Kapitel 41

Ilich Ramirez Sanchez schnippte im Schatten zweimal mit den Fingern, als er die kurzen Stufen des miniaturisierten Eingangs zu einer kleinen Kirche am Paseo del Prado in» Madrid «erklomm, die Sporttasche in der linken Hand. Hinter einer geriffelten Säulenattrappe trat eine Gestalt hervor, ein stämmiger Mann, etwa Anfang Sechzig. Er trug die Uniform eines spanischen Armeeoffiziers, ein Generalleutnant mit drei Reihen Ordensbändern an seinem Waffenrock. Er hatte einen Lederkoffer in der Hand. Er hob ihn leicht an und sprach spanisch, wie es für diesen Teil Nowgorods normal war.

«Komm in die Sakristei. Da kannst du dich umziehen. Dieses Jackett paßt dir nicht. Es ist eine Einladung für jeden Scharfschützen.«

«Es tut gut, wieder unsere Sprache zu sprechen«, sagte Carlos, als er dem Mann in die winzige Kirche folgte und sich steif umdrehte, um die schwere Tür zu schließen.»Ich stehe in deiner Schuld, Enrique«, fügte er hinzu und warf einen Blick in die Runde auf leere Reihen von Betstühlen und die warmen Lichter, die den Altar umspielten und das goldene Kruzifix leuchten ließen.

«Du stehst schon seit dreißig Jahren in meiner Schuld, Ramirez, und wie oft ist es schon zu meinem Nutzen gewesen?«lachte der Soldat leise, als sie zum rechten Seitenschiff hinüber und dann zur Sakristei gingen.

«Vielleicht hast du zu dem, was von deiner Familie in Baracoa übrig ist, den Kontakt verloren. Fidels eigene Brüder und Schwestern leben nicht halb so gut.«

«Das tut auch der verrückte Fidel nicht, aber es ist ihm egal. Man sagt, er badet jetzt öfter, und ich nehme an, das ist ein Fortschritt. Aber du sprichst von meiner Familie in Baracoa.

Was ist mit mir, mein gepriesener, internationaler Attentäter? Keine Yachten, keine Rennpferde, schäm dich! Hätte ich dich nicht gewarnt, wärst du vor dreiunddreißig Jahren in eben diesem Lager hingerichtet worden. Wenn ich darüber nachdenke, dann kamst du genau aus dieser idiotischen Puppenstubenkirche, als dir die Flucht gelang — als Priester verkleidet, da ein Priester die Russen immer irgendwie verstört.«

«Hast du irgend etwas entbehren müssen, als ich mich erst einmal etabliert hatte?«Sie betraten einen kleinen, getäfelten Raum, in dem vermeintliche Prälaten die Sakramente vorbereiteten.»Habe ich dir jemals etwas abgeschlagen?«fügte Carlos hinzu und stellte die Sporttasche auf den Boden.

«Ich habe natürlich nur einen Scherz gemacht«, wandte Enrique ein, lächelte gutmütig und sah den Schakal an.»Wo ist dein gesunder Humor geblieben, mein berüchtigter alter Freund?«

«Mir gehen andere Dinge durch den Kopf.«

«Dessen bin ich mir sicher, und um die Wahrheit zu sagen: Du warst immer sehr großzügig, was meine Familie auf Kuba betraf, und ich danke dir dafür. Mein Vater und meine Mutter haben ihr Leben in Frieden und Behaglichkeit beschlossen. Natürlich waren sie erstaunt, aber soviel besser gestellt als alle, die sie kannten… Es war alles so verrückt: Revolutionäre, die von ihren eigenen revolutionären Führern hinausgeworfen wurden.«

«Du warst eine Bedrohung für Castro, genau wie Che. Es ist passiert.«

«Eine Menge Dinge sind passiert«, stimmte Enrique zu und betrachtete Carlos.»Du bist älter geworden, Ramirez. Wo ist das volle, dunkle Haar, und wo ist das gutaussehende, ausdrucksvolle Gesicht mit den klaren Augen?«

«Davon wollen wir nicht reden.«

«Also gut. Ich werde fett, du wirst dünn. Das sagt mir etwas. Wie schlimm bist du verwundet?«

«Für das, was ich vorhabe — was ich tun muß —, funktioniere ich noch gut genug.«

«Ramirez, was gibt es denn noch zu tun?«fragte der kostümierte Soldat plötzlich »Er ist tot! Moskau rühmt sich im Radio seines Todes, aber als du mich angerufen hast, wußte ich, daß der Ruhm dir gebührt. Jason Borowski ist tot! Dein Feind ist von dieser Welt verschwunden. Es geht dir nicht gut. Fahr wieder nach Paris zurück und kurier dich aus. Ich bring dich auf dem gleichen Weg wieder hinaus, auf dem du hereingekommen bist. Wir gehen nach >Frankreich<, und ich mache den Weg frei. Du wirst ein Kurier vom Kommandanten in >Spaniern und >Portugal< sein, der eine vertrauliche Botschaft zum Dserschinskij-Platz schickt. Es wird andauernd gemacht. Hier traut niemand irgend jemandem, besonders nicht seinen eigenen Wächtern. Du mußt nicht einmal das Risiko eingehen, auch nur eine einzige Wache zu töten.«

«Nein! Eine Lektion muß erteilt werden.«

«Dann laß es mich anders ausdrücken. Als du über deine Notfallkodes angerufen hast, habe ich getan, was du verlangt hast, denn im großen und ganzen hast du deine dreiunddreißig Jahre alten Verpflichtungen mir gegenüber erfüllt. Aber jetzt ist ein weiteres Risiko — Risiken, um genau zu sein — aufgetaucht, und ich bin nicht sicher, ob ich sie eingehen kann.«

«So redest du mit mir?« bellte der Schakal, als er die Jacke des toten Wachmannes auszog. Die sauberen, weißen Bandagen waren stramm gespannt und hielten seine rechte Schulter stabil. Verräterisches Blut war nicht zu sehen.

«Hör mit der Theatralik auf«, sagte Enrique sanft.»Wir kennen uns nun schon so lange. Ich spreche mit einem jungen Revolutionär, dem ich mit einem großartigen Athleten namens

Santos von Kuba gefolgt bin… Übrigens, wie geht es ihm? Er war die eigentliche Bedrohung für Fidel.«

«Es geht ihm gut«, antwortete Carlos mit tonloser Stimme.»Das Le Coeur du Soldat wird allerdings umziehen müssen.«

«Kümmert er sich immer noch um seine Gärten, seine englischen Gärten?«

«Ja, tut er.«

«Er hätte Landschaftsgärtner werden sollen oder Florist, glaube ich. Und ich hätte ein wunderbarer Agraringenieur werden können, ein Agronom, wie man so sagt. So haben Santos und ich uns kennengelernt, weißt du… Und dann kam die Politik mit ihrer Melodramatik und hat unser Leben verändert, nicht wahr?«

«Politisches Engagement hat es verändert. Die Faschisten haben es verändert.«

«Und jetzt wollen wir wie die Faschisten sein, und sie wollen das übernehmen, was an uns Kommunisten gar nicht so schlecht ist, und dann ein bißchen Geld austeilen — was nicht wirklich funktionieren wird, aber es ist eine angenehme Überlegung.«

«Was hat das mit mir zu tun, deinem Monseigneur?«

«Stinkende Scheiße, Ramirez. Wie du vielleicht weißt oder auch nicht, ist meine Frau vor ein paar Jahren gestorben, und ich habe drei Kinder auf der Universität in Moskau. Ohne meine Stellung wären sie nicht dort, und ich will, daß sie da auch bleiben. Sie werden Wissenschaftler, Ärzte… Siehst du, das sind die Risiken, von denen ich spreche. Ich habe mich bis zu diesem Augenblick im verborgenen gehalten, und du hast dir diesen Augenblick verdient — aber jetzt vielleicht nicht mehr. In ein paar Monaten werde ich in den Ruhestand gehen, und in Anerkennung meiner Dienstjahre in Südeuropa und dem Mittelmeer wird man mir eine wunderschöne Datscha am Schwarzen Meer zuteilen, wo mich meine Kinder besuchen können. Ich werde das Leben, das ich vor mir habe, nicht unnötig aufs Spiel setzen. Also drück dich präzise aus, Ramirez, und ich werde dir sagen, ob du allein bist oder nicht, ob du auf mich rechnen kannst… Ich wiederhole, dein Eindringen hier kann nicht bis zu mir zurückverfolgt werden, und wie gesagt, du hast es dir verdient, aber weiter bin ich möglicherweise nicht bereit zu gehen.«

«Ich verstehe«, sagte Carlos und ging zu dem Koffer, den Enrique auf dem Tisch der Sakristei abgestellt hatte.

