Kapitel 27

«Ich kenne Sie!«rief Borowski.»Paris… vor Jahren… Lavier… Jacqueline Lavier. Sie hatten einen dieser Modeshops… Les Classiques, St. Honore — Carlos' Anlauf stelle in Faubourg! Ich hab Sie in einem Beichtstuhl in Neuillysur-Seine gefunden. Ich dachte, Sie wären tot. «Das scharf geschnittene Gesicht der Frau war vor Wut gezerrt. Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien, aber Jason machte einen Schritt zur Seite, als sie sich um ihre Achse drehte. Mit einer schnellen Bewegung stieß er sie gegen die Wand, wo er sie, den linken Unterarm an ihrer Kehle, festhielt.

«Aber Sie waren nicht tot. Sie gehörten zu der Falle, die am Louvre endete, am Louvre aufflog!.. Bei Gott, Sie kommen mit mir. So viele Männer mußten sterben — Franzosen —, und ich konnte nicht bleiben, um ihnen zu erzählen, wie es passiert und wer dafür verantwortlich war… Wenn man einen Polizisten tötet, wird das nie aus den Büchern gestrichen. Oh, sie werden sich an den Louvre erinnern, sie werden sich an ihre Leute erinnern!«

«Das ist falsch!«gurgelte die Frau, und ihre weit geöffneten grünen Augen traten aus ihren Höhlen hervor.»Ich bin nicht, wer Sie denken…«

«Sie sind die Lavier! Die Königin von Faubourg, der einzige Kontakt zur Frau des Schakals, der Gattin des Generals. Sagen Sie bloß nicht, ich hab unrecht… Ich habe Sie beide bis nach Neuilly verfolgt, zu der Kirche, wo die Glocken bimmelten und überall Priester herumrannten einer von ihnen war Carlos! Minuten später kam seine Hure wieder heraus, Sie aber nicht. Sie ging eilends davon, ich lief hinein und beschrieb Sie einem alten Priester wenn er ein Priester war —, und er sagte mir, Sie wären im zweiten Beichtstuhl von links. Ich ging hinüber, zog den Vorhang zur Seite, und da waren Sie: tot. Ich dachte, Sie wären gerade getötet worden, und alles ging so schnell. Carlos mußte dasein! Er war in meiner Reichweite, in Reichweite meiner Waffe — oder vielleicht war ich in seiner Reichweite. Ich rannte wie ein Idiot herum, und plötzlich sah ich ihn! Draußen auf der Straße, wie ein Priester gekleidet. Ich sah ihn, ich wußte, daß er es war, weil er mich sah und sofort durch den Verkehr davonrannte. Und dann habe ich ihn verloren. Ich verlor ihn!.. Aber ich hatte noch eine Karte. Sie. Ich ließ verlauten, die Lavier ist tot… Es war genau das, was ich tun sollte, nicht wahr? Nicht wahr?«

«Ich sage Ihnen noch einmal, daß Sie unrecht haben!«Die Frau wehrte sich nicht mehr; es war sinnlos. Statt dessen machte sie sich ganz steif, ohne die geringste Bewegung, als bekäme sie nur so die Erlaubnis zu sprechen.»Werden Sie mir endlich zuhören?«fragte sie unter Schmerzen, weil Jasons Unterarm sie noch immer an die Wand drückte.

«Vergessen Sie's, Lady«, antwortete Borowski.»Sie fühlen sich nicht gut — eine Barmherzige Schwester, der von einem Fremden geholfen wird. Sie hatten einen Ohnmachtsanfall. In Ihrem Alter passiert das doch häufiger, oder?«

«Warten Sie.«

«Zu spät.«

«Wir müssen reden!«

«Werden wir. «Jason nahm seinen Arm weg, und gleichzeitig schlug er mit beiden Händen auf die Schulterblätter der Frau, dorthin, wo die Sehnen in die Nackenmuskeln übergingen. Sie klappte zusammen. Im Fallen fing er sie auf und trug sie aus der engen Gasse, wie es ein demütiger Bittsteller mit einem frommen Sozialarbeiter tun würde. Die Morgendämmerung breitete sich immer weiter aus, und mehrere Frühaufsteher, darunter ein junger Jogger, kreuzten den Weg des Mannes, der die Nonne trug.»Sie ist zwei Tage lang bei meiner Frau und den kranken Kindern gewesen, ohne zu schlafen!«flehte das Chamäleon auf französisch.»Kann mir jemand bitte ein Taxi rufen, damit ich sie zurück in ihr Kloster bringen kann?«

«Mach ich!«rief der junge Jogger.»Es gibt einen Stand in der Rue de Sevres.«

«Wirklich sehr freundlich«, sagte Jason dankbar, aber gleichzeitig mißfiel ihm der so vertrauliche junge Mann.

Sechs Minuten später kam das Taxi mit dem Jugendlichen drinnen.»Ich hab dem Fahrer gesagt, Sie hätten Geld«, sagte er beim Aussteigen.»Ich hoffe es jedenfalls.«

«Natürlich. Danke.«

«Sagen Sie der Schwester, was ich getan habe«, fügte der junge Mann hinzu, als er Borowski half, die bewußtlose Frau sanft auf den Rücksitz des Taxis zu legen.»Ich brauche jede nur mögliche Hilfe, wenn meine Zeit gekommen ist.«

«Ich denke, das dauert noch etwas«, sagte Jason und versuchte, das Grinsen des Jungen zu erwidern.

«Ich vertrete meine Firma beim Marathonlauf. «Der junge Mann begann auf der Stelle zu treten.»Nochmals vielen Dank. Ich drücke die Daumen.«

«Sagen Sie der Schwester, sie soll für mich beten!«rief der Sportler und rannte los.

«Zum Bois de Boulogne«, sagte Borowski zum Fahrer, als er die Tür schloß.

«Zum Bois? Dieser Windmacher sagte mir, es sei ein dringender Fall! Daß Sie die Nonne in ein Krankenhaus bringen wollten.«

«Sie hat zuviel Wein getrunken. Was soll ich sagen?«

«Der Bois de Boulogne«, sagte der Fahrer kopfnickend.»Lassen Sie sie ein bißchen Spazierengehen. Ich habe eine Cousine im Kloster von Lyon. Wenn sie eine Woche draußen ist, dann ist sie voll bis zu den Ohren. Soll man ihr einen Vorwurf daraus machen?«

Die Bank an dem Kiesweg im Bois bekam allmählich die ersten Sonnenstrahlen ab. Die Frau in ihrer Klostertracht begann den Kopf zu bewegen.

«Wie geht es, Schwester?«fragte Jason, der neben seiner Gefangenen saß.

