war derjenige, der die Amsel erwähnte. Er war derjenige, der vom Le Coeur du Soldat sprach. Glücklicherweise hörte ihn unser Mann und gab insgeheim meinen Klienten die Nachricht weiter… Aber das hilft Ihnen nicht, so kommen Sie an meine Auftraggeber nicht heran. Wie viele alte Männer in Paris könnten in ihrer senilen Desillusionierung das Le Coeur du Soldat erwähnt haben — und Sie?… Hier, ich habe Ihnen etwas mitgebracht. «Borowski rutschte auf der Couch vor und lange in seine Gesäßtasche. Er holte eine Rolle eng gebundener Francsnoten heraus, die von einem schwarzen Gummi zusammengehalten wurden. Er warf sie Santos zu, der sie mühelos fing.»Zweihunderttausend Vorschuß — ich wurde bevollmächtigt, Ihnen das zu geben. Auf Basis der größtmöglichen Anstrengungen. Sie geben mir die Informationen, die ich brauche, ich liefere sie nach London, und ob die Amsel das Angebot meiner Klienten akzeptiert oder nicht, Sie erhalten den Rest der drei Millionen.«

«Aber Sie könnten vorher verschwinden, oder nicht?«

«Sie können mich beobachten lassen wie bisher, mich nach London und zurück beschatten lassen. Ich werde Ihnen sogar die Fluggesellschaft und die Flugnummer geben. Was könnte fairer sein?«

«Nur etwas, Monsieur Simon«, antwortete Santos, schob seinen gewaltigen Körper aus dem Sessel und schritt majestätisch zu einem Kartentisch.»Kommen Sie bitte her.«

Jason erhob sich von der Couch und ging zum Kartentisch hinüber, augenblicklich erstaunt.»Sie sind wirklich gründlich.«

«Ich versuche es zu sein… Oh, geben Sie nicht den Portiers die Schuld, die gehören Ihnen. Ich setze viel tiefer an. Zimmermädchen und Kellner sind mehr nach meinem Geschmack. Sie sind nicht so verdorben, und niemand vermißt sie, wenn sie eines Tages nicht mehr da sind.«

Auf dem Tisch lagen Borowskis drei Pässe sowie die Pistole und das Messer, das ihm in der vergangenen Nacht abgenommen worden war.

«Sehr überzeugend, aber was ändert es an der Sache?«

«Wir werden sehen«, antwortete Santos.»Ich akzeptiere Ihr Geld — für meine größtmöglichen Anstrengungen —, aber anstatt daß Sie nach London fliegen, lassen Sie London nach Paris fliegen. Morgen früh. Wenn er im Pont-Royal ankommt, rufen Sie mich an. Ich gebe Ihnen meine private Nummer — und wir spielen das sowjetische Spiel. Zwei Agenten, die sich auf der

Mitte der Brücke treffen und die gegeneinander ausgetauscht werden — Geld gegen Information.«

«Sie sind verrückt, Santos. Meine Kunden werden sich niemals in dieser Weise exponieren. So verlieren Sie den Rest der drei Millionen.«

«Warum soll man es nicht versuchen? Sie könnten sich doch einen Blinden mieten, nicht wahr? Einen unschuldigen Touristen — einen Mann, eine Frau — mit einem doppelten Boden in seinem oder ihrem Koffer. Auf diese Weise sparen wir uns etliche Unannehmlichkeiten. Denken Sie darüber nach. Es ist der einzige Weg, um zu bekommen, was sie wollen, Monsieur.«

«Ich werde tun, was ich kann«, sagte Borowski.»Hier ist meine Nummer. Rufen Sie mich an, wenn London kommt. In der Zwischenzeit werden Sie beobachtet.«

Es war dunkel im Zimmer. Marie saß im Bett, schlürfte heißen Tee und horchte auf die Geräusche der Stadt draußen vor dem Fenster.

Schlaf war unmöglich, unzulässig, da jede Stunde zählte. Sie hatte den ersten Flug von Marseilles nach Paris genommen und war direkt in das Meurice in der Rue de Rivoli gefahren, dasselbe Hotel, in dem sie vor dreizehn Jahren gewartet hatte, auf einen Mann gewartet, der auf die Vernunft hören oder sein Leben verlieren würde, wobei er auch sie verloren hätte. Auch damals hatte sie eine Kanne Tee bestellt, und er war zu ihr zurückgekehrt.