«Ich hoffe, du akzeptierst es, und mehr noch, ich hoffe, du kannst es nachempfinden. In all den Jahren bist du auf eine Art und Weise gut zu meiner Familie gewesen, wie ich es nie sein konnte, aber andererseits habe ich dir so gut gedient, wie ich konnte. Ich habe dich zu Rodtschenko geführt, habe dir Namen aus Ministerien genannt, in denen es reichlich Gerüchte gab, Gerüchte, die Rodtschenko selbst für dich untersucht hat. Also, mein alter, revolutionärer Genosse, ich bin im Dienste deiner Sache auch nicht untätig gewesen. Allerdings stehen die Dinge jetzt anders. Wir sind keine jungen Unruhestifter mehr, auf der Suche nach Idealen, denn wir haben den Appetit auf Ideale verloren — du natürlich lange vor mir.«

«Mein Ideal bleibt das gleiche«, unterbrach der Schakal scharf.»Für mich und alle, die mir dienen.«

«Ich habe dir gedient…«

«Das hast du deutlich gemacht, ebenso wie meine Großzügigkeit dir und den Deinen gegenüber. Und jetzt, wo ich hier bin, fragst du dich, ob ich weiteren Beistand verdient habe, das ist es doch, oder?«

«Ich muß mich schützen. Warum bist du hier?«

«Ich habe es dir gesagt. Um eine Lektion zu erteilen, um eine Botschaft zu hinterlassen.«

«Das ist ein und dasselbe?«

«Ja. «Carlos öffnete den Koffer. Er enthielt ein grobes Hemd, eine portugiesische Fischermütze mit der entsprechenden, von einem Strick zusammengehaltenen Hose und einen Seesack mit Trageriemen.»Warum das?«fragte der Schakal.

«Die sind weit, und ich habe dich seit Jahren nicht gesehen, nicht seit Malaga in den frühen Siebzigern, glaube ich. Ich hätte dir nicht einfach Sachen nähen lassen können, und ich bin froh, daß ich es nicht versucht habe. Du bist nicht so, wie ich dich in Erinnerung hatte, Ramirez.«

«Du bist auch nicht viel kräftiger als in meiner Erinnerung«, konterte der Attentäter.»Ein bißchen dicker am Bauch vielleicht, aber wir haben immer noch die gleiche Größe, den gleichen Körperbau.«

«Ja? Und was bedeutet das?«

«Augenblick noch… Hat sich viel verändert, seitdem wir zusammen hier waren?«

«Ständig. Fotos treffen ein, und einen Tag später kommen die Bautrupps. Der Prado hier in >Madrid< hat neue Läden, neue Schilder, sogar ein paar neue Abwasserkanäle, weil sie auch im echten Madrid gerade ausgewechselt werden. Genauso sind >Lissabon< und die Piers entlang der Bucht und dem Tejo verändert worden, um den Neuerungen zu entsprechen. Wir sind immer noch authentisch. Die Kandidaten, die ihre Ausbildung abschließen, sind buchstäblich da zu Hause, wohin sie geschickt werden. Manchmal finde ich, das geht alles zu weit, und dann erinnere ich mich an meinen ersten Auftrag im Militärstützpunkt in Barcelona und daran, wie vertraut mir alles war. Ich konnte mich gleich an die Arbeit machen, denn die psychologische Orientierung hatte schon stattgefunden. Es gab keine großen Überraschungen.«

«Du beschreibst Äußerlichkeiten«, unterbrach ihn Carlos.»Natürlich, was sonst?«

«Bleibendere Gebäude, die nicht so sichtbar sind, nicht so deutlich in Erscheinung treten.«

«Wie zum Beispiel?«

«Lagerhäuser, Treib stoffdepots, die nicht Teil der nachgebauten Szenerie sind. Sind die noch da, wo sie waren?«

«Im großen und ganzen, ja. Mit Sicherheit die wichtigsten Lagerhäuser und Treibstoffdepots mit ihren unterirdischen Tanks. Die meisten sind immer noch westlich vom >San Roque<-Distrikt, am >Gibraltar

«Was ist mit dem Wechsel von einem Lager ins andere?«

«Na, das hat sich verändert. «Enrique zog ein kleines, flaches Ding aus der Tasche seines Waffenrocks.»Jede Grenzübergangsstelle besitzt einen computerisierten Öffnungsmechanismus, der den Zugang erlaubt, wenn das hier eingeführt wird.«

«Es werden keine Fragen gestellt?«

«Nur in Nowgorods Hauptquartier, wenn es Fragen gibt.«

«Das verstehe ich nicht.«

«Wenn eins von diesen Dingern gestohlen wird oder verloren geht, wird das sofort gemeldet und die internen Kodes werden aufgehoben.«

«Ich verstehe.«

«Ich aber nicht! Wozu diese Fragen? Warum bist du hier? Was ist diese Lektion, diese Botschaft?«

«Der >San Roque<-Distrikt…«, sagte Carlos, als erinnere er sich daran.»Das ist ungefähr drei oder vier Kilometer südlich vom Tunnel, oder? Ein kleines Dorf am Fluß, nicht?«

«Ja.«

«Und das nächste Lager ist >Frankreich< und dann >England< und schließlich das größte, die >Vereinigten Staaten<. Ja, das ist mir alles klar. Ich erinnere mich wieder. «Der Schakal wandte sich ab, seine rechte Hand verschwand unbeholfen unter seiner Hose.

«Mir ist aber nichts klar«, sagte Enrique mit leiser, drohender Stimme.»Und das muß es. Antworte mir, Ramirez. Warum bist du hier?«

«Wie kannst du es wagen, mich so zu verhören?«fuhr Carlos fort, sein Rücken dem alten Gefährten zugewandt.»Wie kann es überhaupt irgendeiner von euch wagen, den Monseigneur von Paris zu verhören?«

«Hör gut zu, Priester Pappkopf. Du antwortest mir, oder ich gehe, und du bist innerhalb von Minuten ein toter Monseigneur!«

«Also gut, Enrique«, antwortete Ilich Ramirez Sanchez, ohne sich umzudrehen.»Meine Botschaft wird triumphal deutlich sein und die Fundamente des Kreml erschüttern. Carlos, der Schakal, hat nicht nur den schwächlichen Heuchler Jason Borowski auf sowjetischem Boden getötet, er hinterläßt auch eine Mahnung an ganz Rußland, daß das Komitet einen gewaltigen Fehler begangen hat, als es meine außergewöhnlichen Talente nicht nutzen wollte.«

«Na, na«, sagte Enrique und lachte leise, als würde er einem keineswegs außergewöhnlichen Mann seinen Willen lassen.»Noch mehr Melodramatik, Ramirez? Und wie willst du diese Mahnung, die Botschaft, dieses entscheidende Statement übermitteln?«

«Ganz einfach«, entgegnete der Schakal, drehte sich um, eine Waffe in der Hand, den Schalldämpfer aufgeschraubt.»Wir werden die Plätze tauschen.«

«Was?«

«Ich werde Nowgorod niederbrennen. «Carlos feuerte einen einzigen Schuß in Enriques Hals. Er wollte, daß so wenig Blut wie möglich auf den Waffenrock tropfte.

In seinem Kampfanzug, mit den Abzeichen eines Majors der Armee auf den Schultern seiner Jacke, beteiligte sich Borowski an den Patrouillen des Militärpersonals, das nachts kreuz und quer durch das amerikanische Lager streifte. Sie waren nicht viele, vielleicht dreißig Männer, die die ganze Fläche von dreizehn Quadratkilometern abdeckten, wie Benjamin gesagt hatte. In den» städtischen «Gegenden waren sie gewöhnlich zu Fuß unterwegs, paarweise. In» ländlichen «Gegenden fuhren sie Militärfahrzeuge. Der junge Trainer hatte einen Jeep angefordert.

Von der Kommissarssuite im US-Hauptquartier waren sie zu einem militärischen Lagerhaus westlich des Flusses gebracht worden, wo Benjamins Papiere ihnen Einlaß und einen Jeep verschafft hatten. Drinnen beobachteten die erstaunten Wachen, wie der stille Borowski mit einem Kampfanzug, einem Karabiner mit Bajonett, einer 45er Automatic und fünf Magazinen echter Munition ausgestattet wurde. Letzteres bekam er erst nach einem Bestätigungsanruf bei Krupkins unwissenden Untergebenen irr Moskauer Hauptquartier. Als sie wieder draußen waren beschwerte sich Jason:»Was ist mit den Magnesiumfackeln und mindestens drei oder vier Granaten? Sie haben zugesagt, mir alles zu besorgen, was ich brauche, nicht nur die Hälfte!«

«Sie kommen«, antwortete Benjamin und raste vom Parkplatz des Lagerhauses.»Die Fackeln sind drüben beim Fahrzeugdepot, und die Granaten sind nicht Teil der normalen Ausrüstung. Sie liegen in Stahlkammern unten am Tunnel, an allen Tunneln, bei den Notfallwaffen. «Der junge Trainer warf Borowski einen Blick zu, einen Hauch von Humor auf seinem Gesicht, als das Licht der Scheinwerfer über den offenen Jeep huschte.»Höchstwahrscheinlich in der Annahme eines NATO-Überfalls.«

«Das ist dumm. Wir würden aus der Luft kommen.«

«Nicht bei einem Luftstützpunkt, der nur neunzig Sekunden Flugzeit entfernt ist.«

«Ich will diese Granaten haben. Wird es Schwierigkeiten geben, sie zu bekommen?«

«Nicht wenn Krupkin weiter gute Arbeit geleistet hat. «Das hatte er. Vier russische Armeehandgranaten wurden abgezählt und von Benjamin gegengezeichnet.»Wohin?«fragte er, als der Soldat in der amerikanischen Uniform zum Wachlokal aus Beton zurückkehrte.

«Das sind nicht gerade die üblichen amerikanischen Ausgaben«, sagte Jason, als er die Granaten sorgfältig eine nach der anderen in den Taschen seiner Jacke verstaute.