«Ich glaube, mich hat ein Panzer gerammt«, antwortete sie blinzelnd und öffnete den Mund, um tief durchzuatmen.»Mindestens ein Panzer.«

«Ich fürchte, darüber wissen Sie besser Bescheid als über die Wohlfahrtsküche der Barmherzigen Schwestern.«

«Richtig.«

«Sie brauchen gar nicht nach Ihrer Waffe zu suchen«, sagte Borowski.»Ich habe sie aus Ihrem sehr teuren Gürtel genommen.«

«Freut mich, daß Sie seinen Wert erkannt haben. Das gehört zu dem, worüber wir sprechen müssen… Da ich nicht auf einer Polizeistation bin, nehme ich an, daß Sie mir zuhören werden.«

«Nur, wenn es meinen Zielen dient. Ich denke, das wird nicht zu schwer zu verstehen sein.«

«Muß ja. Ihren Zielen dienen, wie Sie sagen. Ich habe versagt. Ich bin geschnappt worden. Ich bin nicht dort, wo ich sein müßte, und egal, welche Uhrzeit es ist, das Licht sagt mir, daß es für Entschuldigungen zu spät ist. Im übrigen ist mein Fahrrad…«

«Ich habe es nicht genommen.«

«Ich bin schon gestorben. Ob es nun weg ist oder nicht.«

«Weil Sie verschwunden sind? Nicht dort sind, wo Sie sein sollten?«

«Natürlich.«

«Sie sind die Lavier!«

«Richtig. Ich heiße Lavier, aber ich bin nicht die Frau, die Sie kannten. Das war meine Schwester Jacqueline — ich heiße Dominique. Wir waren beinahe gleichaltrig, und von Kindesbeinen an waren wir uns sehr ähnlich. Sie haben ganz recht mit Neuilly-sur-Seine und dem, was Sie dort gesehen haben. Meine Schwester wurde getötet, weil sie eine eherne Regel gebrochen, eine tödliche Sünde begangen hatte. Sie geriet in Panik und führte Sie zu seiner Frau, seinem am meisten verehrten und nützlichsten Geheimnis.«

«Ich?… Sie wissen, wer ich bin?«

«Ganz Paris — das Paris des Schakals — weiß, wer Sie sind, Monsieur Borowski. Nicht von Angesicht, das versichere ich Ihnen, aber man weiß, daß Sie hier sind, und man weiß, daß Sie hinter Carlos her sind.«

«Und Sie sind Teil von diesem Paris?«

«Bin ich.«

«Gütiger Gott, er hat Ihre Schwester getötet!«

«Dessen bin ich mir bewußt.«

«Und dennoch arbeiten Sie für ihn?«

«Es gibt Zeiten, da hat man keine große Auswahl. Da geht es um Leben oder Tod. Bis vor sechs Jahren, als das Les Classiques in andere Hände überging, war es für den Monseigneur lebenswichtig. Ich nahm den Platz von Jacqui ein…«

«Einfach so?«

«Es war nicht schwer. Ich sah nur etwas jünger aus als sie.«Über das Gesicht der Frau huschte ein kurzes, nachdenkliches Lächeln.»Auf jeden Fall sind Schönheitsoperationen in der Welt der Haute Couture gang und gäbe. Jacqui war angeblich in die Schweiz zu einem Facelifting gefahren… und ich kehrte nach acht Wochen Vorbereitung nach Paris zurück.«

«Wie konnten Sie? Mit dem Wissen… Unglaublich.«

«Ich wußte es zu Anfang noch nicht. Erst später hab ich es erfahren, aber da war es irrelevant, weil ich schon keine Wahl mehr hatte.«

«Ist Ihnen niemals die Idee gekommen, zur Polizei oder zur Sürete zugehen?«

«Wegen Carlos?«Die Frau schaute Borowski an, als müsse sie ein ungehorsames Kind zurechtweisen.»Wie die Briten auf Cap Ferrat sagen: Sie belieben zu scherzen.«

«Also stiegen Sie vergnügt ins Killer-Geschäft ein?«

«Ich wurde erst allmählich eingeweiht, meine Erziehung ging langsam, stückchenweise von statten… Zu Anfang wurde mir gesagt, daß Jacqueline mit ihrem damaligen Liebhaber bei einem Bootsunfall umgekommen sei und daß man mir einen enormen Lohn zahlen würde, wenn ich nur ihren Platz einnähme. Les Classiques war weit mehr als nur ein erlesener Salon… «

«Weit mehr«, stimmte Jason zu.»Von dort sickerten Frankreichs allergeheimsten militärischen und geheimdienstlichen Angelegenheiten zum Schakal durch — über eine Frau, die Gattin eines berühmten Generals.«

«Ich habe das erst viel später durchschaut — nachdem der General sie umgebracht hatte. Villiers hieß er, glaube ich.«

«Richtig. «Jason schaute auf das stille, dunkle Wasser des Teichs auf der anderen Wegseite, auf dem zahllose Wasserlilien schwammen. Alte Bilder überfluteten ihn.»Ich bin derjenige, der ihn fand, sie fand. Villiers saß in einem Stuhl mit hoher Rückenlehne, eine Pistole in der Hand; seine Frau lag auf dem Bett, nackt, blutend, tot. Er wollte sich selbst töten. Es sei die angemessene Exekution für einen Verräter, sagte er, denn seine Verehrung für seine Frau habe sein Urteilsvermögen erblinden lassen, und in dieser Blindheit habe er sein geliebtes Frankreich verraten… Ich überzeugte ihn davon, daß es noch eine

Möglichkeit gab. Beinahe hätte es funktioniert — vor dreizehn Jahren. In einem seltsamen Haus auf der 71. Straße in New York.«

«Ich weiß nicht, was in New York geschah, aber General Villiers hinterließ Anweisungen, daß nach seinem Tod das, was in Paris geschehen war, veröffentlicht werden sollte. Als er starb und die Wahrheit herauskam, wurde Carlos verrückt vor Wut und tötete mehrere hochrangige Militärs, nur weil sie Generäle waren…«

«Aber das ist eine alte Geschichte«, unterbrach Borowski sie.»Heute ist heute. Was geschieht jetzt?«

«Ich weiß es nicht, Monsieur. Meine Chancen sind gleich null, oder? Vermutlich werden entweder Sie oder er mich umbringen.«

«Vielleicht auch nicht. Helfen Sie mir, ihn zu fangen, und Sie sind uns beide los, können ans Mittelmeer ziehen und dort in Frieden leben. Ohne untertauchen zu müssen — nach ein paar profitablen Jahren in Paris.«

«Untertauchen?«fragte die Lavier und studierte das verhärmte Gesicht ihres Überwinders.»Sie meinen verschwinden?«

«Das wird unnötig sein. Carlos wird Sie nicht mehr verfolgen können, weil er tot sein wird.«

«Ich verstehe schon. Es ist das Verschwinden, was mich interessiert, und die profitablen Jahre. Soll der Profit von Ihnen kommen?«

«Ja.«

«Ich verstehe… Das, was Sie Santos geboten haben? Ein profitables Verschwinden?«

Die Worte trafen ihn wie ein Schlag ins Gesicht.