Oh, mein Gott, sie hatte ihn gesehen. Es war keine Illusion, keine Täuschung, es war David gewesen! Sie hatte das Hotel am Vormittag verlassen und ihre Wanderung begonnen, nach einer Liste, die sie im Flugzeug angefertigt hatte. Von einem Ort war sie zum nächsten gelaufen, ohne logische Abfolge, sondern einfach, indem sie dem Nacheinander der Örtlichkeiten folgte, so wie sie ihr eingefallen waren. Diese Lektion hatte sie von Jason Borowski dreizehn Jahre zuvor gelernt:»Auf der Flucht oder bei der Jagd soll man seine Einfalle analysieren, aber den ersten im Kopf behalten. Gewöhnlich ist es der sauberste und beste. Meist greift man zum ersten Einfall. «Also war sie ihrer Liste gefolgt, von der Anlegestelle des Bateau Mouche am Fuße der Avenue George V bis zur Bank an der Madeleine… und zum Trocadero. Dort war sie ziellos auf den Terrassen herumgewandert, um nach einer Statue Ausschau zu halten, an die sie sich nicht richtig erinnern konnte. Die Standbilder fingen an, alle gleich auszusehen. Sie fühlte sich wunderlich leicht im Kopf. Die späte Augustsonne blendete, und gerade wollte sie sich, in Erinnerung eines weiteren Leitsatzes Jason Borowskis:»Ruhe ist eine Waffe«, auf eine Bank setzen, da sah sie plötzlich, weit vorne, einen Mann mit einer Kappe und einem dunklen Sweater mit V-Ausschnitt. Er drehte sich um und lief sehr schnell zu den großartigen Steintreppen, die zur Avenue Gustave V führten. Sie kannte dieses Laufen, diesen Schritt, kannte ihn besser als sonst jemand! Wie oft hatte sie ihn beobachtet — häufig unbemerkt von der Tribüne aus —, wenn er auf der Aschenbahn seine Runden drehte, um sich von den Furien zu befreien, die ihn gepackt hatten. Es war David! Sie war von der Bank aufgesprungen und ihm hinterhergerannt.

«David, David, ich bin es!.. Jason!«

Sie war mit einem Fremdenführer zusammengestoßen, der eine Gruppe von Japanern im Schlepp hatte. Der Mann war erregt, sie wütend, und wütend bahnte sie sich ihren Weg durch die erstaunten Asiaten, fast alle kleiner als sie, aber ihr Mann war verschwunden. Wohin? In die Gärten? In die Straßen mit ihren Menschenmengen und dem nie enden wollenden Verkehr? Wohin nur?

«Jason!«hatte sie, so laut sie konnte, geschrien.»Jason, komm zurück!«Die Leute hatten sich nach ihr umgedreht. Sie war die Stufen zur Straße hinuntergerannt und hatte endlos lange überall nach ihm Ausschau gehalten — wie lange, das konnte sie hinterher nicht mehr sagen. Schließlich hatte sie erschöpft ein

Taxi zurück ins Meurice genommen. Benommen kam sie in ihr Zimmer und fiel auf ihr Bett, gestattete sich aber keine Tränen. Es war nicht die Zeit für Tränen — eine kurze Pause, etwas essen, um die Energie wiederherzustellen. Auch eine Lektion von Borowski. Dann wieder auf die Straße, um die Suche fortzusetzen. Und wie sie so dalag und an die Wand starrte, fühlte sie ein Schwellen in der Brust, dort, wo ihre Lungen arbeiteten, begleitet von einem Gefühl passiver Erregung. Wie sie nach David suchte, so suchte er nach ihr. Bestimmt! Ihr Mann war nicht vor ihr davongelaufen, auch Jason Borowski nicht. Er konnte sie nicht gesehen haben, es mußte einen anderen Grund für sein plötzliches, eiliges Verschwinden vom Trocadero gegeben haben, aber nur einen Grund dafür, daß er dort gewesen war. Auch er war auf der Suche nach Erinnerungen, auch er hatte begriffen, daß er ihr irgendwo, an irgendeinem Ort dieser Erinnerungen begegnen würde.

Sie hatte sich ausgeruht, dem Zimmerdienst Bescheid gegeben und war zwei Stunden später wieder auf der Straße gewesen. Jetzt, in dem Augenblick, wo sie ihren Tee trank, konnte sie das Tageslicht nicht mehr erwarten.

«Bernardine!«

«Mon Dieu, es ist vier Uhr früh. Ich nehme an, Sie haben einem Siebzigjährigen etwas Wichtiges zu sagen.«

«Ich habe ein Problem.«

«Ich glaube, es sind eine ganze Reihe Probleme, aber das macht wohl keinen großen Unterschied. Also, was gibt's?«

«Ich bin so nahe dran, wie es nur möglich ist, aber ich brauche einen end-man.«

«Das muß ein amerikanischer Ausdruck sein. Esoterik steht bei der CIA hoch im Kurs. Ich bin sicher, da sitzt einer in Langley und denkt sich das alles extra aus.«

«Mein Gott, ich habe keine Zeit für derartige bons mots.«

«Selber mein Gott, lieber Freund. Ich versuche nicht, besonders schlau zu sein, sondern nur aufzuwachen… Also gut, meine Füße stehen auf dem Boden, und ich habe eine Zigarette im Mund. Was ist los?«

«Mein Kontaktmann zum Schakal erwartet einen Engländer, der heute morgen von London herfliegt, mit zwei Millionen achthunderttausend Francs in der Tasche…«

«Viel weniger, als Sie zur Verfügung haben, nehme ich an«, unterbrach Bernardine.»Die Banque Normandie war Ihnen behilflich?«

«Sehr, das Geld ist nicht das Problem. Ihr Tabouri ist ein Prachtexemplar. Er wollte mir Grundstücke in Beirut verkaufen.«