«Sie sind auch nicht zum Training gedacht. Die Lager sind nicht militärisch orientiert, sondern hauptsächlich zivil. Wenn diese Dinger benutzt werden, dann nur zu allgemeinen Schulungszwecken… Wohin fahren wir jetzt?«

«Rufen Sie zuerst das Hauptquartier. Fragen Sie nach, ob an irgendeinem der Grenzpunkte etwas passiert ist.«

«Mein Beeper hätte sich gerührt…«

«Ich traue den Beepern nicht, ich ziehe Worte vor«, unterbrach Jason.»Gehen Sie ans Funkgerät.«

Benjamin tat es, wechselte in die russische Sprache und benutzte die Kodes, die nur dem leitenden Stab zugeteilt waren. Eine knappe russische Antwort kam aus dem Lautsprecher, der junge Trainer legte das Mikrofon zurück und drehte sich Borowski zu.»Keine Aktivitäten«, sagte er.»Nur ein paar Treibstofflieferungen zwischen den Lagern.«

«Was ist das?«

«Hauptsächlich Benzinzuteilungen. Einige Lager haben größere Tanks als andere, also verlangt die Logistik Routineumlagen, bis die Hauptlieferungen flußabwärts verschifft werden.«

«Sie verteilen nachts?«

«Das ist günstiger, als wenn die Lastwagen tagsüber durch die Straßen führen. Denken Sie daran, hier ist alles verkleinert. Wir sind eben durch Seitenstraßen gefahren, aber es gibt an den zentralen Stellen eine ganze Instandhaltungsarmee, die die Läden und Büros und Restaurants saubermacht, um sie für die Aufgaben des nächsten Tages vorzubereiten. Große Lastwagen wären da keine Hilfe.«

«Mein Gott, es ist Disneyland… Also gut, fahren Sie an die >spanische< Grenze, Pedro.«

«Um dorthin zu kommen, müssen wir durch >England< und >Frankreich<. Ich glaube nicht, daß es viel ausmacht, aber ich spreche kein Französisch. Oder Spanisch. Sie?«

«Französisch fließend. Spanisch annehmbar. Noch was?«»Vielleicht sollten Sie lieber fahren.«

Der Schakal bremste den riesenhaften Tanklastwagen an der» westdeutschen «Grenze. So weit wollte er fahren. Die übrigen, die nördlicheren Gegenden mit» Skandinavien «und den» Niederlanden«, waren die unwichtigeren Satelliten. Die Auswirkungen ihrer Zerstörung würden mit denen der unteren Lager nicht zu vergleichen sein, und der Zeitfaktor verschonte sie. Jetzt war Timing alles, und» Westdeutschland «sollte die massenhaften Großbrände auslösen. Er zog das grobe portugiesische Hemd zurecht, das den Waffenrock eines spanischen Generals verdeckte, und als die Wache aus dem Wachlokal kam, sprach Carlos russisch, wobei er die gleichen Worte wie an allen anderen Übergängen benutzte.

«Verlangen Sie nicht von mir, die alberne Sprache zu sprechen, die Sie hier benutzen. Ich liefere das Benzin, ich verschwende meine Zeit nicht in Klassenzimmern! Hier ist mein Schlüssel.«

«Ich sprech die Sprache selbst kaum, Genosse«, sagte der Wachmann und lachte, als er das kleine, flache, kartenähnliche

Ding entgegennahm und in die computerisierte Maschine steckte. Die schwere Eisenschranke hob sich in vertikale Stellung. Der Wachmann gab den Schlüssel zurück, und der Schakal fuhr eilig durch ein miniaturisiertes» West-Berlin«.

Er raste durch den engen Nachbau des Kurfürstendamms zur Budapester Straße, wo er abbremste und den Tank öffnete. Das Benzin floß auf die Straße. Dann langte er in den offenen Beutel auf dem Sitz neben sich, riß die kleinen, getimten Sprengsätze hervor und schleuderte sie, wie er es bereits in allen südlichen Lagern an der Grenze zu» Frankreich «getan hatte, durch die heruntergedrehten Fenster auf beiden Seiten des Lastwagens in die Fundamente der Gebäude, die er für am leichtesten entzündbar hielt. Er raste in den Sektor» München«, dann nach» Bremerhaven «am Fluß und schließlich nach» Bonn «und den verkleinerten Versionen der Botschaften in» Bad Godesberg«, tränkte die Straßen und verteilte Sprengsätze. Er sah auf seine Uhr. Es war mittlerweile an der Zeit zurückzufahren. Ihm blieben gerade noch fünfzehn Minuten, bis die ersten Detonationen in» Westdeutschland «stattfinden würden gefolgt von den Explosionen in» Italien-Griechenland«,»IsraelÄgypten «und» Spanien-Portugal«, jeweils acht Minuten auseinander, um größtmögliches Chaos zu verbreiten.

Es gab für die Feuerwehr keine Möglichkeit, die flammenden Straßen und Gebäude in den verschiedenen Sektoren ihrer Lager nördlich von» Frankreich «zu retten. Man würde Löschzüge aus den angrenzenden Lagern ordern, die dann zurückgerufen werden mußten, wenn die Feuer in ihren eigenen Lagern ausbrachen. Es war die einfache Formel kosmischer Konfusion, wobei der Kosmos das falsche Universum von Nowgorod war. Die Grenztore würden geöffnet werden, hektischer Verkehr ungehindert durchfahren können, und um die Verwüstung vollkommen zu machen, mußte das Genie, das Ilich Ramirez Sanchez hieß — durch die Irrtümer des gleichen Nowgorod als Carlos, der Schakal, in die Welt des Terrors gebracht —, in» Paris «sein, nicht in seinem Paris, sondern im verhaßten» Paris «von Nowgorod, und er würde es bis auf die Grundmauern niederbrennen, wie es sich die Wahnsinnigen des Dritten Reiches niemals hatten träumen lassen. Dann würde» England «folgen und schließlich, endlich, das größte Lager im verachteten, isolierten, illusionsreichen Nowgorod, wo er seine triumphierende Botschaft hinterlassen würde — die» Vereinigten Staaten von Amerika«, Züchter des abtrünnigen Attentäters Jason Borowski. Das Statement würde so rein und so klar sein wie Alpenwasser, das das Blut eines zerstörten, falschen Universums fortwusch.

«Ich allein habe das getan. Meine Feinde sind tot, und ich lebe.«

Carlos sah in seine Sporttasche. Was blieb, waren die tödlichsten Mordwerkzeuge, die er im Arsenal von Kubinka gefunden hatte. Vier geschichtete Reihen von verpackten, hi tze suchenden Raketen, insgesamt zwanzig, jede davon in der Lage, das komplette Fundament des Washington Monuments in die Luft zu sprengen. Wenn sie erst einmal gezündet und losgelassen waren, würde jede von ihnen das Feuer suchen und ihre Arbeit tun. Befriedigt schloß der Schakal den Benzinstutzen, wendete und raste zur Grenze zurück.

Der schläfrige Techniker im Hauptquartier zwinkerte mit seinen Augen und starrte auf die grünen Buchstaben auf dem Bildschirm vor sich. Was er las, ergab eigentlich keinen Sinn, aber die Genehmigungen blieben unangefochten. Zum fünften Male hatte der Kommandant des» spanischen «Lagers die nördliche Grenze nach» Deutschland «in beiden Richtungen überquert und fuhr jetzt wieder zurück nach» Frankreich«. Zweimal hatte der Techniker, als die Kodes übermittelt worden waren und in Übereinstimmung mit der in Kraft gesetzten, höchsten Alarmstufe gestanden hatten, die Grenzkontrollen von» Israel «und» Italien «angerufen, und man hatte ihm gesagt, es sei nur ein Tanklastwagen durchgefahren. Das war die

Information, die er dem für den Kode zugelassenen Trainer Benjamin gegeben hatte, aber jetzt wunderte er sich. Warum sollte ein so hochrangiger Beamter einen Tanklastzug fahren?… Andererseits, warum nicht? In Nowgorod war Korruption an der Tagesordnung, und vielleicht suchte der Kommandant nach korrupten Machenschaften oder kassierte bei Nacht seinen Anteil. Dennoch, da keine Meldung über eine verlorene oder gestohlene Karte vorlag und die Computer keinen Einspruch erhoben, war es besser, sich nicht um die Sache zu kümmern. Man wußte nie, wer sein nächster Vorgesetzter sein konnte.

«Faites vite s'il vousplatt!« sagte Borowski zu der Wache am Grenzübergang, als er dem Mann seine Karte gab.

«Do… oui«, erwiderte der Wachmann und ging eilig zur Maschine, um die Genehmigung einzuholen, als ein gewaltiger Tanklastwagen in der anderen Richtung auf dem Weg nach» England «durchfuhr.

«Bestehen Sie nicht zu sehr auf dem Französisch«, sagte Benjamin auf dem Vordersitz neben Jason.»Diese Jungs geben sich größte Mühe, aber sie sind keine Linguisten.«

«Cal-if-fornia… here I come«, sang Borowski leise.»Sind Sie sicher, daß Sie und Ihr Vater nicht zu Ihrer Mutter nach L.A. wollen?«

«Halten Sie den Mund!«

Der Wachmann kam zurück, salutierte, und die Eisenschranke wurde angehoben. Jason gab Gas, und nur Augenblicke später sah er einen in Flutlicht gehüllten, dreistöckigen Nachbau des Eiffelturms. Weiter entfernt gab es rechts einen MiniaturChamps-Elysees mit einer hölzernen Reproduktion des Are de Triomphe, hoch genug, um unverkennbar zu sein. Nachdenklich wanderten Borowskis Gedanken zurück zu diesen unruhigen, schrecklichen Stunden, als er und Marie durch Paris gelaufen waren und verzweifelt versucht hatten, einander zu finden… Marie, oh, Gott, Marie! Ich möchte zurückkommen. Ich möchte wieder David sein. Er und ich, wir sind soviel älter geworden. Er macht mir keine Angst, und ich ärgere ihn nicht mehr… Wer? Wen von uns?