«Also war es Santos am Ende«, sagte er leise.»Das Lefebvre war eine Falle.«

«Er ist tot, das Le Coeur wurde geräumt und geschlossen.«

«Was?«Verblüfft starrte Borowski wieder die Frau an.»Das war der Lohn dafür, daß er mich in die Zange genommen hat?«

«Nein, weil er Carlos verraten hat.«

«Verstehe ich nicht.«

«Der Monseigneur hat überall Augen, das wird Sie sicher nicht überraschen. Santos, der absolute Einsiedler, wurde dabei beobachtet, wie er mehrere schwere Kisten mit dem Lieferwagen wegbringen ließ. Und gestern früh hat er versäumt, seinen geschätzten Garten zu beschneiden und zu gießen… Ein Mann wurde zum Lagerhaus des Lebensmittellieferanten geschickt und öffnete die Kisten…«

«Bücher«, unterbrach Jason ruhig.

«Eingelagert bis auf weiteres«, ergänzte Dominique Lavier.

«Der Abgang von Santos sollte schnell und diskret vor sich gehen.«

«Und Carlos wußte, daß es niemanden in Moskau gab, der eine Telefonnummer weitergeben würde.«

«Wie bitte?«

«Nichts… Was war Santos für ein Mensch?«

«Ich habe ihn nie kennengelernt, nie gesehen. Ich habe nur von ihm gehört — was nicht viel war.«

«Für viel habe ich auch gar keine Zeit. Was also?«

«Äußerlich ein sehr großer Mann…«

«Das weiß ich«, unterbrach Jason ungeduldig.»Und durch die Bücher wissen wir beide, daß er sehr belesen gewesen sein muß. Woher kam er, und warum arbeitete er für den Schakal?«

«Man sagt, daß er Kubaner war und für Castro gekämpft hat, daß er ein tiefer Denker war und zusammen mit dem Commandante Recht studiert hat und daß er ein großer Athlet war. Dann, wie in allen Revolutionen, werden die Siege durch innere Kämpfe zunichte gemacht das zumindest haben mir meine alten Freunde aus den Tagen der Mai-Barrikaden erzählt.«

«Übersetzt heißt das?«

«Fidel war eifersüchtig auf die Führer bestimmter Gruppen, besonders auf Che Guevara und den Mann, den Sie als Santos kannten. Wo Castro größer als das Leben war, waren diese beiden größer als er, und Fidel konnte diese Konkurrenz nicht ertragen. Che wurde auf eine Mission geschickt, die sein Leben beendete, und gegen Santos wurden zusammengebastelte konterrevolutionäre Anklagen erhoben. Er stand kurz vor der Exekution, als Carlos und seine Leute in das Gefängnis eindrangen und ihn wegzauberten.«

«Zauberten? Als Priester verkleidet, zweifellos.«

«So wird es wohl gewesen sein. Die Kirche mit ihren mittelalterlichen Geistesstörungen hatte Kuba einmal fest im Griff.«

«Das klingt bitter.«

«Ich bin eine Frau, der Papst ist es nicht.«

«Ein abschließendes Urteil… Santos hat sich also Carlos angeschlossen, zwei desillusionierte Marxisten auf der Suche nach ihrer persönlichen Sache — oder vielleicht ihrem persönlichen Hollywood.«

«Das verstehe ich nicht, Monsieur. Aber wenn ich Sie in etwa richtig verstehe, dann hat Carlos die brillante Phantasie, und das Schicksal von Santos war die bittere Desillusion. Er schuldete dem Schakal sein Leben, warum sollte er es ihm nicht geben? Was war für ihn noch geblieben?… Bis Sie kamen.«

«Mehr muß ich nicht wissen. Danke. Ich wollte nur ein paar Lücken geschlossen haben.«

«Lücken?«

«Dinge, die ich nicht wußte.«

«Was wissen wir denn, Monsieur Borowski? War das nicht Ihre ursprüngliche Frage?«

«Was wollen Sie tun, Madame Lavier?«

«Ich weiß nur, daß ich nicht sterben will. Jahrelang war ich ein teures Callgirl in Monte Carlo, Nizza und Cap Ferrat. Und einige alte Freunde sind mir aus den alten Tagen geblieben, gelegentliche Liebhaber, die um der alten Zeiten willen zu mir kommen. Die meisten sind allerdings schon tot, ein Jammer, wirklich.«

«Ich dachte, Sie sagten, Sie seien enorm gut dafür bezahlt worden, die Identität Ihrer Schwester anzunehmen.«

«Oh, ja, wurde ich, und bis zu einem gewissen Grad werde ich es noch. Ich bewege mich in der Oberschicht von Paris, wo der Klatsch blüht, und das ist oft hilfreich. Ich habe eine wunderschöne Wohnung in der Avenue Montaigne. Antiquitäten, wertvolle Bilder, Bedienstete, diverse Konten — alles, was eine Frau der eleganten Mode haben muß, was von den Kreisen, in denen sie sich bewegt, erwartet wird. Und Geld. Jeden Monat werden mir aus Genf achtzigtausend Francs überwiesen — weit mehr, als ich brauche, um die Rechnungen zu bezahlen. Denn, Sie verstehen, ich muß sie bezahlen, niemand sonst.«

«Dann haben Sie also Geld.«

«Nein, Monsieur. Ich habe einen Lebensstil, kein Geld. Das ist die Methode des Schakals. Außer bei den alten Männern zahlt er nur, wenn er eine unmittelbare Dienstleistung erhält. Und wenn das Geld aus Genf nicht am Zehnten jedes Monats auf meiner Bank ist, werde ich innerhalb von dreißig Tagen aus meiner Wohnung geworfen. Allerdings, wenn Carlos sich entschließt, mich loszuwerden, kann er es einfacher haben. Ich werde schlicht und einfach umgelegt. Wenn ich heute morgen in meine Wohnung in der Avenue Montaigne zurückgehe, werde ich da nie mehr herauskommen… wie meine Schwester nie mehr aus jener Kirche in Neuilly-sur-Seine herausgekommen ist. Zumindest nicht lebendig.«

«Davon sind Sie überzeugt?«

«Natürlich. An der Stelle, wo ich mein Fahrrad angekettet hatte, sollte ich Anweisungen von einem der alten Männer erhalten. Die Befehle waren präzise und sollten präzise befolgt werden. Ich sollte eine Frau, die ich kenne, in zwanzig Minuten bei einer Bäckerei in Saint-Germain treffen, wo wir die Kleidung getauscht hätten. Sie sollte zurück in die Mission fahren, und ich sollte in einem Zimmer des Hotel Tremoille einen Kurier aus Athen treffen.«

«Die Mission? Sie wollen sagen, daß die Frauen auf Rädern wirklich Nonnen waren?«