«Dieser Tabouri ist ein Dieb — aber Beirut ist interessant.«

«Bitte.«

«Entschuldigen Sie. Machen Sie weiter.«

«Ich werde beschattet, also kann ich nicht zur Bank, und ich habe keinen Engländer, der mir das, was ich nicht holen kann, ins Pont-Royal bringt.«

«Das ist Ihr Problem?«

«Ja.«

«Sind Sie bereit, sagen wir, fünfzigtausend gut anzulegen?«

«Wofür?«

«Tabouri.«

«Ich denke schon.«

«Sie haben doch sicher einige Papiere unterschrieben.«

«Natürlich.«

«Unterschreiben Sie noch ein Papier, handgeschrieben… um das Geld auszuhändigen an… einen Augenblick, ich muß an meinen Schreibtisch. «Schweigen in der Leitung, während

Bernardine offenbar in einen anderen Raum seiner Wohnung ging.»Hallo?«

«Ich bin noch dran.«

«Oh, das ist hübsch«, meinte der ehemalige Spezialist des Deuxieme Bureau.»Hab ihn schon mal mitsamt seinem Segelboot vor der Costa Brava versenkt. Sein Name ist Antonio Scarzi, ein Mann aus Sardinien.«

Borowski wiederholte den Namen und buchstabierte ihn.

«Genau. Verschließen Sie den Briefumschlag, reiben Sie Ihren Daumen mit Bleistift oder Tinte ein und drücken Sie ihn auf die Klebestelle. Geben Sie ihn dann dem Portier für eben jenen Mr. Scarzi.«

«Verstanden. Und was ist mit dem Engländer? Heute früh? Es sind nur noch ein paar Stunden Zeit.«

«Der Engländer ist kein Problem. Der frühe Morgen ist eins, und die wenigen Stunden. Es ist einfach, Gelder von einer Bank auf eine andere zu überweisen — Knöpfe werden gedrückt, Computer vergleichen sekundenschnell die Daten, und schon stehen die Zahlen auf dem Papier. Aber es ist etwas ganz anderes, irgendwo beinahe drei Millionen Francs in bar abzuholen, und Ihr Kontaktmann wird sicher keine Pfund oder Dollar akzeptieren, aus Angst, beim Deponieren oder Wechseln erwischt zu werden. Dazu müssen die Noten vor dem Zoll versteckt werden können… Ihr Kontaktmann, mon ami ist sich sicher dieser Schwierigkeiten bewußt.«

Jason überdachte Bernardines Worte.»Sie meinen, er will mich testen?«

«Muß er.«

«Das Geld könnte von verschiedenen Banken stammen. Ein kleines Privatflugzeug könnte über den Kanal hüpfen und auf einer einsamen Wiese landen, wo ein Wagen wartet, um den Mann nach Paris zu bringen.«

«Bien. Natürlich. Die Logistik dafür erfordert jedoch Zeit, selbst für einflußreiche Leute. Lassen Sie es nicht allzu einfach erscheinen, das wirkt verdächtig. Informieren Sie Ihren Kontaktmann über den Fortgang, betonen Sie die Geheimhaltung, sprechen Sie von Risikovermeidung, bauen Sie ein paar Verzögerungen ein — wenn es keine gäbe, könnte er denken, es ist eine Falle.«

«Ich verstehe.«

«Da ist noch etwas, mon ami. Ein Chamäleon kann zwar am Tage vielerlei Gestalt annehmen, sicherer aber ist die Nacht.«

«Sie haben etwas vergessen«, sagte Borowski.»Wie steht es mit dem Engländer?«

«Sie sagen es, alter Knabe«, sagte Bernardine.

Die Operation verlief so geschmeidig wie nur irgendeine, die Jason je ausgeheckt oder miterlebt hatte, vielleicht dank des so alten wie erfahrenen Mannes, der zu früh geweckt worden war. Während Borowski Santos über die verschiedenen Fortschritte informierte, ließ Bernardine die versiegelte Anweisung beim Portier abholen, woraufhin er eine Verabredung mit Monsieur Tabouri traf. Kurz nach 4.30 Uhr nachmittags kam der Veteran vom Deuxieme ins Pont-Royal, in einem dunklen, gestreiften Anzug, der so offensichtlich britisch war, daß er geradezu nach Savile Row schrie. Er ging zum Fahrstuhl und kam schließlich, nachdem er sich zweimal verlaufen hatte, in Borowskis Zimmer.

«Hier ist das Geld«, sagte er und stellte den Diplomatenkoffer auf den Boden. Er ging sofort zu Jasons Minibar, entnahm ihr zwei kleine Fläschchen Tanqueray Gin, öffnete sie und schüttete den Inhalt in ein Glas von zweifelhafter Sauberkeit. »A votre santt», sagte er, leerte das halbe Glas, atmete tief durch, um dann die zweite Hälfte hinunterzuschütten.»Seit Jahren habe ich so was nicht mehr gemacht.«

«Nein?«

«So was habe ich schon lange immer erledigen lassen. Viel zu gefährlich… Nichtsdestoweniger, Sie sind Tabouri zu ewigem Dank verpflichtet, und außerdem hat er mich tatsächlich davon überzeugt, die Beirut-Sache noch mal zu überlegen.«

«Was?«

«Natürlich verfüge ich nicht über Mittel wie Sie, aber ein gewisser Prozentsatz von vierzig Jahren aus denfonds de contingence hat seinen Weg nach Genf und auf mein Konto gefunden. Ich bin kein armer Mann.«

«Vielleicht aber ein toter Mann, wenn man Sie beim Hinausgehen erwischt.«

«Ich bleibe hier«, sagte Bernardine und suchte nochmals den kleinen Kühlschrank auf.»Ich werde in diesem Zimmer bleiben, bis Sie Ihr Geschäft abgeschlossen haben. «Francois öffnete erneut zwei Fläschchen und kippte sie in sein Glas.