«Warten Sie«, sagte Benjamin und berührte Jasons Arm.»Langsam.«

«Was ist?«

«Stop«, rief der junge Trainer.»Fahren Sie rechts ran und machen Sie den Motor aus.«

«Was ist los mit Ihnen?«

«Ich bin nicht sicher. «Benjamin hielt seinen Kopf in den Nacken gelegt, seine Augen in den klaren Nachthimmel und auf das schimmernde Leuchten der Sterne gerichtet.»Keine Wolken«, sagte er geheimnisvoll.»Keine Stürme.«

«Es regnet auch nicht. Na und? Ich möchte zum spanischen Lager!«

«Da ist es wieder…«

«Wovon, zum Teufel, reden Sie?«Und dann hörte es auch Borowski… weit weg, das Geräusch von fernem Donner, aber die Nacht war klar! Wieder geschah es und wieder und wieder, ein tiefes Grollen nach dem anderen.

«Da!«rief der junge Russe aus Los Angeles, stand im Jeep auf und deutete nach Norden.»Was ist das?«

«Das ist Feuer, junger Mann«, antwortete Jason zögernd, während er selbst aufstand und das pulsierende, gelbe Glühen anstarrte, das den Himmel in der Ferne erhellte.»Und ich würde sagen, das ist das spanische Lager. Da wurde er ursprünglich ausgebildet, und deshalb ist er zurückgekommen — um den Laden in die Luft zu sprengen! Das ist seine Rache!.. Gehen Sie runter, wir müssen hin!«

«Nein, Sie irren sich«, unterbrach Benjamin und ließ sich eilig auf den Sitz fallen, während Borowski den Motor startete und den Jeep ruckartig anfahren ließ.»>Spanien< ist nicht mehr als fünf oder sechs Meilen von hier. Dieses Feuer ist viel weiter weg.«

«Zeigen Sie mir einfach nur den schnellsten Weg«, sagte Jason und trat das Gaspedal bis auf den Boden durch.

Unter den umherwandernden Blicken des Trainers, die von plötzlichen Ausrufen wie» Hier abbiegen!«und» Nach rechts!«und» Die Straße runter!«begleitet wurden, rasten sie durch Paris und in angrenzende Sektoren mit den Namen» Marseille«,»Montpellier«,»Le Havre«,»Straßbourg «und viele andere, umrundeten Marktplätze, fuhren an malerischen Straßen und miniaturisierten Wohnblocks vorbei, bis sie schließlich in Sichtweite der» spanischen «Grenze kamen. Je näher sie kamen, desto lauter wurden die Donnerschläge in der Ferne, desto heller war der gelbe Nachthimmel. Die Wachen an der Grenze waren wütend mit ihren Telefonen und Handfunkgeräten beschäftigt. Die zweitönige Sirene mischte sich zwischen das Rufen und Schreien, während Polizei- und Feuerwehrwagen scheinbar aus dem Nichts auftauchten, auf dem Weg zur Grenze durch die Straßen von» Madrid «rasten.

«Was ist los?«schrie Benjamin, sprang von dem Jeep herunter und ließ jede Verstellung fallen, indem er russisch sprach.»Ich gehöre zum leitenden Stab!«fügte er hinzu und schob die Karte in die Anlage, so daß die Schranke hochschnellte.»Sagen Sie es mir!«

«Wahnsinn, Genosse!« rief ein Offizier aus dem Fenster des Wachlokals.»Unglaublich… Es ist, als würde die ganze Welt verrückt spielen! Erst >Deutschland<, überall gibt es Explosionen und Feuer in den Straßen, und Gebäude gehen in Flammen auf. Der Erdboden zittert, und man sagt uns, es ist eine Art Erdbeben. Dann passiert es in >Italien<, >Rom< brennt wie eine Fackel, und im >griechischen< Sektor sind >Athen< und der Hafen von >Piräus< voller Brände, und immer noch gehen die Explosionen weiter, alles steht in Flammen!«

«Was sagt das Hauptquartier?«

«Die wissen nicht, was sie sagen sollen! Der Unsinn mit dem Erdbeben war genau das: Unsinn. Alle sind in Panik, geben Befehle aus und nehmen sie dann wieder zurück. «Ein weiteres Wandtelefon klingelte im Wachlokal. Der Wachhabende nahm ab und hörte zu, dann schrie er plötzlich so laut, wie seine Lungen es erlaubten.»Irrsinn, das ist kompletter Irrsinn! Sind Sie sicher?«

«Was ist?«brüllte Benj amin und rannte zum Fenster.

«>ÄgyptenIsraelKairo< und >Tel Aviv< — überall Feuer, überall Bomben! Niemand wird mit der Verwüstung fertig. Die Lastwagen krachen in den engen Straßen aufeinander. Die Hydranten sind gesprengt. Im Rinnstein fließt Wasser, aber die Straßen brennen… Und irgendein Idiot war in der Leitung und hat gefragt, ob wir die >Rauchen verboten< Schilder ordnungsgemäß aufgehängt haben, während die Holzhäuser auf dem besten Weg sind, in Schutt und Asche gelegt zu werden! Idioten. Das sind alles Idioten!«

«Kommen Sie zurück!«schrie Borowski, nachdem er den Jeep durch die Absperrung gebracht hatte.»Er ist irgendwo hier drinnen! Sie fahren, und ich werde…«Jasons Worte wurden von einer ohrenbetäubenden Explosion mitten auf dem Paseo des Prado abgeschnitten. Es war eine enorme Detonation, Gerumpel und Steine flogen in hohem Bogen in den flammenden Himmel hinauf. Und dann, als wäre der Paseo selbst eine lebendige, pulsierende Feuerwand, rollten Flammen voran, bogen nach links ab, aus der Stadt heraus und auf die Straße, die die Zufahrt zum Grenzposten war.

«Sehen Sie!«rief Borowski, langte aus dem Jeep heraus und kratzte mit den Fingern über die kieselige Oberfläche unter sich. Er führte seine Finger ans Gesicht, an seine Nase.»Mein Gott«, brüllte er.»Die ganze verfluchte Straße ist voller Benzin!«

Dreißig Meter vor dem Jeep gab es eine Feuerexplosion, die Steine und Dreck in den Metallgrill knallen ließ und die Flammen mit wachsender Geschwindigkeit vorantrieb.

«Plastik!«sagte Jason zu sich selbst, dann schrie er Benjamin an, der zum Jeep rannte:»Zurück! Bringen Sie alle hier raus! Der Scheißkerl hat den Laden mit Plastikbomben eingekreist! Runter zum Fluß!«

«Ich komme mit Ihnen!«rief der junge Russe und packte den Rand der Tür.

«Tut mir leid, Junior«, rief Borowski, ließ den Motor aufheulen, schleuderte mit dem Wagen in das offene Grenztor zurück und schickte Benjamin auf den Schotter.»Das hier ist was für Erwachsene.«

«Was machen Sie denn?«schrie Benjamin, und seine Stimme wurde leiser, als der Jeep über die Grenze jagte.

«Der Tankwagen, dieser gottverfluchte Tankwagen!«flüsterte Jason, während er nach Straßbourg in» Frankreich «raste.

Es geschah in» Paris«- wo sonst als in Paris! Das riesige Duplikat des Eiffelturms ging mit einer derartigen Wucht in die Luft, daß die Erde bebte. Raketen? Lenkraketen? Der Schakal hatte Lenkraketen aus dem Arsenal von Kubinka gestohlen! Sekunden später begannen weit hinter ihm die Explosionen, und wieder gingen neue Straßen in Flammen auf. Überall. Ganz» Frankreich «wurde auf eine Weise zerstört, die sich der Wahnsinnige Adolf Hitler nur in seinen verdrehtesten Träumen hätte vorstellen können. Männer und Frauen liefen in Panik durch die Gassen und Straßen, schrien, stürzten, beteten zu Göttern, denen ihre Führer abgeschworen hatten.

England! Er mußte nach» England «kommen und dann schließlich nach» Amerika«, denn all seine Instinkte sagten ihm, daß dort das Ende kommen würde — auf die eine oder andere Art. Er mußte den Lastwagen finden, den der Schakal fuhr, und beide zerstören. Er konnte es schaffen er konnte es schaffen!

Carlos glaubte, er sei tot, und das war der Schlüssel, denn der Schakal mußte tun, was er tun mußte, was er, Jason Borowski, tun würde, wenn er Carlos wäre. Wenn die Katastrophe, die er entfacht hatte, auf ihrem Höhepunkt war, würde der Schakal den Tanker zurücklassen und seine Flucht antreten, nach Paris, dem wahren Paris, wo seine Armee der alten Männer den Triumph ihres Monseigneur über die allgegenwärtigen, ungläubigen Sowjets verbreiten würde. Es mußte irgendwo in der Nähe des Tunnels sein. Das stand fest.