«Ja, mit dem Gelübde der Keuschheit und der Armut, Monsieur. Ich bin eine Oberin aus dem Kloster von Saint-Malo, die häufig zu Besuch kommt.«

«Und die Frau in der Bäckerei. Ist sie…?«

«Sie fällt ab und zu in Ungnade, aber sie ist eine perfekte Verwalterin.«

«Großer Gott!«

«Sehen Sie endlich die Hoffnungslosigkeit meiner Position?«

«Ich bin mir nicht sicher.«

«Dann sehe ich mich gezwungen, mich zu fragen, ob Sie wirklich das Chamäleon sind. Ich war nicht in der Bäckerei. Das Treffen mit dem griechischen Kurier fand niemals statt. Wo war ich?«

«Sie wurden verhindert. Die Fahrradkette ist gerissen, Sie wurden von einem LKW gestreift. Oder Sie wurden überfallen, zum Teufel. Was ist der Unterschied? Sie haben sich verspätet.«

«Wie lange ist es her, seit Sie mich bewußtlos geschlagen haben?«

Jason sah auf seine Uhr.»Etwas über eine Stunde, denke ich, vielleicht eine Stunde und dreißig Minuten. In Anbetracht Ihres Standes fuhr der Taxifahrer eine ganze Weile herum, um einen Platz zum Parken zu finden, wo wir Ihnen zu einer Bank helfen konnten. Er wurde für seine Hilfe gut bezahlt.«

«Eineinhalb Stunden?«fragte die Lavier, scharf nachdenkend.

«Und?«

«Warum rufe ich also nicht die Bäckerei oder das Hotel Tremoille an?«

«Nein, das ist zu gefährlich«, fügte Borowski hinzu und schüttelte den Kopf.

«Was denn?«Die Lavier bohrte ihre grünen Augen in seine.»Was denn, Monsieur?«

«Der Boulevard Lefebvre«, antwortete Jason langsam und leise.»Die Falle. Wie ich seine für mich umdrehte, drehte er drei Stunden später meine für sich um. Dann habe ich die Strategie durchquert und Sie erwischt.«

«Genau. «Das ehemalige Callgirl aus Monte Carlo nickte.»Und er kann nicht wissen, was zwischen uns vorgefallen ist… daher bin ich zum Tode verurteilt. Ein Pfand wird beseitigt, denn ich bin nur ein Pfand. Ich kann den Behörden nichts Wesentliches erzählen. Ich habe den Schakal niemals gesehen. Ich kann nur das Geschwätz seiner Untergebenen wiederholen.«

«Sie haben ihn niemals gesehen?«

«Vielleicht, aber niemals wissentlich. Es gibt so viele Gerüchte in Paris. Dieser da mit der dunklen südländischen Haut oder der dort mit den schwarzen Augen und einem dunklen Schnurrbart, das ist Carlos, weißt du — wie oft habe ich diesen Satz gehört! Nein. Niemals ist ein Mann zu mir gekommen und hat gesagt: Ich bin es, und ich mache dein Leben angenehm, mein elegantes ehemaliges Callgirl. Ich habe nur mit alten

Männern zu tun, die mir ab und zu Informationen überbringen, die ich weitergeben muß — wie heute am Boulevard Lefebvre.«

«Ich verstehe. «Borowski stand auf, streckte sich und betrachtete seine Gefangene auf der Bank.»Ich kann Sie da rausholen«, sagte er.»Raus aus Paris, raus aus Europa. Aus der Reichweite von Carlos. Möchten Sie das?«

«So wie Santos?«antwortete die Lavier mit bittenden Augen.»Ich übertrage bereitwillig meine Ergebenheit von ihm auf Sie.«

«Warum?«

«Weil er alt ist und grau und kein Gegner für Sie. Sie bieten mir Leben, er den Tod.«

«Das ist eine vernünftige Entscheidung«, sagte Jason mit einem verhaltenen, aber warmen Lächeln.»Haben Sie Geld bei sich?«

«Nonnen müssen ein Armutsgelübde ablegen, Monsieur«, antwortete Dominique Lavier und gab sein Lächeln zurück.»Aber ich habe ein paar hundert Francs bei mir.

Warum?«

«Das reicht nicht«, fuhr Borowski fort. Er griff in seine Tasche und holte seine beeindruckende Rolle mit Scheinen heraus.»Hier sind dreitausend«, sagte er und reichte ihr das Geld.»Kaufen Sie sich was zum Anziehen — ich bin sicher, Sie wissen, wo —, und nehmen Sie ein Zimmer im… Meurice in der Rue de Rivoli.«

«Unter welchem Namen?«

«Haben Sie eine Idee?«

«Wie war's mit Brielle? Ein hübscher Ort an der See.«

«Warum nicht?… Geben Sie mir zehn Minuten Zeit, um hier zu verschwinden, und dann gehen Sie. Ich werde Sie um die Mittagszeit im Meurice treffen.«

«Mit ganzem Herzen, Jason Borowski!«»Vergessen wir diesen Namen.«

Das Chamäleon verließ den Bois de Boulogne und ging zum nächsten Taxistand. In wenigen Minuten akzeptierte ein begeisterter Taxifahrer Jasons Hundert-Francs-Schein und wartete am Ende der Reihe mit drei Fahrzeugen.

«Die Nonne kommt, Monsieur «rief der Fahrer.»Sie steigt ins erste Taxi!«

«Folgen Sie ihm«, sagte Jason und setzte sich auf.

Auf der Avenue Victor Hugo, verlangsamte Laviers Taxi die Fahrt und hielt vor einer Telefon-Plastikkuppel, einer seltenen Abkehr von der Pariser Tradition.

«Halten Sie hier«, befahl Borowski, der im selben Augenblick ausstieg, als der Fahrer einbog. Hinkend lief das Chamäleon schnell und leise zum Telefon hinüber und stellte sich unbemerkt direkt hinter die eifrige Nonne.

«Das Meurice!«rief sie in das Telefon.»Der Name ist Brielle. Er wird um die Mittagszeit kommen… Ja, ja, ich gehe in meine Wohnung, ziehe mich um und werde in einer Stunde dort sein. «Die Lavier legte auf, drehte sich um und schnappte bei seinem Anblick nach Luft.

«Nein!«schrie sie.

«Ich fürchte doch«, sagte Borowski.»Sollen wir mein Taxi nehmen? Er ist alt und grau — das waren Ihre Worte, Dominique. Gut getroffen für jemanden, der Carlos nie gesehen hat.«

Wütend kam Bernardine mit dem Portier, der ihn herbeizitiert hatte, aus dem Pont-Royal.

«Das ist geradezu lachhaft!«rief er, als er sich dem Taxi näherte.