«Das wird mein altes Herz beruhigen«, fügte er hinzu, als er zu dem kleinen Tisch ging, sein Getränk auf das Löschpapier stellte und sich daranmachte, aus seinen Taschen zwei Automatic-Pistolen und drei Granaten zu ziehen und alles in eine Reihe legte.»Ich werde mich jetzt ein wenig entspannen.«

«Was ist das, zum Teufel?«

«Ihr Amerikaner nennt das Abschreckung, denke ich«, antwortete Bernardine.»Obwohl ich glaube, daß ihr genau wie die Sowjets dabei lediglich mit dem eigenen Leben spielt. Nun, ich komme aus einer anderen Zeit… Lassen Sie die Tür offen, wenn Sie hinausgehen. Wenn jemand den schmalen Korridor entlangkommt, wird er mich mit einer Granate in der Hand hier sitzen sehen. Das ist keine nukleare Abstraktion, das ist reale Abschreckung.«

«Wenn Sie meinen«, sagte Borowski und ging zur Tür.»Ich möchte das hinter mich bringen.«

Draußen in der Rue Montalembert ging Jason zur Ecke, lehnte sich an die Wand, zündete eine Zigarette an, genau wie er es draußen in Argenteuil bei der alten Fabrik gemacht hatte. Er wartete in lässiger Haltung, aber seine Gedanken rasten. Ein Mann kam über die Rue du Bac auf ihn zu. Es war der gesprächige Bote der vergangenen Nacht. Er näherte sich mit einer Hand in der Tasche.

«Wo ist das Geld?«fragte er.

«Wo ist die Information?«antwortete Borowski.

«Zuerst das Geld.«

«Das wäre gegen die Abmachung. «Ohne Warnung packte Jason den Mann aus Argenteuil am Kragen und riß ihn von den Füßen. Mit der freien Hand umfaßte er seine Kehle, wobei sich seine Finger ins Fleisch des Mannes krallten.

«Geh zurück zu Santos und sag ihm, daß er eine einfache Fahrkarte zur Hölle bekommt, wenn er sich nicht an die Abmachungen hält.«

«Genug!«sagte eine leise Stimme, deren Besitzer hinter Jason um die Ecke bog. Santos kam näher.»Lassen Sie ihn, Simon. Es geht hier nur um uns.«

«Ich dachte, Sie verlassen das Le Coeur niemals?«

«Die Dinge ändern sich, oder?«

«Offenbar. «Borowski ließ den Boten los, der Santos ansah und auf sein Zeichen hin verschwand.

«Ihr Engländer ist angekommen«, sagte Santos.»Mit einem Koffer, wie ich selbst gesehen habe.«

«Mit einem Koffer«, bestätigte Jason.

«Also hat London kapituliert? London ist sehr ängstlich.«

«Die Einsätze sind hoch. Das ist alles, was ich dazu sagen kann. Die Information bitte.«

«Lassen Sie uns zuerst noch einmal genau die Prozedur festlegen, ja?«

«Wir haben sie schon mehrmals definiert… Sie geben mir die Information, und wenn ein befriedigender Kontakt hergestellt ist, dann bringe ich Ihnen den Rest der drei Millionen Francs.«

«Sie sagen befriedigender Kontakt. Was wird Sie befriedigen? Wie wollen Sie wissen, daß der Kontakt eindeutig ist? Wie soll ich wissen, daß Sie nicht behaupten, er sei unbefriedigend, während Sie in Wirklichkeit die Verbindung bereits hergestellt haben, für die Ihre Kunden bezahlt haben?«

«Sie sind ein mißtrauischer Bursche, nicht wahr?«

«Oh, sehr mißtrauisch. Unsere Welt, Mr. Simon, ist nicht mit Heiligen bevölkert, oder?«

«Vielleicht gibt es mehr davon, als Sie glauben.«

«Das würde mich erstaunen. Beantworten Sie meine Fragen.«

«Okay, ich versuche es. Wie ich wissen will, daß der Kontakt funktioniert? Das ist leicht, ich weiß es, weil es mein Geschäft ist, es zu wissen. Dafür werde ich bezahlt, und ein Mann in meiner Position macht da keine Fehler und lebt dann, um zu bereuen. Ich habe ein paar Untersuchungen angestellt, ich werde zwei oder drei Fragen stellen. Dann werde ich es wissen…«

«Das ist eine ausweichende Antwort.«

«So ist unsere Welt, Mr. Santos. Was Ihre Sorge angeht, daß ich Sie anlügen und Ihr Geld nehmen könnte, so möchte ich Ihnen versichern, daß ich mir keine Feinde Ihres Kalibers schaffen oder gar das Netzwerk der Amsel gegen mich bringen möchte — ganz zu schweigen davon, daß ich auch weiterhin mit meinen Kunden zusammenarbeiten möchte. Alles andere wäre Wahnsinn.«

«Ich bewundere Ihre Scharfsichtigkeit ebenso wie Ihre Vorsicht«, sagte der Mittelsmann des Schakals.