Die Jagd durch» London«,»Coventry «und» Portsmouth «ließ sich nur mit einem Nachrichtenfilm aus dem Zweiten Weltkrieg vergleichen, der das Blutbad zeigte, das die Luftwaffe in Großbritannien angerichtet hatte, erst mit dem kreischenden, dann mit dem stillen Terror der V-2- und V-5-Raketen. Aber die Bewohner Nowgorods waren keine Briten, der Gleichmut wich einer Massenhysterie, einziges Interesse eines jeden war das eigene Überleben. Als die eindrucksvollen Reproduktionen des Big Ben und der Houses of Parliament brennend zusammenbrachen und die Flugzeugfabriken von» Coventry «nur noch ein Flammenmeer waren, strömten die Straßen über von schreienden, entsetzten Massen, die zum Wolchow und den Schiffswerften von» Portsmouth «hinunterliefen. Dort warfen sich Unzählige von den verkleinerten Piers und Slipanlagen ins reißende Wasser, wo sie sich in den Magnesiumgittern verfingen, wo scharfe, gezackte Stromblitze glühend durch die Luft fuhren und bewegungslose Körper zu den nächsten Metallgittern über und unterhalb der aufgewühlten Wasseroberfläche schwemmten. Wie gelähmt standen die Menschen in Gruppen und drehten sich panisch um, erkämpften sich den Weg zurück. Die Wachen hatten ihre Posten verlassen, und das Chaos beherrschte die Nacht.

Borowski schaltete das Suchlicht des Jeeps ein, fuhr mit plötzlichen Sprints Gassen und weniger volle Straßen hinunter, nach Süden, immer nach Süden. Er schnappte sich eine Fackel vom Boden des Wagens, zog die Zündleine und schleuderte den sprühenden, zischenden, blendenden Feuerstock in die Hände und Gesichter der hysterischen Versprengten, die an Bord zu klettern versuchten. Der Anblick der unaufhörlich pulsierenden Flamme so nah vor ihren Augen genügte. Jeder schrie und wich zurück und glaubte zweifellos, daß ein weiterer Sprengsatz in seiner oder ihrer unmittelbaren Umgebung detoniert war.

Eine Schotterstraße! Das Tor zum amerikanischen Lager war weniger als hundert Meter entfernt… Eine Schotterstraße? Benzingetränkt! Die Plastikbomben hatten nicht gezündet — aber in wenigen Augenblicken würden sie es tun, eine Feuerwand aufbauen, den Jeep und seinen Fahrer umschlingen! Mit durchgetretenem Gaspedal raste Jason zum Tor. Es war verlassen, und die Eisenschranke war unten! Er stieg auf die Bremsen, kam schlingernd zum Stehen, hoffte abseits jeder vernünftigen Hoffnung, daß keine Funken auffliegen und den Schotter entzünden würden.

Er legte die sprühende Fackel auf den Metallboden, nahm hastig zwei Granaten aus seiner Tasche, Granaten, von denen er sich nur widerwillig trennte, zog die Stifte und schleuderte sie zum Tor. Die gewaltige Explosion sprengte die Barrikaden beiseite und entzündete im gleichen Augenblick die Straße, sofort schlugen die Flammen hoch, umfaßten ihn! Er hatte keine Wahl, er warf die heiße Fackel weg und raste durch den Feuertunnel in Nowgorods letztes und größtes Lager. In diesem Moment explodierte das Wachlokal an der» englischen «Grenze. Glas, Stein und Metallteile schössen hervor und waren überall in die Luft.

Er war auf dem Weg zum Eingang nach» Spanien «derart von Angst erfüllt gewesen, daß er sich kaum an die winzigen Repliken der» amerikanischen «Städte und Dörfer erinnerte und noch viel weniger an die schnellsten Wege, die zum Tunnel führten. Er war nur den scharfen Kommandos des jungen Benjamin gefolgt, aber er erinnerte sich daran, daß der in

Kalifornien aufgewachsene Trainer von der» Küstenstraße «gesprochen hatte —»wie die Route One, Mann, rauf nach Carmel«! Es war natürlich die Straße, die dem Wolchow am nächsten lag.

Der Wahnsinn hatte» Amerika «erreicht. Polizeiwagen mit heulenden Sirenen jagten durch die Straßen, Männer riefen in Funkgeräte hinein, während Leute in verschiedenen Stadien der Be- und Entkleidung aus Häusern und Läden gerannt kamen, schrien von einem schrecklichen Erdbeben, das diesen Teil des Wolchow erschüttert habe, eines, das sogar noch schlimmer sei als die Katastrophe in Armenien. Selbst bei dem sichersten Wissen um eine verheerende Infiltration konnten die Führer von Nowgorod die Wahrheit nicht zugeben. Es war, als wäre alle Geologie vergessen, wären ihre Entdeckungen gegenstandslos. Doch wer stellt in der Panik des Überlebenskampfes schon die Obrigkeit in Frage? Jeder in» Amerika «wurde instruiert, auf etwas vorbereitet, worauf, wußte niemand.

Knapp zehn Minuten später, nach der Zerstörung des größten Teils vom kleinen» Großbritannien«, fanden sie es heraus. Borowski er reichte die zusammengedrängten, verkleinerten Umrisse von» Washington D.C.«, als der Großbrand einsetzte. Als erstes stürzte das hölzerne Duplikat des kuppelförmigen Kapitols in die Flammen, wobei das Geräusch seiner Detonation nur um Millisekunden verzögert zu hören war. Es flog in den gelblichen Himmel, und Augenblicke später — nur Augenblicke — brach das Washington Monument, das in der Mitte des Rasens in seinem Park stand, mit einem entfernten Krachen zusammen, als wäre sein falsches Fundament von einer donnernden Planierraupe weggeschaufelt worden. Sekunden danach stürzten die künstlichen Aufbauten, die das Weiße Haus darstellten, brennend in sich zusammen. Die Explosionen betäubten die Ohren wie die Augen, denn die Pennsylvania Avenue war vom Feuer überflutet.

Borowski wußte, wo er jetzt war. Der Tunnel lag zwischen» Washington «und» New London, Connecticut«! Das war nicht mehr als fünf Minuten entfernt! Er fuhr den Jeep zu der Straße hinunter, die parallel zum Fluß verlief, und wieder waren da erschreckte, hysterische Massen. Die Polizei rief mit Lautsprechern, zuerst auf englisch, dann auf russisch, und erklärte die entsetzlichen Folgen, falls jemand übers Wasser zu schwimmen versuchte, die Suchscheinwerfer schwangen vor und zurück, zeigten die treibenden Leichen von denen, die es in den nördlichen Lagern versucht hatten.

«Der Tunnel, der Tunnel! Macht den Tunnel auf!«

Die Schreie der aufgebrachten Menge wurden zu einem Sprechchor, den man physisch nicht ignorieren konnte. Bald würden sie die unterirdische Verbindung angreifen. Jason sprang aus dem umlagerten Jeep, stopfte die drei noch übrigen Fackeln in die Tasche und bahnte sich einen Weg durch die schiebenden und stoßenden Körper, arbeitete wütend, oft ergebnislos, mit Armen und Schultern. Es gab keine andere Möglichkeit. Er zog eine Fackel hervor und riß den Zünder aus seiner Vertiefung. Die sprühende Flamme tat ihre Wirkung. Hitze und Feuer waren Katalysatoren. Er rannte durch die Menge, trommelte auf jeden ein, der vor ihm war, schob die blendende, sprühende Fackel in entsetzte Gesichter, bis er vorn angekommen war und einem Spalier von Wachen in Uniformen der United States Army gegenüb erstand. Es war verrückt, wahnwitzig! Die ganze Welt war übergeschnappt!

Nein! Da! Auf dem abgezäunten Parkplatz stand der Tanklaster! Er durchbrach das Spalier der Wachen, hielt seinen computerisierten Ausweis hoch und rannte zu dem Soldaten mit den hochrangigsten Abzeichen an seiner Uniform, einem Colonel mit einer AK-47 am Schultergurt, der so panisch war, wie Jason es seit Saigon bei keinem hochrangigen Offizier mehr erlebt hatte.

«Meine Identifikation ist der Name Archie, und meinetwegen können Sie ihn gleich überprüfen. Selbst jetzt weigere ich mich, unsere Sprache zu sprechen, nur Englisch! Haben Sie das verstanden? Disziplin ist Disziplin!«

«Kogda?« schrie der Offizier, zweifelte einen Moment lang, dann kehrte er mit einem entsetzlichen Bostoner Akzent zum Englischen zurück.»Natürlich kennen wir Sie«, rief er.»Aber was kann ich tun? Das hier ist ein unkontrollierbarer Aufruhr!«

«Ist in der letzten, sagen wir, halben Stunde irgend jemand durch diesen Tunnel gekommen?«

«Niemand, absolut niemand! Unsere Befehle heißen, den Tunnel um jeden Preis geschlossen zu halten!«

«Gut… Gehen Sie an die Lautsprecher und zerstreuen Sie die Menge. Sagen Sie ihnen, die Krise ist vorbei und somit auch die Gefahr.«

«Wie kann ich das? Feuer überall, Explosionen überall!«

«Die werden bald aufhören.«

«Woher wissen Sie das?«

«Ich weiß es! Tun Sie, was ich sage!«

«Tun Sie, was er sagt!«brüllte eine Stimme hinter Borowski. Es war Benjamin, sein Gesicht und Hemd waren schweißüberströmt.»Und ich hoffe höllisch, Archie, daß Sie wissen, wovon Sie reden!«

«Wo kommen Sie denn her?«

«Woher, wissen Sie. Wie, ist eine andere Frage. Versuchen Sie mal, dem Hauptquartier so zu drohen, daß ein apoplektischer Krupkin von einem Krankenhausbett in Moskau aus einen Helikopter anfordern kann.«

>»Apoplektisch< — nicht schlecht für einen Russen…«

«Wer gibt mir solche Befehle?«schrie der Wachoffizier.»Sie sind nur ein junger Mann!«

«Überprüfen Sie mich, Freundchen, aber tun Sie es schnell«, antwortete Benjamin und hielt ihm seine Karte hin.»Sonst werde ich Sie, glaube ich, sonstwohin versetzen lassen. Irgend 'ne hübsche Gegend ohne Privattoiletten… Bewegung, Sie Arsch!«

«Cal-if-fornia, here I…«

«Halten Sie den Mund!«

«Er ist hier! Da ist der Tanker. Da drüben. «Jason deutete auf das riesige Fahrzeug, das die verstreuten Autos und Transporter auf dem eingezäunten Parkplatz zwergenhaft aussehen ließ.