«Nein, ist es nicht«, verbesserte er sich, als er hineinsah.»Es ist bloß wahnsinnig.«

«Steigen Sie ein«, sagte Jason auf der anderen Seite der Frau, die wie eine Nonne gekleidet war. Francois stieg ein und starrte auf die schwarze Kleidung und das blasse Gesicht der frommen Frau zwischen ihnen.»Eine der talentierteren Schauspielerinnen des Schakals«, ergänzte Borowski.

«Ich bin nicht besonders religiös eingestellt, aber ich hoffe, Sie haben keinen Fehler gemacht, ich — oder sollte ich wir sagen — habe einen mit diesem Schwein von einem Bäcker gemacht.«

«Warum?«

«Er ist ein Bäcker, und das ist alles! Ich habe ihm, verdammt noch mal, beinahe eine Granate in seinen Ofen geschmissen. Niemand anders als ein französischer Bäcker kann so jammern, wie er es tat.«

«Es paßt«, sagte Jason.»Die unlogische Logik von Carlos — ich weiß nicht mehr, wer das gesagt hat, ich wahrscheinlich. «Das Taxi machte eine Kehrtwendung und fuhr in die Rue de Bac.»Wir fahren ins Meurice«, fügte Borowski hinzu.

«Ich bin sicher, daß es dafür einen Grund gibt«, meinte Bernardine, wobei er immer noch in das rätselhaft passive Gesicht von Dominique Lavier schaute.»Ich meine, diese süße, fromme alte Dame sagt gar nichts.«

«Ich bin nicht alt!«schrie die Frau energisch.

«Natürlich nicht, meine Liebe«, gab der Veteran zu.»Nur begehrenswerter in Ihren reifen Jahren.«

«Das ist es!«

«Warum ins Meurice?«fragte Bernardine.

«Es ist die endgültige Falle des Schakals für mich«, antwortete Borowski.»Dank der Hilfsbereitschaft unserer überzeugenden Barmherzigen Schwester hier. Er erwartet, daß ich dort auftauche, und genau das werde ich tun.«

«Ich rufe das Deuxieme an. Dank eines eingeschüchterten Bürokraten werden sie alles tun, was ich verlange. Bringen Sie sich nicht in Gefahr, mein Freund.«

«Ich möchte Sie ja nicht beleidigen, Francois, aber Sie selbst haben mir gesagt, daß Sie nicht mehr alle Leute im Büro kennen. Das Risiko wäre zu groß.«

«Laßt mich helfen. «Dominique Lavier unterbrach das Brummen des Verkehrs draußen mit leiser, sanfter Stimme.»Ich kann Ihnen helfen.«

«Ich habe schon einmal auf Ihre Hilfe gehört, Lady, und die hätte mich zu meiner eigenen Hinrichtung gebracht. Nein, danke.«

«Das war vorhin, nicht jetzt. Es ist doch offensichtlich, daß meine Lage jetzt wirklich hoffnungslos ist.«

«Habe ich diese Worte nicht erst kürzlich gehört?«

«Nein, haben Sie nicht. Ich habe gerade das Wörtchen jetzt hinzugefügt… Ich kann nicht behaupten, alles zu verstehen, aber der alte Boulevardschlenderer neben mir erwähnte beiläufig, daß er das Deuxieme dazurufen will das Deuxieme, Monsieur Borowski! Für einige Leute ist das nichts anderes als Frankreichs Gestapo! Auch wenn ich die Geschichte hier überlebe, werde ich von denen sicher in irgendeine furchtbare Strafkolonie am Ende der Welt geschickt werden — oh, ich habe Geschichten über das Deuxieme gehört!«

«Wirklich?«sagte Bernardine.»Ich nicht. Klingt wirklich wunderbar. Wie wunderschön.«

«Außerdem«, fuhr die Lavier fort, wobei sie Jason scharf ansah und sich ihre weiße Haube vom Kopf riß, eine Geste, die den Fahrer, der die Szene im Rückspiegel beobachtete, die Augenbrauen heben ließ,»ohne mich, ohne meine Anwesenheit im Meurice in einer völlig anderen Aufmachung wird Carlos nicht mal in die Nähe der Rue de Rivoli kommen. «Bernardine tippte der Frau auf die Schulter und legte den Zeigefinger an die Lippen, wobei er in Richtung Fahrer nickte. Dominique fügte rasch hinzu:»Der Mann, mit dem Sie zu konferieren wünschen, wird nicht dort sein.«

«Das hat etwas für sich«, sagte Borowski, beugte sich vor und sah den Veteranen des Deuxieme an.»Sie hat auch ein Appartement in der Avenue Montaigne, wo sie die Kleider wechseln will, und keiner von uns kann mit ihr da hineingehen.«

«Das stellt ein Dilemma dar, nicht wahr?«antwortete Bernardine.»Es gibt keine Möglichkeit, das Telefon von der Straße aus zu kontrollieren, oder?«

«Ihr Idioten!.. Ich habe keine andere Wahl, als mit euch zu kooperieren, und wenn ihr das nicht sehen könnt, solltet ihr Blindenhunde dabeihaben! Dieser alte, alte Mann hier wird tatsächlich meinen Namen bei der erstbesten Gelegenheit in die Akten des Deuxieme bringen, und wie der berüchtigte Jason Borowski weiß, wenn er das Deuxieme auch nur flüchtig kennt, so werden sich dann gleich mehrere grundlegende Fragen stellen — die übrigens meine Schwester Jacqueline schon gestellt hat: Wer ist dieser Borowski? Gibt es ihn wirklich? Ist er der Mörder aus Asien oder nur eine List, eine Falle? Sie hat mich selbst eines Nachts in Nizza nach viel zu vielen Brandys angerufen — eine Nacht, an die Sie sich sicherlich erinnern, Monsieur le cameleon — ein furchtbar teures Restaurant außerhalb von Paris. Sie bedrohten sie… im Namen mächtiger, namenloser Leute drohten Sie ihr! Sie verlangten, daß sie ausplaudern sollte, was sie über eine bestimmte Person aus ihrer Bekanntschaft wüßte — wer es damals war, das weiß ich nicht mehr —, aber Sie jagten ihr gehörig Angst ein. Sie sagte, daß Sie verrückt schienen, daß Ihre Augen glasig wurden und Sie Worte in einer Sprache gebrauchten, die sie nicht verstand.«

«Ich erinnere mich«, unterbrach Borowski eisig.»Wir aßen gemeinsam, und ich bedrohte sie, und sie hatte Angst. Sie ging auf die Damentoilette, bezahlte jemanden, um einen Anruf für sie zu erledigen, und ich mußte verschwinden.«

«Und jetzt ist das Deuxieme mit jenen mächtigen namenlosen Leuten verbündet?«Dominique Lavier schüttelte wiederholt den Kopf und sprach noch leiser.»Nein, Messieurs, ich habe zu überleben gelernt, und dagegen kämpfe ich nicht an. Man muß wissen, wann man den Schwarzen Peter weiterreicht.«