«Ihre Bücherregale haben nicht getrogen; Sie sind ein kluger Mann.«

«Darauf kommt es nicht an. Aber ich habe gewisse Vorzüge… Was ich Ihnen sagen werde, Mr. Simon, wissen nur vier Menschen auf dieser Welt, die alle fließend französisch sprechen. Wie Sie die Information nutzen, liegt an Ihnen. Wenn Sie jedoch nur eine Andeutung bezüglich Argenteuil machen, werde ich es augenblicklich wissen, und dann werden Sie das Pont-Royal nicht lebend verlassen.«

«Kann der Kontakt so schnell hergestellt werden?«

«Mit einer Telefonnummer. Aber Sie warten mit dem Anruf mindestens eine Stunde, vom Moment an, in dem wir uns trennen. Sonst sind Sie ein toter Mann.«

«Eine Stunde. Einverstanden… Nur drei andere Menschen haben diese Nummer? Warum geben Sie mir nicht einen kleinen Hinweis auf jemanden, den Sie nicht besonders mögen. Dann könnte ich wenigstens eine vage Andeutung machen — falls es notwendig ist. «Santos gestattete sich ein kleines, leises Lächeln.»Moskau«, sagte er.»Hoch oben am Dserschinskij-Platz.«

«Der KGB?«

«Die Amsel baut einen Kader in Moskau auf. Moskau ist eine Obsession von ihm.«

Ilich Ramirez Sanchez, dachte Borowski. Ausgebildet in Nowgorod. Der Schakal!» Ich werde daran denken… Die Nummer?«

Santos nannte sie zweimal — zusammen mit den Worten, die Borowski sagen sollte. Er sprach langsam und war offenbar beeindruckt, daß sich Borowski keine Notizen machte.»Ist alles klar?«

«Unauslöschlich… Wie möchten Sie das Geld bekommen?«

«Rufen Sie mich an, Sie haben meine Nummer. Ich werde Argenteuil verlassen, zu Ihnen kommen und niemals ins Le Coeur zurückkehren.«

«Viel Glück, Santos. Irgend etwas sagt mir, daß Sie es verdienen.«

«Niemand mehr als ich. Ich habe zu oft vom Schierlingsbecher trinken müssen.«

«Sokrates«, sagte Borowski.

«Nicht direkt. Platons Gespräche, um genau zu sein. Au revoir.«

Santos marschierte los, und Borowski ging zurück zum Pont-Royal. Er versuchte verzweifelt, seinen Wunsch zu rennen zu unterdrücken.

Ein rennender Mensch ist ein Objekt der Neugierde, eine Zielscheibe. Eine Lektion aus dem Lehrbuch von Jason Borowski.

«Bernardine!«bellte er, als er den schmalen, verlassenen Flur zu seinem Zimmer entlanglief — und den alten Mann am Tisch sitzen sah, eine Granate in der einen Hand, eine Pistole in der anderen.»Legen Sie die Hardware beiseite, wir haben ins Schwarze getroffen!«

«Und wer muß dafür zahlen?«fragte der Veteran vom Deuxieme, als Jason die Tür schloß.

«Ich«, antwortete Borowski.»Wenn alles läuft, wie ich denke, daß es laufen wird, dann wird sich Ihr Konto in Genf freuen.«

«Ich tue das, was ich tue, nicht deswegen, mein Freund.«

«Ich weiß, aber solange wir die Francs verteilen, als würden wir sie selbst in der Garage drucken, warum sollten Sie dann nicht auch was abbekommen?«

«Dagegen läßt sich nichts sagen.«

«Eine Stunde«, verkündete Jason.»Dreiundvierzig Minuten noch, um genau zu sein.«»Wofür?«

«Um herauszufinden, ob es wirklich stimmt. «Borowski fiel aufs Bett und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Seine Augen leuchteten.»Schreiben Sie sich etwas auf, Francois. «Jason nannte die Telefonnummer, die ihm von Santos gegeben worden war.»Kaufen Sie, bestechen Sie oder drohen Sie jedem besseren Kontakt, den Sie jemals bei der Pariser Post hatten, aber finden Sie heraus, wo der zugehörige Apparat steht.«

«Das ist keine so teure Forderung…«

«Doch, ist es«, hielt Borowski dagegen.»Sie ist geschützt, unverletzbar gemacht. Etwas anderes käme für ihn nicht in Frage. Nur vier Leute aus seinem gesamten Netzwerk haben diese Nummer.«

«Dann sollten wir vielleicht nicht so hoch hinaufgehen, sondern lieber tief hinunter, unter die Erde, in den Untergrund. In die Tiefen des Telefonnetzes unter den Straßen.«

Jason schnellte herum.»Daran habe ich gar nicht gedacht.«

«Wie könnten Sie? Sie sind kein Mann vom Deuxieme. Der Schlüssel liegt in der Technik… Ich kenne da einige Fachleute. Lassen Sie mich am Abend telefonieren…«

«Heute abend?«unterbrach Borowski und erhob sich vom Bett.