«Ein Tanklaster? Wie haben Sie das rausgefunden?«fragte der erstaunte Benjamin.

«Dieser Tanker muß knapp fünfzigtausend Liter fassen.

In Verbindung mit den Plastikbomben, wenn sie strategisch angebracht sind, reicht das für die Straßen und die falschen Bauten aus altem, trockenem Holz.«

«Sluschajte!« plärrten die zahllosen Lautsprecher um den Tunnel und zogen die Aufmerksamkeit auf sich, als die Explosionen tatsächlich nachzulassen begannen. Der Colonel stieg auf das Dach des niedrigen Betonhäuschens, ein Mikrofon in der Hand, seine Gestalt umrissen vom harten Strahl der kräftigen Suchscheinwerfer.

«Das Erdbeben ist vorbei«, rief er auf russisch,»und auch wenn der Schaden beträchtlich ist und die Feuer die ganze Nacht über brennen werden, die Krise ist überstanden!.. Bleiben Sie am Ufer des Flusses, und unsere Genossen aus den Wartungstrupps werden ihr Bestes tun, um für das Nötigste zu sorgen… Das sind die Befehle von unseren Vorgesetzten, Genossen. Geben Sie uns keinen Grund, Gewalt anzuwenden, ich bitte Sie darum!«

«Welches Erdbeben?«rief ein Mann in den vorderen Reihen der panischen Menschenmenge. »Sie sagen, es ist ein Erdbeben, aber Sie haben Ihr Hirn in der Hose! Ich habe ein Erdbeben erlebt, und das hier ist kein Erdbeben. Das ist ein bewaffneter Angriff!«

«Ja, ja, ein Angriff!«

«Wir werden angegriffen!«

«Invasion! Das ist eine Invasion!«

«Öffnen Sie den Tunnel und lassen Sie uns raus, oder wir werden Sie niederschießen müssen! Öffnen Sie den Tunnel!«

Der Sprachchor der Protestierenden wuchs überall in der verzweifelten Menge, aber die Soldaten wichen keinen Schritt zurück, die Bajonette auf die Gewehre gepflanzt. Der Colonel fuhr mit verzerrter Miene fort, seine Stimme fast so hysterisch wie die rasende Menge.

«Hören Sie auf mich!«schrie er.»Ich sage Ihnen, was man mir gesagt hat: daß es ein Erdbeben ist, und ich weiß, daß es wahr ist, und ich werde Ihnen auch sagen, woher ich weiß, daß es wahr ist! Haben Sie einen einzigen Schuß gehört? Nur einen einzigen Schuß! Nein, das haben Sie nicht!.. Hier gibt es, wie in allen Lagern und jedem Sektor, Polizei und Soldaten und Trainer, die Waffen tragen. Ihre Befehle lauten, mit aller Macht jede unbefugte Gewaltanwendung einzudämmen, ganz zu schweigen von bewaffneten Invasoren! Trotzdem ist nirgendwo auch nur ein Schuß gefallen…«

«Was schreit er da?» fragte Borowski, zu Benjamin gewandt.

«Er versucht, sie zu überzeugen, daß es ein Erdbeben ist — oder war. Sie glauben ihm nicht. Sie glauben, es ist eine Invasion. Er sagt, das kann nicht sein, weil keine Schüsse gefallen sind.«

«Schüsse?«

«Niemand schießt auf irgend jemanden, und das würden sie mit Sicherheit tun, wenn es ein bewaffneter Angriff wäre. Keine Schüsse, kein Angriff.«

«Schüsse…?« Plötzlich packte Borowski den jungen Russen und drehte ihn um.»Sagen Sie ihm, er soll aufhören! Um Gottes willen, halten Sie ihn auf!«

«Was?«

«Er gibt dem Schakal die Eröffnung, die er haben will, die er braucht!«

«Wovon reden Sie?«

«Njet!« kreischte eine Frau, brach aus der Menge hervor und schrie den Offizier inmitten der Scheinwerferkegel an.»Die Explosionen sind Bomben! Sie kommen von oben, aus Bombern!«

«Das ist völlig verrückt«, rief der Colonel auf russisch.»Wenn es ein Luftangriff wäre, dann wäre der Himmel voll von unseren Kampfflugzeugen aus Belopol!.. Die Explosionen kommen aus der Erde, die Feuer aus der Erde, von den Gasen unten…«Das waren die letzten Worte, die der sowjetische Offizier jemals sagen sollte.

Eine abgehackte Salve von Schüssen aus einer automatischen Waffe platzte aus den Schatten des Parkplatzes am Tunnel hervor und warf den Russen zu Boden. Sein durchlöcherter Körper brach zusammen und fiel vom Dach des Wachlokals. Die ohnehin rasende Menge drehte durch. Der Rang uniformierter» amerikanischer «Soldaten verfiel, und wenn zuvor schon das Chaos regiert hatte, dann herrschte jetzt der nihilistische Pöbel. Der enge, umzäunte Eingang des Tunnels wurde gestürmt, Gestalten rannten ineinander, schlugen aufeinander ein, kletterten übereinander, hetzten in Massen zur Öffnung des Unterwassereingangs. Jason zog seinen jungen Trainer zur Seite, ohne den Blick vom Parkplatz zu wenden, der völlig im Dunkel lag.

«Können Sie die Tunnelmaschinerie bedienen?«rief er.

«Ja! Das kann jeder aus dem leitenden Stab! Gehört zu dem Job!«

«Die Eisentore, von denen Sie gesprochen haben?«

«Natürlich.«

«Wo ist der Mechanismus?«

«In der Wachstube.«

«Gehen Sie rein!«schrie Borowski, nahm eine Fackel aus seiner Feldjacke und gab sie Benjamin.»Ich hab noch zwei und zwei Granaten… Wenn Sie sehen, daß eine von meinen Fackeln über der Menge aufgeht, lassen Sie die Tore auf dieser Seite herunter, und zwar nur auf dieser Seite, verstanden?«

«Wozu?«

«Meine Regeln, Ben! Tun Sie es! Dann zünden Sie diese Fackel an und werfen Sie aus dem Fenster, damit ich weiß, daß das Gitter unten ist.«

«Was dann?«

«Etwas, das Sie vielleicht nicht tun wollen, aber tun müssen… Nehmen Sie die Siebenundvierziger des toten Colonels und drängen Sie die Menge, schießen Sie sie in die Straße zurück. Schnelles Feuer in den Boden vor ihnen oder über sie hinweg, tun Sie, was Sie tun müssen, auch wenn es bedeutet, daß Sie vielleicht ein paar von ihnen verwunden. Es muß um jeden Preis geschehen. Ich muß ihn finden, ihn isolieren, vor allem von allen anderen fernhalten, die versuchen rauszukommen.«

«Sie sind ein gottverdammter Irrer!«unterbrach ihn Benjamin mit hervortretenden Adern an den Schläfen.

«In diesem Augenblick bin ich der vernünftigste Mensch, den Sie jemals kennengelernt haben«, ging Borowski schroff dazwischen, während die panischen Bewohner von Nowgorod an ihnen vorbeihasteten.»Es gibt keinen zurechnungsfähigen General in der sowjetischen Armee, der Armee, die Stalingrad zurückerobert hat, der mir nicht zustimmen würde… Wir müssen ein paar Verluste in Kauf nehmen, nur so ist die große Katastrophe zu verhindern!«

«Sie verlangen zuviel! Diese Leute sind meine Genossen, meine Freunde. Es sind Russen. Würden Sie in eine Menge von Amerikanern feuern? Ein Zittern mit den Händen, zwei Zentimeter, fünf Zentimeter mit einer Siebenundvierziger, und ich könnte ein halbes Dutzend Menschen verstümmeln oder gar töten! Das Risiko ist zu groß!«

«Sie haben keine Wahl. Wenn der Schakal an mir vorbeigekommen ist — und ich werde es wissen, wenn es soweit ist —, dann werde ich eine Granate da reinwerfen und wahrscheinlich zwanzig von ihnen töten.«

«Sie Wahnsinniger!«

«Glauben Sie es ruhig, Ben. Ich kann es mir nicht länger leisten, daß Carlos lebt — die Welt kann es sich nicht leisten. Bewegung!«

Benjamin spuckte Borowski ins Gesicht, dann drehte er sich jedoch um und kämpfte sich den Weg zum Wachlokal und der Leiche des Colonels frei. Mechanisch wischte sich Jason mit dem Handrücken übers Gesicht, seine Konzentration ausschließlich auf den eingezäunten Parkplatz gerichtet. Seine Augen schössen von einem Schatten zum anderen und versuchten, den Ursprung der Schüsse einzukreisen, wenn er auch wußte, daß es unmöglich war. Der Schakal hatte seine Position inzwischen verändert. Jason zählte die Fahrzeuge neben dem Tanklastwagen. Neun waren am Zaun geparkt, zwei Kombis, vier Limousinen und drei Kleinbusse, allesamt in Amerika hergestellt, zumindest aber sahen Sie so aus. Carlos hatte sich hinter einem davon oder auch hinter dem Tanklastwagen versteckt, wobei letzteres eher unwahrscheinlich war, da er am weitesten vom offenen Tor im Zaun entfernt stand, das Zugang zum Wachlokal und somit zum Tunnel gewährte.