Nach einer kurzen Pause des Schweigens sagte Bernardine:»Wie ist Ihre Adresse in der Avenue Montaigne? Ich werde sie dem Fahrer geben, aber bevor ich es tue, sollen Sie eines verstehen, Madame. Wenn sich Ihre Worte als falsch erweisen, dann wird der wirkliche Horror des Deuxieme über Sie kommen.«

Marie saß am Tisch in ihrem Hotelzimmer und las die Zeitung. Mit ihren Gedanken war sie ständig woanders, sie konnte sich nicht konzentrieren. Die Angst hatte sie wach gehalten, nachdem sie kurz nach Mitternacht zurückgekehrt war. Sie war in fünf verschiedenen Cafes gewesen, die sie und David häufig besucht hatten. Endlich, gegen vier Uhr früh, nach vielem Husten und Sich-Herumwälzen, hatte die Erschöpfung sie übermannt. Bei brennender Nachttischlampe war sie eingeschlafen, und sechs Stunden später wurde sie durch eben dieses Licht geweckt. So lange hatte sie seit der ersten Nacht auf Tranquility nicht mehr geschlafen, was jedoch schon ferne Vergangenheit für sie war. Nur nicht an die Kinder denken! Das tut zu weh! Denke an David… Nein, denke an Jason Borowski! Wo? Konzentrier dich!

Sie legte die Pariser Ausgabe der Herald Tribüne hin und schenkte sich eine dritte Tasse Kaffee ein. Sie sah zur Flügeltür, die auf einen kleinen Balkon mit Blick auf die Rue de Rivoli führte. Es beunruhigte sie, daß sich der strahlende Morgen in einen so trüben, grauen Tag verwandelt hatte. Bald würde es Regen geben, was ihre Suche in den Straßen noch schwieriger machen würde. Resigniert schlürfte sie ihren Kaffee, stellte die Tasse wieder auf die Untertasse und bedauerte, daß es nicht ein einfacher Becher war, wie David und sie ihn in ihrem Landhaus in Maine bevorzugten. Oh, Gott, würden sie jemals wieder dort sein können? Denk nicht an solche Dinge! Konzentrier dich!

Sie nahm die Tribüne wieder hoch und blätterte ziellos die Seiten durch, sah aber nur isolierte Worte, keine Sätze oder Abschnitte, konnte keinen durchgehenden Gedanken oder Sinn ausmachen, nur Worte. Dann sprang ihr ein Wort am Ende einer sinnlosen Kolumne ins Auge, eine einzige sinnlose Zeile am Ende einer sinnlosen Seite. Das Wort war» Miemom «und danach eine Telefonnummer, und sie wollte gerade schon weiterblättern, als ein Signal aus einem anderen Teil ihres Hirn» Stop!«schrie.

Miemom… mommy — umgedreht von einem Kind, das seine ersten sprachlichen Versuche machte. Miemom! Jamie — ihr Jamie! Der lustige umgedrehte Name, mit dem er sie mehrere Wochen lang gerufen hatte! David hatte seinen Spaß daran gehabt, während sie fürchtete, daß ihr Sohn unter Sprachstörungen leiden könnte.

«Vielleicht ist er einfach durcheinander, miemom«, hatte David lachend gesagt.

David! Sie schlug die Seite wieder auf; es war der Wirtschaftsteil der Zeitung, der Teil, über dem sie instinktiv jeden Morgen beim Kaffee brütete. David schickte ihr eine Botschaft! Sie stieß den Stuhl zurück, der krachend umfiel, schnappte die Zeitung und rannte zum Telefon. Mit zitternden Fingern wählte sie die Nummer. Keine Antwort. Weil sie dachte, sie habe womöglich im Eifer einen Fehler gemacht, wählte sie nochmals, langsam und sorgfältig.

Keine Antwort. Aber es war David, sie fühlte es, sie wußte es! Er hatte am Trocadero nach ihr gesucht, und jetzt verwendete er einen kurz benutzten Spitznamen, den nur sie beide kennen konnten! Meine Liebe, meine Liebe, ich habe dich gefunden… Sie wußte auch, daß sie nicht in der Enge des Zimmers bleiben konnte, hin- und hergehend und alle paar Minuten die Nummer wählend, um bei jedem unbeantworteten Klingelzeichen verrückt zu werden. Wenn du gestreßt bist und sich alles dreht, bis du glaubst, daß du explodierst, finde einen Ort, wo du dich bewegen kannst, ohne beobachtet zu werden. Bewege dich! Das ist wichtig. Du darfst deinen Kopf nicht explodieren lassen. Eine der Lektionen von Jason Borowski. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie zog sich schneller an als jemals zuvor in ihrem Leben. Sie riß die Botschaft aus der Zeitung heraus und verließ das bedrückende Zimmer. Sie zwang sich, nicht zum Fahrstuhl zu rennen. Sie brauchte die Menschenmenge auf den Straßen von Paris, wo sie sich bewegen konnte, ohne bemerkt zu werden. Von einem Telefonhäuschen zum nächsten.

Die Fahrt hinunter in die Lobby war endlos und unerträglich, vor allem wegen eines amerikanischen Ehepaars — er mit Kameraausrüstung, sie mit violetten Augenlidern und Wasserstofffrisur, die in Zement gegossen schien —, das sich darüber beklagte, daß nicht genügend Leute in Paris englisch sprächen. Endlich öffnete sich die Fahrstuhltür, und Marie trat rasch hinaus in die überfüllte Lobby des Meurice.

Als sie den Marmorboden zur großen Glastür des schmuckreichen Eingangs überquerte, hielt sie plötzlich unfreiwillig inne, als ein älterer Mann in einem dunklen Nadelstreifenanzug den Mund aufsperrte und sich aus einem tiefen Ledersessel rechts von ihr vorbeugte. Der alte Mann starrte sie an, seine schmalen Lippen erstaunt geöffnet, mit entsetztem Blick.

«Marie St. Jacques!«flüsterte er.»Mein Gott, verschwinden Sie hier!«

«Ich bitte Sie… was?«

Der ältere Franzose erhob sich schnell, aber mühevoll aus dem Sessel, wobei er mit unauffälligen Blicken die Lobby absuchte.»Sie dürfen hier nicht gesehen werden, Mrs. Webb«, sagte er mit immer noch flüsternder Stimme, aber in nicht weniger barschem und befehlendem Ton.»Sehen Sie mich nicht an! Sehen… Sie auf Ihre Uhr. Senken Sie Ihren Kopf. «Der Veteran vom Deuxieme schaute weg, nickte wahllos einigen

Leuten in den nächststehenden Sesseln zu und fuhr mit kaum geöffnetem Mund fort:»Gehen Sie zur Tür ganz links hinaus, zum Gepäckeingang. Beeilen Sie sich!«

«Nein!«antwortete Marie mit gesenktem Kopf und dem Blick auf der Uhr.»Sie kennen mich, aber ich kenne Sie nicht! Wer sind Sie?«