«Es wird so etwa tausend Francs kosten.«

«Ich kann nicht bis heute abend warten.«

«Das bedeutet ein Risiko. Diese Leute werden bei ihrer Arbeit mit Monitor überwacht. Das ist das sozialistische Paradox: den Arbeitskräften Verantwortung geben, aber keine individuelle Autorität.«

«Sie haben also ihre Privatnummer?«»Sie stehen im Buch, ja. Diese Leute haben keine Geheimanschlüsse.«

«Dann lassen Sie die Frau von jemandem anrufen. Ein dringender Fall. Der Mann muß nach Hause kommen.«

Bernardine nickte.»Nicht schlecht, mein Freund. «Die Minuten dehnten sich zu Viertelstunden, als der ehemalige Agent des Deuxieme sich an die Arbeit machte. Rührselig machte er den Frauen Versprechungen, wenn sie tun würden, was er verlangte. Zwei hängten sofort auf, drei wiesen ihn wortgewaltig ab, aber die sechste erklärte inmitten von etlichen Obszönitäten:»Warum nicht?«Wenn nur der Schlappschwanz, den sie geheiratet hatte, auch begriff, daß das dann ihr Geld war.

Die Stunde war vorbei, und Jason verließ das Hotel. Er lief langsam, lässig das Trottoir hinunter, überquerte vier Straßen bis zu einer Telefonzelle am Quai Voltaire an der Seine. Ein Schleier von Dunkelheit senkte sich langsam über Paris. Die Boote auf dem Fluß und die Brücken waren mit Lichtern geschmückt. Als er die rote Zelle betrat, atmete er gleichmäßig, in tiefen Zügen. Er kontrollierte sich in einer Weise, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Er war dabei, den wichtigsten Telefonanruf seines Lebens zu machen, aber das durfte er den Schakal nicht wissen lassen — wenn es wirklich der Schakal war. Er ging hinein, warf eine Münze ein und wählte.

«Ja?«Es war die Stimme einer Frau — scharf und barsch. Eine Pariserin.»Amseln kreisen am Himmel«, sagte Borowski, Santos' Worte auf französisch wiederholend.»Sie machen viel Lärm, außer einer. Die schweigt.«»Von wo rufen Sie an?«»Aus Paris, aber ich bin nicht aus Paris.«»Von wo dann?«

«Wo die Winter sehr viel kälter sind«, antwortete Jason und spürte, wie seine Stirn feucht wurde. Kontrolle. Kontrolle!» Es ist dringend, daß ich eine Amsel erreiche. «Die Leitung war plötzlich voller Stille, einer tönenden Leere, die Borowski den Atem anhalten ließ. Dann, leise, unbewegt und so hohl wie die vorhergehende Stille:»Wir sprechen mit einem Moskowiter?«

Der Schakal! Es war der Schakali Sein weiches, geläufiges Französisch konnte seinen lateinamerikanischen Ursprung nicht verbergen.»Das habe ich nicht gesagt«, antwortete Borowski. Sein eigener französischer Dialekt, den er häufig benutzte, hatte den gutturalen Klang der Gascogne.»Ich sagte nur, bei uns seien die Winter kälter als in Paris.«

«Mit wem spreche ich?«

«Jemand, der auf jemanden, der Sie gut kennt, Eindruck gemacht und so diese Nummer erhalten hat. Ich kann Ihnen das Angebot Ihres Lebens machen. Das Honorar ist unwichtig, Sie können es selbst bestimmen — die, die bezahlen, gehören zu den mächtigsten Männern der Vereinigten Staaten. Sie kontrollieren einen großen Teil der amerikanischen Industrie und Finanzwelt, und sie haben direkten Zugang zu den Nervenzentren etlicher Regierungen.«

«Dies ist ein merkwürdiger Anruf. Sehr unorthodox.«

«Wenn Sie nicht interessiert sind, werde ich diese Nummer vergessen und mich an jemand anderes wenden. Ich bin nur der Mittler. Ein einfaches Ja oder Nein wird genügen.«

«Ich lege mich nicht auf Dinge oder Leute fest, von denen ich nie gehört habe.«

«Sie würden meine Auftraggeber sehr wohl kennen, wenn ich sie Ihnen nennen könnte. Ich will jedoch an diesem Punkt nur Ihr Interesse. Wenn es vorhanden ist, kann ich mehr sagen. Wenn nicht, gut, dann hab ich es versucht und werde gezwungen sein, mir einen anderen zu suchen. Die Zeitungen sagen, er sei erst gestern in Brüssel gewesen. Ich werde ihn finden. «Die Erwähnung von Brüssel ließ seinen Gesprächspartner scharf und kurz Luft holen.

«Ja oder nein, Amsel?«

Schweigen. Schließlich sprach der Schakal.»Rufen Sie mich in zwei Stunden wieder an«, befahl er und legte auf.