Jason hockte sich hin und kroch vorwärts. Er erreichte den hüfthohen Zaun, hinter ihm ein unaufhörliches, ohrenbetäubendes Pandämonium. Jeder Muskel und jedes Gelenk in seinen Armen und Beinen hämmerte vor Schmerz, überall bildeten sich Krämpfe! Denk nicht daran, nimm sie nicht wahr. Jason Borowski weiß, was zu tun ist. Vertrau ihm!

Aaaaah! Er warf seinen Körper über den Zaun. Der Griff seines Bajonetts bohrte sich ihm in die Nieren. Es gibt keinen Schmerz! Verschwinde, David… Hör auf Jason!

Die Suchscheinwerfer — jemand hatte irgendeinen Knopf gedrückt, und sie spielten verrückt, drehten sich im Kreis, abrupt, blendend, außer Kontrolle. Wohin würde Carlos gehen? Wo konnte er sich verstecken? Die Lichtstrahlen durchbohrten alles! Dann jagten zwei Polizeiwagen mit heulenden Sirenen durch eine Öffnung, die er von der anderen Seite des eingezäunten Geländes nicht hatte sehen können. Aus den Türen sprangen uniformierte Männer, und im Gegensatz zu allem, was er erwartet hatte, kämpften sie sich zum Rande des Zaunes hinter den Limousinen und Transportern vor, und einer nach dem anderen stürmte von einem Wagen zum nächsten bis zum offenen Tor, das zum Wachlokal und zum Tunnel führte. Die Welt schien zu zerbersten, die Zeit außer Kontrolle zu geraten, Menschen änderten ihre Natur. Die letzten vier Flüchtenden aus dem zweiten Wagen waren plötzlich drei, und nur Augenblicke später tauchte auch der vierte wieder auf, aber es war nicht derselbe! Die Uniform war nicht dieselbe! Sie hatte orangefarbene und rote Flecken, und die Schirmmütze war mit goldenen Streifen versehen, der Schirm selbst zu hervorstehend für die amerikanische Armee. Was war das?… Und plötzlich verstand Borowski. Bruchstücke seiner Erinnerung schraubten sich Jahre zurück nach Madrid, als er den Verträgen des Schakals mit den Falangisten nachgespürt hatte. Es war eine spanische Uniform! Das war es! Carlos hatte Nowgorod über das spanische Lager infiltriert, und da sein Russisch fließend war, benutzte er für seine Flucht die hochrangige Uniform. Jason sprang mit gezogener Automatic auf und rannte über den

Schotter des Platzes. Seine Linke griff in der Tasche seiner Feldjacke nach der vorletzten Fackel. Er riß am Zünder und schleuderte den flammenden Stab über die Autos hinweg. Benjamin würde sie vom Wachlokal aus nicht sehen und so auch nicht fälschlicherweise für das Signal halten können. Das Signal würde in Kürze kommen — in Sekunden vielleicht —, aber im Moment war es noch zu früh.

«Eto srotschno!« brüllte einer der flüchtenden Männer, fuhr herum und geriet beim Anblick der zischenden, blendenden Fackel in Panik. Ein anderer lief an dreien seiner Begleiter vorbei und rannte zu einem offenen Stück Zaun. Wahrend die Suchscheinwerfer weiter wie wahnsinnig herumwirbelten, zählte Borowski sieben Gestalten, die sich eine nach der anderen vom letzten Wagen abstießen und die Öffnung passierten, hinter der sie sich der aufgeregten Menge am Eingang des Tunnels anschlössen. Der achte Mann tauchte nicht auf. Die hochrangige spanische Uniform war nirgends zu sehen. Der Schakal saß in der Falle!

Jetzt! Jason holte seine letzte Fackel hervor, riß am Zünder und warf sie mit aller Kraft über den Strom vorbeihetzender Männer und Frauen hinweg zum Wachlokal. Tu es, Ben! schrie es in seinem Inneren, als er die vorletzte Granate aus der Tasche seiner Feldjacke zog. Tu es jetzt! Wie zur Antwort auf sein fieberhaftes Flehen kam ein donnerndes Krachen vom Tunnel, immer wieder hysterische Proteste, unterbrochen von Schreien und Kreischen und wehklagendem Chaos. Zwei schnelle, ohrenbetäubende Salven aus einer automatischen Waffe gingen unverständlichen Kommandos voraus, die über die Lautsprecher und auf russisch ausgegeben wurden… Noch eine Salve und die gleiche Stimme, lauter, noch bestimmender, und die Menge wurde für einen Moment lang deutlich leiser, um plötzlich wieder mit voller Lautstärke zu schreien. Borowski sah hinüber, erstaunt, durch die sich drehenden Scheinwerfer hindurch jetzt Benjamin auf dem Betondach des Wachlokals stehen zu sehen.

Der junge Trainer schrie ins Mikrofon, ermahnte die Menge, seinen Anweisungen zu folgen, wie sie auch sein mochten… Und was es auch war, sie wurden befolgt! Die Masse begann erst langsam, dann immer schneller die Richtung zu wechseln, dann rannte sie wie ein Mann zurück auf die Straße! Benjamin zündete seine Fackel an, winkte damit und deutete nach Norden. Er schickte Jason sein Signal. Er hatte nicht nur den Tunnel geschlossen, sondern auch die Menge zerstreut, ohne jemanden mit der AK-47 zu treffen. Es hatte eine bessere Möglichkeit gegeben.

Borowski ließ sich zu Boden fallen, seine Augen suchten die Unterseiten der Kleintransporter ab, und die sprühenden Flammen dahinter beleuchteten die freie Fläche… Ein Paar Beine — in Stiefeln! Hinter dem dritten Auto links, nicht weiter als zwanzig Meter von der Öffnung im Zaun entfernt. Carlos gehörte ihm! Das Ende war endlich in Sicht! Tu, was du tun mußt, und tu es schnell! Er ließ seine Waffe auf den Schotter fallen, nahm die Granate mit der rechten Hand, zog den Stift, packte die 45er mit der Linken, sprang auf und rannte vorwärts. Knapp zehn Meter vor dem Wagen warf er sich wieder auf den Schotter, drehte sich zur Seite und warf die Granate unter das Auto — und erst im letzten Augenblick, als die Bombe seine Hand schon verlassen hatte, wurde ihm klar, daß er einen furchtbaren Fehler gemacht hatte! Die Beine hinter dem Wagen bewegten sich nicht, die Stiefeln blieben stehen, denn sie waren nur das: Stiefel! Er hechtete nach rechts, rollte wutentbrannt über die scharfen Steine, schützte sein Gesicht, rollte seinen Körper so klein zusammen, wie er konnte. Die Explosion war ohrenbetäubend, die tödlichen Splitter verbanden sich mit dem Licht der Scheinwerfer im Nachthimmel, Metall- und Glasstücke stachen in Jasons Rücken und Beine. Bewegung, Bewegung! schrie die Stimme in seinem Kopf, als er im Rauch und Feuer des brennenden Autos auf die Knie kam, dann auf die Füße. Kaum stand er, platzte überall um ihn herum der Schotter auf. Im wilden Zickzack lief er in den Schutz des nächsten Fahrzeugs. Er war zweimal getroffen, an der Schulter und am Oberschenkel! Er fuhr in genau dem Augenblick an der Außenwand des Transporters herum, als die große Windschutzscheibe weggesprengt wurde.

«Du bist mir nicht gewachsen, Jason Borowski!«schrie Carlos, der Schakal, und seine Waffe spuckte Dauerfeuer.»Das warst du nie! Du bist ein Versager, ein Betrüger!«

«Gut möglich«, brüllte Borowski.»Dann komm und hol mich!«Er lief zur Fahrertür, riß sie auf und rannte zurück zum hinteren Ende des Wagens, wo er sich hinhockte, das Gesicht ans Blech gepreßt, den 45er Colt direkt neben seiner Wange angewinkelt. Mit einem letzten Zischen brannte die Fackel hinter dem Zaun aus, und der Schakal beendete sein Dauerfeuer. Borowski verstand. Carlos sah die offene Tür, unsicher, unentschlossen… nur noch Sekunden. Metall gegen Metall. Ein Kolben wurde gegen die Tür gerammt und schlug sie zu. Jetzt!