«Ein Freund Ihres Mannes.«

«Mein Gott, ist er hier?«

«Die Frage ist, warum Sie hier sind?«

«Ich war schon einmal in diesem Hotel. Ich dachte, er würde sich daran erinnern.«

«Hat er, aber im falschen Zusammenhang, wie ich fürchte. Mon Dieu, sonst hätte er es niemals gewählt. Jetzt gehen Sie.«

«Ich will nicht! Ich muß ihn finden. Wo ist er?«

«Sie müssen gehen, oder Sie finden nur noch seine Leiche. In der Pariser Tribüne steht eine Botschaft für Sie…«

«Ja, sie ist in meiner Tasche. Auf der Wirtschaftsseite.«

«Rufen Sie in ein paar Stunden an.«

«Das können Sie mir nicht antun.«

«Das können Sie ihm nicht antun. Sie werden ihn töten! Verschwinden Sie von hier. Sofort!«

Ihre Augen halb blind vor Wut und Angst und Tränen, lief Marie in Richtung des Seiteneingangs. Verzweifelt wünschte sie, sich umzudrehen, aber ebenso verzweifelt sicher war sie, daß sie das nicht durfte. Sie erreichte die schmale Glasflügeltür und stieß mit einem Kofferträger zusammen.

«Pardon, madame!«

Sie stammelte ein paar Worte, umrundete das Gepäck und trat auf den Bürgersteig. Was konnte sie tun? David war irgendwo im Hotel — im Hotel! Und ein fremder Mann hatte sie erkannt und sie gewarnt und ihr gesagt hinauszugehen — zu verschwinden! Was geschah da?… Mein Gott, irgend jemand versucht, David umzubringen! Soviel hatte der alte Franzose gesagt — wer war es… wer waren sie? Wo waren sie? Hilf mir! Um Himmels willen, Jason, sag mir, was ich tun soll. Jason?… Ja, Jason… hilf mir! Sie stand wie erstarrt da, während Taxis und Limousinen aus dem Mittagsverkehr ausscherten und in die Auffahrt des Meurice einbogen, wo ein Portier mit goldenen Litzen unter dem großen Baldachin Neuankömmlinge und alte Bekannte begrüßte und die Boys in alle Himmelsrichtungen scheuchte. Eine große, schwarze Limousine mit einem kleinen, diskreten religiösen Emblem an der Seite und dem kreuzförmigen Stander eines hohen kirchlichen Amtes schob sich zentimeterweise zum Baldachin vor. Marie starrte auf das kleine Emblem. Es war kreisförmig, nicht größer als zwölf Zentimeter im Durchmesser, eine Kugel aus königlichem Purpur, die ein langgezogenes Kreuz umgab. Sie fuhr zusammen und hielt die Luft an. Ihre Panik bekam eine neue Dimension. Sie hatte dieses Emblem schon einmal gesehen, und alles, woran sie sich erinnern konnte, war, daß es sie mit Schrecken erfüllt hatte.

Die Limousine hielt an. Beide Seitentüren wurden von dem lächelnden, sich verbeugenden Portier geöffnet, und fünf Priester stiegen aus, einer vom Vordersitz und vier aus dem geräumigen Fond. Die von hinten drängten sich sofort finster durch die mittägliche Menge der Passanten auf dem Gehweg, wobei zwei vorne um den Wagen herumgingen und zwei hinten herum. Einer der Priester eilte an Marie vorbei, wobei seine Soutane sie berührte und sein Gesicht ihr so nah kam, daß sie die glühenden, unpriesterlichen Augen eines Mannes sehen konnte, der keinem religiösen Orden angehörte… Dann tauchte die Assoziation mit dem Emblem, dem religiösen Abzeichen, wieder vor ihr auf!

Vor vielen Jahren, als David — als Jason — von Panov intensiv therapiert wurde, ließ Mo ihn zeichnen, skizzieren, kritzeln, was immer ihm in den Sinn kam. Immer wieder tauchte der furchtbare Kreis mit dem schmalen Kruzifix auf… und wurde regelmäßig von der Bleistiftspitze zerrissen und zerstochen. Der Schakal!

Plötzlich wurden Maries Augen von einem Menschen angezogen, der die Rue de Rivoli überquerte. Es war ein großer Mann in dunkler Kleidung — ein dunkler Sweater und schwarze Hosen —, und er hinkte, schlängelte sich durch den Verkehr, wobei er sich mit der Hand vor dem Nieseln schützte, das bald in Regen übergehen würde. Das Hinken war falsch! Das Bein streckte sich, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, und das Schwingen der Schultern war eine Gebärde, die sie nur zu gut kannte. Es war David!

Jemand anders, keine drei Meter von ihr entfernt, sah das, was sie sah, ebenfalls. Sofort hob er ein Miniaturfunkgerät an die Lippen. Marie stürzte los, die Hände wie die Klauen einer Tigerin ausgestreckt, und warf sich auf den Killer im Gewand eines Priesters.

«David!«schrie sie und hinterließ im Gesicht des Mannes eine Blutspur.

Schüsse knallten durch die Rue de Rivoli. Die Menge geriet in Panik, viele rannten ins Hotel, alle schrien, keiften, suchten Schutz vor dem mörderischen Wahnsinn, der plötzlich in dieser zivilisierten Straße entstanden war. Bei dem heftigen Kampf mit dem Kerl, der ihren Mann töten wollte, riß das kanadische Bauernmädchen ihm die Automatic aus dem Gürtel und feuerte sie ihm in den Kopf; Blut und Hirn spritzte in die Gegend.

«Jason!«schrie sie wieder, als der Killer umfiel, weil sie sich sofort bewußt wurde, daß sie allein mit der Leiche zu ihren Füßen dastand… wie eine Zielscheibe! Der alte aristokratische Franzose, der sie in der Lobby erkannt hatte, kam blitzschnell durch den Haupteingang, seine Automatic auf Dauerfeuer gestellt, und deckte die Limousine mit Schüssen ein. Für eine

Sekunde hörte er auf und zielte neu. Er zerschmetterte die Beine eines der» Priester«, der auf ihn gezielt hatte.

«Mon ami!« brüllte Bernardine.

«Hier!«schrie Borowski.»Wo ist sie?«

«A votre droite! Aupres de…« Ein einzelner Gewehrschuß explodierte bei der gläsernen Doppeltür des Meurice. Als er fiel, schrie der Veteran vom Deuxieme: »Les Capucines, mon ami, les Capucines!«

Bernardine fiel auf den Gehweg, und ein zweiter Gewehrschuß beendete sein Leben.

Marie war wie paralysiert, sie konnte sich nicht bewegen! Alles war wie ein Blizzard, ein Hurrikan aus eisigen Teilchen, die ihr mit solcher Wucht ins Gesicht schlugen, daß sie weder denken noch irgendeinen Sinn erkennen konnte. Haltlos weinend, fiel sie auf die Knie und brach mitten auf der Straße zusammen. Verzweifelt schrie sie:»Meine Kinder… Oh, Gott, meine Kinder!«Da stand plötzlich ein Mann über ihr.