Es war geschafft! Jason lehnte sich gegen die Wand der Telefonzelle, der Schweiß rann ihm über Gesicht und Nacken. Er mußte zurück zu Bernardine!

«Es war Carlos!«verkündete er, als er die Tür hinter sich schloß und direkt zum Telefon ging, während er die Karte von Santos aus der Tasche holte. Er wählte und hatte ihn in Sekunden am Apparat.

«Der Vogel ist bestätigt«, sagte er.»Geben Sie mir einen Namen, irgendeinen Namen. «Die Pause war kurz.»In Ordnung. Die Ware wird verschlossen und versiegelt beim Portier hinterlegt. Prüfen Sie sie und schicken Sie mir die Pässe zurück. Lassen Sie Ihren besten Mann alles abholen und rufen Sie die Hunde zurück. Sie könnten die Amsel zu Ihnen führen. «Jason legte auf und wandte sich an Bernardine.

«Das Telefon steht wahrscheinlich im fünfzehnten Arrondissement«, sagte der Veteran vom Deuxieme.»Wie unser Mann sagte, als ich sie ihm gab.«

«Was macht er als nächstes?«

«In den Tunnel steigen, um es genau herauszubekommen.«

«Wird er uns hier anrufen?«

«Glücklicherweise hat er ein Motorrad. Er sagte, er würde in zehn Minuten wieder an der Arbeit sein und uns dann innerhalb einer Stunde unter dieser Nummer anrufen.«

«Perfekt!«

«Nicht ganz. Er möchte fünftausend Francs.«

«Er hätte das Zehnfache verlangen können… Was heißt innerhalb einer Stunde? Wie lang wird es dauern?«

«Sie waren vielleicht dreißig oder fünfunddreißig Minuten weg, als er anrief. Ich würde sagen, innerhalb der nächsten halben Stunde.«

Das Telefon klingelte. Zwanzig Sekunden später hatten sie eine Adresse am Boulevard Lefebvre.

«Ich gehe jetzt«, sagte Borowski. Er nahm Bernardines Automatic vom Tisch und steckte die beiden Granaten in seine Tasche.»Sie haben doch nichts dagegen?«

«Bitte, bedienen Sie sich«, antwortete Bernardine, griff unter die Jacke und holte eine zweite Waffe hervor.»Es gibt so viele Taschendiebe in Paris. Es ist immer gut, wenn man eine Reserve hat… Aber wofür?«

«Ich habe noch etwas Zeit, und ich möchte mich mal umsehen.«

Der ehemalige Richter vom Obersten Gericht in Boston, der frühere Honorable Brendan Patrick Prefontaine, beobachtete den weinenden, untröstlichen Randolph Gates, wie er, nach vorn gebeugt, auf der Couch im Ritz-Carlton saß, das Gesicht in den Händen verborgen.

«Oh, du gütiger Gott, wie schnell es doch bergab mit einem gehen kann«, bemerkte Brendan und schenkte sich einen Whisky on the rocks ein.»Haben sie dich also in einen Hinterhalt gelockt, auf französische Weise, Randy. Dein wendiger Verstand und dein königliches Auftreten haben wohl nicht viel geholfen, wie? Du hättest von Anfang an lieber bei deinen Leisten bleiben sollen.«

«Mein Gott, Prefontaine, du weißt nicht, was das für ein Gefühl ist! Ich hatte ein ganzes Kartell eingerichtet — Paris, Bonn, London, New York, mit den Arbeitsmärkten des Fernen Ostens —, ein Unternehmen, das Milliarden wert war, und dann wurde ich entführt, in ein Auto gesteckt, wo man mir die Augen verband. In ein Flugzeug hat man mich verfrachtet und nach Marseilles geflogen, wo mir die schrecklichsten Dinge passierten. Ich wurde in ein Zimmer eingesperrt, und alle paar Stunden bekam ich eine Spritze — über sechs Wochen! Man brachte Frauen herein und machte Filme. Ich war nicht ich selbst!«

«Vielleicht warst du das Selbst, das du niemals anerkennen wolltest, Dandy Boy. Dasselbe Selbst, das gelernt hat, profitable Gratifikationen vorauszuahnen, wenn ich das Wort so richtig benutze. Deinen Kunden außerordentliche Profite zu

verschaffen, die sie an den Börsen einsetzen konnten, wodurch Tausende von Jobs draufgingen. Oh, ja, mein teurer Royalist, das gibt Gratifikationen.«

«So war es nicht, Richter…«

«Wie schön, diese Anrede wieder zu hören. Dank dir, Randy.«

«Die Gewerkschaften wurden zu stark. Die Industrie verkümmerte. Viele Unternehmen mußten nach Übersee gehen, um zu überleben!«

«Wir kommen vom Thema ab… Du bist aus deinem Gefängnis in Marseilles also als Drogenabhängiger herausgekommen — und dann gab es diese Filme, die den bedeutenden Anwalt in kompromittierenden Situationen zeigten.«

«Was konnte ich tun?«schrie Gates.»Ich war ruiniert!«

«Wir wissen, was du getan hast. Du wurdest zum Vertrauensmann des Schakals in der Welt der Hochfinanz, einer Welt, in der Wettbewerb unerwünschtes Gepäck ist, das man besser unterwegs verliert.«

«So hat er mich überhaupt erst gefunden. Das Kartell, das wir bildeten, wurde von japanischen und taiwanesischen Interessen bekämpft. Sie haben ihn angeheuert… Oh, mein Gott, er wird mich umbringen!«

«Noch mal?«fragte der Richter.