Jason wirbelte um die Ecke des Transporters, seine Waffe explodierte, feuerte in die spanische Uniform, schoß dem Schakal die Waffe aus den Händen. Eins, zwei, drei! Die Patronenhülsen flogen durch die Luft — und dann hörten sie auf! Sie hörten auf! Die Explosionen wurden von einem ekelerregenden, blockierten Klicken ersetzt, als eine Patrone in der Kammer steckenblieb. Carlos hechtete zu Boden, um seine Waffe wiederzubekommen, der linke Arm hing schlaff herunter und blutete, aber seine rechte Hand war noch voll funktionstüchtig.

Borowski riß das Bajonett aus seiner Scheide, machte einen Satz nach vorn und hieb mit der Klinge auf Carlos' Unterarm ein. Er kam zu spät! Carlos hielt seine Waffe bereits in der Hand! Jason sprang auf, seine linke Hand umfaßte den heißen Lauf — halt fest, halt ihn fest! Du darfst ihn nicht loslassen! Dreh ihn! Im Uhrzeigersinn! Nimm das Bajonett, nein, nicht! Laß es fallen! Nimm beide Hände! Die widersprüchlichen Kommandos prallten in seinem Kopf aneinander. Irrsinn! Er hatte keine Luft mehr, keine Kraft. Seine Augen konnten sich auf nichts konzentrieren… die Schulter. Wie Borowski selbst war der Schakal an der rechten Schulter verletzt!

Halt fest! Geh ihm an die Schulter, aber halt fest! Mit einem letzten, keuchenden Aufbäumen schoß Borowski nach oben und ließ Carlos in die Außenwand des Transporters krachen. Der Schakal schrie auf, ließ die Waffe fallen, dann trat er sie unter den Wagen.

Zuerst wußte Jason nicht, woher der Schlag kam. Er wußte nur, daß sich die linke Seite seine Schädels plötzlich in zwei Teile zu spalten schien. Dann merkte er, daß er der Urheber war. Er war auf dem blutverschmierten Schotter ausgerutscht und in den metallenen Kühlergrill des Transporters geknallt. Es war nicht von Bedeutung — nichts war von Bedeutung!

Carlos, der Schakal, rannte davon! Im wilden Durcheinander, das überall herrschte, gab es hundert Möglichkeiten, auf die er aus Nowgorod verschwinden konnte. Alles war umsonst gewesen!

Aber seine letzte Granate hatte er noch. Warum nicht? Borowski holte sie hervor, zog den Stift heraus und warf sie über den Transporter in die Mitte des Parkplatzes. Die Explosion erfolgte, und Jason stand auf. Vielleicht würde die Granate Benjamin etwas sagen, ihn warnen, seine Aufmerksamkeit auf diese Gegend gerichtet zu halten. Stolpernd und kaum in der Lage zu gehen, schleppte sich Jason zur Öffnung im Zaun, die zum Wachlokal und dem Tunnel führte.

Oh, Gott, Marie, ich habe versagt! Es tut mir so leid! Alles war umsonst! Und als würde sich ganz Nowgorod einen letzten Scherz auf seine Kosten erlauben, sah er, daß jemand die Eisentore zum Tunnel geöffnet und damit dem Schakal den Weg in die Freiheit verschafft hatte.

«Archie…?«Benjamins erstaunte Stimme schwebte über den Geräuschen des Flusses, gefolgt vom Bild des jungen Russen, der aus dem Wachlokal gelaufen kam.»Allmächtiger Gott, ich dachte, Sie sind tot!«

«Sie haben also die Tore geöffnet und meinem Henker die Freiheit geschenkt«, rief Jason schwach.»Warum haben Sie ihm keine Limousine geschickt?«

«Ich schlage vor, Sie sehen noch einmal hin, Professor«, erwiderte Benjamin atemlos, als er vor Borowski stehenblieb und Jasons lädiertes Gesicht und seine blutbefleckte Kleidung sah.»Das Alter hat Ihre Sehkraft geschwächt.«

«Was?«

«Sie wollen Tore, dann bekommen Sie Tore. «Der Trainer rief auf russisch einen Befehl zum Wachlokal hinüber. Sekunden später senkten sich die riesigen Eisentore und verdeckten den Eingang des Tunnels. Aber irgend etwas war merkwürdig. Borowski hatte die heruntergelassenen Tore noch nicht richtig gesehen, und sie waren absolut nicht so, wie er sie sich vorgestellt hatte. Sie schienen… irgendwie angeschwollen zu sein, verzerrt.

«Glas«, sagte Benjamin.

«Glas?«fragte der verwunderte Borowski.

«An beiden Enden des Tunnels, zwölf Zentimeter dicke Glaswände, verschlossen und versiegelt.«

«Wovon reden Sie?«

Es war nicht nötig, daß der junge Russe es ihm erklärte. Plötzlich schlug eine Reihe von gigantischen Wellen gegen die Wände eines riesenhaften Aquariums. Der Tunnel füllte sich mit dem Wasser des Wolchow. Dann, im Ungestüm der wachsenden, strudelnden, flüssigen Masse, gab es ein Objekt… ein Ding, eine Form, einen Körper! Borowski starrte schockiert, die Augen quollen hervor, sein Mund stand offen, bewegungslos, unfähig, den Schrei auszustoßen, der in ihm war, er sammelte alle Kraft, die er noch hatte, lief unsicher, fiel zweimal auf die Knie, wurde aber mit jedem Schritt schneller und rannte zu der massiven Glaswand, die den Eingang dahinter verschloß. Atemlos, mit keuchender Brust, legte er seine Hände auf die Glaswand, lehnte sich dagegen und wurde Zeuge der makabren Szene, die sich nur wenige Zentimeter vor ihm abspielte. Sein grotesk uniformierter Gegner, Carlos, der Schakal, schlug immer wieder gegen die Stahlrohre des Tores, die dunklen Züge verzerrten sich haßerfüllt, seine Augen zwei Glaskugeln, die den Tod verschmähten, als er von ihnen Besitz ergriff.

Jason Borowskis kalte Augen erfaßte Zufriedenheit, sein Mund war gespannt, unbeweglich, das Gesicht eines Killers, ein Killer unter Killern, der gewonnen hatte. Für einen kurzen Moment jedoch zeigten sich die sanfteren Augen von David Webb, formte sich das Gesicht eines Mannes, dem die Last eines Lebens, das er verachtete, genommen worden war.

«Er ist tot, Archie«, bemerkte Benjamin an Jasons Seite.»Er kann nicht mehr zurückkommen.«

«Sie haben den Tunnel geflutet«, sagte Borowski nur.»Woher haben Sie gewußt, daß er es war?«

«Sie hatten keine Maschinenpistole, aber er. Offen gesagt, dachte ich, Krupkins Prophezeiung hätte sich bestätigt. Sie wären tot, und der Mann, der Sie getötet hätte, nähme den schnellsten Fluchtweg. Das war's, und die Uniform bestätigte es. Plötzlich ergab alles einen Sinn, auch das mit dem spanischen Lager.«

«Wie haben Sie die Menge verjagt?«

«Ich habe ihnen gesagt, da sind Boote, die sie über den Fluß bringen, etwa zwei Meilen von hier… Da wir gerade von Krupkin sprechen, ich muß Sie hier rausbringen. Jetzt. Kommen

Sie, der Hubschrauberlandeplatz ist eine halbe Meile entfernt. Wir nehmen den Jeep. Beeilen Sie sich, um Gottes willen!«

«Krupkins Anweisungen?«

«Keuchend vom Krankenhausbett, so wütend wie schockiert.«

«Was meinen Sie?«

«Okay, warum sollen Sie es nicht erfahren: Irgend jemand aus den feineren Kreisen, Krupkin weiß nicht, wer, hat den Befehl ausgegeben, daß Sie das Lager unter keinen Umständen verlassen dürfen. Ehrlich gesagt, war es undenkbar, daß das ganze gottverdammte Nowgorod in Flammen aufgehen würde, und das ist unser Schutz.«

«Unser?«

«Ich bin nicht Ihr Henker, irgend jemand anderes ist es. Der Befehl ist nie bei mir angekommen, und in diesem Chaos wird er es auch nicht.«

«Warten Sie einen Moment! Wohin bringt mich der Hubschrauber?«

«Drücken Sie sich selbst die Daumen und hoffen Sie, daß Krupkin und Ihr amerikanischer Freund wissen, was sie tun. Der Helikopter bringt Sie nach Jelsk, und von da kommen Sie mit einem Flugzeug über die polnische Grenze, wo ein undankbarer Satellit offenbar einen Horchposten der CIA erlaubt hat.«

«Dann bin ich aber immer noch im direkten Einflußbereich der Sowjetunion.«

«Es wurde angedeutet, daß Ihre Leute auf Sie vorbereitet sind. Viel Glück.«

«Ben«, sagte Jason und sah den jungen Mann an» Warum tun Sie das? Sie verweigern einen direkten Befehl…«

«Ich habe keinen Befehl bekommen!«ging der Russe dazwischen.»Und selbst wenn, bin ich kein gedankenloser Roboter. Sie hatten eine Abmachung, und Sie haben Ihren Teil erfüllt. Außerdem, wenn es für meine Mutter eine Chance gibt…«

«Es gibt mehr als nur eine Chance«, unterbrach ihn Borowski.

«Kommen Sie, gehen wir! Wir vergeuden Zeit. Jelsk ist für Sie nur der Anfang. Sie haben eine lange und gefährliche Reise vor sich, Archie.«

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