«Unsere Kinder«, sagte Jason Borowski. Seine Stimme war nicht die Stimme von David Webb.»Wir verschwinden von hier. Kannst du mich verstehen?«

«Ja… ja!«Marie drehte sich unbeholfen herum und kam auf die Füße.»David?«

«Natürlich bin ich David. Komm schon!«

«Du hast mich erschreckt…«

«Ich erschrecke mich selber. Machen wir uns davon! Bernardine hat uns den Ausweg freigeschossen. Halte meine Hand!«

Sie rannten die Rue de Rivoli hinunter, dann nach rechts auf den Boulevard St. Michel, bis ihnen die Pariser Spaziergänger mit ihrer nonchalance du pur klarmachten, daß sie dem Schrecken des Meurice entronnen waren. In einer Gasse hielten sie an und umarmten sich.»Warum hast du das getan?«fragte

Marie und nahm sein Gesicht in ihre Hände.»Warum bist du von uns fortgelaufen?«

«Weil ich ohne dich besser bin, du weißt es.«

«Warst du früher nicht, David. Oder sollte ich Jason sagen?«

«Namen spielen keine Rolle, wir müssen weiter!«

«Wohin?«

«Ich bin mir nicht sicher. Aber wir können uns bewegen, das ist wichtig. Es gibt einen Ausweg. Bernardine hat ihn uns gewiesen.«

«War er der alte Franzose?«

«Laß uns nicht über ihn sprechen, okay? Zumindest nicht für eine Weile. Ich bin mitgenommen genug.«

«In Ordnung, wir werden nicht über ihn reden. Dennoch, er hat Les Capucines erwähnt — was meinte er damit?«

«Das ist unser Ausweg. Dort wartet ein Auto auf mich. Das hat er mir sagen wollen. Gehen wir!«

Sie rasten mit dem Peugeot in Richtung Süden aus Paris nach Villeneuve-St.-Georges. Marie saß dicht neben ihrem Mann. Ihre Körper berührten sich, und ihre Hand hielt seinen Arm umklammert. Es machte sie jedoch ganz krank, als sie merkte, daß die Wärme, die sie ihm geben wollte, nicht in gleichem Maße erwidert wurde. Nur ein Teil des Mannes hinter dem Steuer war ihr David, der Rest von ihm war Jason Borowski, und der hatte jetzt das Kommando.

«Um Gottes willen, rede mit mir!«rief sie.

«Ich denke… Warum bist du nach Paris gekommen?«

«Guter Gott!«explodierte Marie.»Um dich zu finden, dir zu helfen!«

«Ich bin sicher, du dachtest, es wäre richtig… War es aber nicht.«

«Wieder diese Stimme«, protestierte Marie.»Dieser verdammte körperlose Ton in deiner Stimme! Wer, zum Teufel, glaubst du, daß du bist, um so ein Urteil zu fällen? Gott? Um es klar zu sagen — nein, nicht klar, sondern brutal —, es gibt Dinge, an die du dich nicht erinnerst, Liebling.«

«Nicht bezüglich Paris«, wiedersprach Jason.»Ich erinnere mich an alles in Paris. Alles.«

«Da war dein Freund Bernardine anderer Meinung! Er sagte mir, daß du niemals das Meurice gewählt hättest, wenn es so wäre.«

«Was?«Borowski warf seiner Frau einen kurzen, strengen Blick zu.»Denke nach. Wie bist du auf das Meurice gekommen…?«

«Ich weiß nicht… Ich bin nicht sicher. Es ist ein Hotel. Mir fiel der Name gerade ein.«

«Denke nach. Was geschah vor Jahren im Meurice direkt vor dem Meurice?«

«Ich — ich weiß, daß was passierte… Du?«

«Ja, mein Lieber, ich. Ich stand dort unter falschem Namen, und du kamst, um mich zu treffen, und wir gingen zu dem Zeitungskiosk an der Ecke, wo wir beide in einem schrecklichen Augenblick wußten, daß mein Leben niemals mehr dasselbe sein würde — mit dir oder ohne dich.«

«Oh, Gott! Die Zeitungen — dein Foto auf allen Titelblättern. Du warst die Beamtin der kanadischen Regierung, die…«

«Die entkommene kanadische Betriebswirtin«, unterbrach Marie,»wegen mehrerer Morde in Zürich im Zusammenhang mit dem Dieb stahl mehrerer Millionen von Schweizer Banken von den Behörden in ganz Europa gejagt! Solche Schlagzeilen verlassen einen niemals, oder? Sie können widerlegt werden, eindeutig widerlegt werden, aber dennoch gibt es leise Zweifel. Wo Rauch ist, ist auch Feuer, so heißt es doch, glaube ich.

Meine eigenen Kollegen in Ottawa… teure, sehr teure Freunde, mit denen ich jahrelang zusammen gearbeitet hatte… hatten Angst, mit mir zu reden!«

«Warte einen Moment!«rief Borowski, und sein Blick streift erneut Davids Frau.»Sie waren falsch — es war der Treadstone-Trick, um mich hereinzuziehen, du hattest das begriffen, ich nicht!«

«Natürlich hatte ich es begriffen, weil du so angespannt warst, daß du es nicht sehen konntest. Mir machte das damals nichts aus, weil ich mich dazu entschlossen hatte — mit einem sehr präzisen, analytischen Verstand, einem Verstand, der es jederzeit mit deinem aufnimmt, mein lieber Schüler.«

«Was?«

«Paß auf die Straße auf! Du hast die Abzweigung verfehlt, genau wie du die zu unserer Hütte verfehlt hast, vor ein paar Tagen — oder vor ein paar Jahren?«

«Wovon, zum Teufel, sprichst du?«

«Von dem kleinen Restaurant außerhalb von Barbizon. Du hast sie höflich gebeten, das Feuer im Speisezimmer anzuzünden — wir waren die einzigen Leute dort. Es war das drittemal, daß ich durch die Maske von Jason Borowski jemand anders sah, jemanden, in den ich mich furchtbar verliebt hatte.«

«Tu mir das nicht an.«

«Ich muß, David. Und wenn nur für mich allein. Ich muß wissen, daß du da bist.«

Schweigen. Eine Kehrtwendung auf der Landstraße, und der Fahrer trat das Gaspedal bis zum äußersten durch.»Ich bin hier«, flüsterte der Ehemann, hob den rechten Arm und zog sie an sich.»Ich weiß nicht, für wie lange, aber ich bin hier.«

«Beeil dich, Liebling.«

«Tue ich. Ich will dich nur in meinen Armen halten.«

«Und ich will die Kinder anrufen.«

«Jetzt weiß ich, daß ich hier bin.«

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