«Was?«

«Er glaubt, daß du bereits tot bist — dank meiner Person.«

«Ich habe wichtige Fälle vor mir, zum Beispiel ein KongreßHearing in der nächsten Woche. Er wird erfahren, daß ich lebe!«

«Nicht, wenn du einfach wegbleibst.«

«Ich muß! Meine Kunden erwarten…«

«Also«, unterbrach ihn Prefontaine,»wird er dich umbringen. Tut mir ja leid, Randy.«

«Was soll ich denn nur machen?«

«Es gibt einen Ausweg, nicht nur für den Moment, sondern auch für die Zukunft — allerdings nicht ganz ohne Opfer. Da ist erst einmal eine lange Genesungszeit in einem privaten Rehabilitationszentrum und davor noch deine vollständige Kooperation, ab sofort. Du verschwindest von der Bildfläche, und wir eliminieren Carlos, den Schakal. Dann bist du frei, Randy.«

«Ich bin mit allem einverstanden.«

«Wie erreichst du ihn?«

«Ich habe eine Telefonnummer!«Gates fummelte nach seiner Brieftasche, riß sie aus seiner Jacke und holte mit zittrigen Fingen einen Zettel hervor.»Nur vier Leute haben sie!«

Prefontaine nahm seinen ersten Zwanzigtausend-DollarScheck entgegen, befahl Randy, nach Hause zu gehen, Edith um Verzeihung zu bitten und sich darauf vorzubereiten, Boston am nächsten Tag zu verlassen. Brendan hatte von einem Sanatorium in Minneapolis gehört, wo reiche Leute inkognito Hilfe bekamen. Er würde die Details am Vormittag ausarbeiten und ihn anrufen und natürlich eine zweite Zahlung für seine Dienste erwarten. Kaum daß ein niedergeschlagener Gates das Zimmer verlassen hatte, ging Prefontaine zum Telefon und rief John St. Jacques auf Tranquility an.

«John, hier ist der Richter. Stellen Sie keine Fragen. Ich habe eine wichtige Information, die für den Mann Ihrer Schwester von unschätzbarem Wert sein kann. Ich kann ihn nicht erreichen, aber ich weiß, daß er mit jemandem in Washington zu tun hat…«

«Alexander Conklin«, unterbrach St. Jacques.»Warten Sie eine Minute, Richter, Marie hat die Nummer irgendwo

aufgeschrieben. «Das Geräusch eines Hörers, der auf eine harte Unterlage gelegt wurde, war zu vernehmen.»Hier ist sie.«

«Ich werde später alles erklären. Danke Ihnen, John.«

Prefontaine wählte die Nummer und erhielt ein kurzes, barsches» Ja?«zur Antwort.

«Mr. Conklin, mein Name ist Prefontaine, und mir wurde diese Nummer von John St. Jacques gegeben. Was ich Ihnen zu sagen habe, ist von sehr dringlicher Natur.«

«Sie sind der Richter«, unterbrach Alex.

«Vergangenheit, wie ich fürchte. Weit vergangen.«

«Was gibt's?«

«Ich weiß, wie man den Mann erreichen kann, den ihr den Schakal nennt.«

«Was?«

«Hören Sie zu.«

Bernardine starrte auf das klingelnde Telefon und überlegte, ob er abnehmen sollte oder nicht. Keine Frage, er mußte.»Ja?«

«Jason? Du bist es doch?… Habe ich das falsche Zimmer?«

«Alex? Bist du's?«

«Francois? Was machst du denn da? Wo ist Jason?«

«Die Dinge überstürzen sich. Ich weiß, daß er dich zu erreichen versucht hat.«

«Es ist ein harter Tag gewesen. Wir haben Panov zurück.«

«Gute Nachrichten.«

«Ich habe noch mehr gute Nachrichten. Eine Telefonnummer, wo der Schakal erreicht werden kann.«

«Haben wir auch! Und den Ort. Unser Mann ist vor einer Stunde weg.«

«Um Himmels willen, wie habt ihr sie bekommen?«

«Ein verwickelter Prozeß, von dem ich aufrichtig glaube, daß nur dein Mann ihn in Gang bringen konnte. Er ist außerordentlich einfallsreich, ein echtes cameleon.«

«Laß sie uns vergleichen«, sagte Conklin.»Wie ist deine?«Bernardine sagte ihm die Nummer, die er auf Borowski Befehl aufgeschrieben hatte. Das Schweigen am Telefon war ein stummer Schrei.»Sie sind verschieden«, sagte Alex schließlich.»Sie sind verschieden!«

«Eine Falle«, sagte der Veteran vom Deuxieme.»Herr im Himmel, es ist eine Falle!«

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